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Vom »Role Model« zum Auslaufmodell?

Kann die repräsentative Demokratie die Konfliktlinien in unserer Gesellschaft heute noch abbilden und einhegen?

Von Armin Nassehi

Überhaupt diese Frage! Muss man sie stellen? Ja, sie muss gestellt werden, und am Anfang lohnt sich vielleicht ein Blick von außen, gewissermaßen ein Umweg zur Erhöhung der Kenntlichkeit. Die Selbstkritik der repräsentativen Demokratie ist ohnehin etwas, das ihr eingeschrieben ist, denn in der Demokratie ereignen sich Herrschaft und Machtausübung, kollektiv bindende Entscheidung und ihre Durchsetzung nicht einfach – sie machen sich selbst zum Thema. Der Umweg soll ein (erwartbarer) historischer Umweg sein, aber auch ein (weniger erwartbarer) räumlicher – der erste führt nach Athen ins vierte vorchristliche Jahrhundert, der zweite nach China im 21. Jahrhundert und am Ende führt er nach Freiburg.

Athen: Teilung der Macht

Es hat fast etwas Rituelles, Erörterungen über die (westliche) Demokratie damit zu beginnen, diese sei gewissermaßen als Erbe dem abendländischen Denken und Tun tief eingeprägt. Dabei ist die Praxis der Athenischen Demokratie weit davon entfernt, der »repräsentativen Demokratie« zu entsprechen, wie wir sie hier befragen wollen. Dennoch gibt es eine Kontinuitätslinie von den athenischen Wurzeln der Demokratie hin zu unseren Tagen. Dabei geht es weniger um die Demokratie als ein Verfahren der Entscheidungsfindung und der Legitimation solcher Entscheidungen, sondern um die Herausbildung dessen, was bis heute »Politik« heißt. In den Worten des Historikers Paul Nolte heißt es über die Politik der Athener: »Politik war danach nicht mehr mit einem faktischen System von Herrschaft identisch; sie trat aus der Normalität, aus der scheinbaren Natürlichkeit der Lebensverhältnisse heraus und etablierte sich als eine eigene Sphäre, in der man sprechen, debattieren und entscheiden konnte.« 1

Es ist gewissermaßen der Einbau einer folgenreichen gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in den gesellschaftlichen Prozess. Gemeint war damit noch gar nicht eine Form von Staatlichkeit. Aber wenigstens erwuchs die Idee, dass die gute Ordnung nicht, wie noch von Platon präferiert, durch den gerechten und vernünftigen Staatsmann zu garantieren sei, sondern durch die Beteiligung der Bürger, die die Teilung der Macht und den Wechsel in der Verantwortung verlangt und nicht etwa nur unmittelbare Demokratie.

Für Aristoteles war die Demokratie, verstanden als die bloße Mehrheitsherrschaft, zwar in der Lage, die Mehrheit zufriedenzustellen, droht dann aber womöglich an Kompetenzfragen und leicht zu beeinflussenden Stimmungen des Wahlvolks zu scheitern. Das bloße Mehrheitsprinzip löst noch keine Probleme – und dieser Gedanke reicht tatsächlich von Aristoteles und dem griechischen Historiker Polybios, der die Ochlokratie, also die Herrschaft der Masse und des Pöbels anprangert, bis zu Alexis de Tocquevilles Kritik an der Tyrannei der Mehrheit. Aristoteles hat konsequenterweise die Lösung in der Politie gesehen, einer Mischform aus Demokratie im Sinne des bloßen Mehrheitswillens und der Oligarchie politischer Entscheidungsträger. Diese Mischform erlaubt es der Mehrheit, durch Wahl der Entscheidungsträger einerseits mitzuentscheiden, andererseits vom tagespolitischen Entscheidungsgeschäft ferngehalten zu werden.2

Die Legitimations- und Kompetenzbasis der repräsentativen Demokratie liegt darin, tatsächlich jenen Demos abzubilden, der zugleich herrschen und beherrscht werden soll.

Das Problematische an der Demokratie ist nach diesem Verständnis einerseits das Verhältnis von Legitimation zu Kompetenz, andererseits das Verhältnis der politischen Sphäre zu ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Das ist exakt die Frage der repräsentativen Demokratie, deren Legitimations- und Kompetenzbasis darin liegt, tatsächlich jenen Demos abzubilden, der zugleich herrschen und beherrscht werden soll. Dass dieses Verhältnis nicht unproblematisch ist, liegt an der gesellschaftlichen Funktion des Politischen, auf die zurückzukommen ist. Jedenfalls lässt sich die repräsentative Demokratie nicht mit dem bloßen Hinweis rechtfertigen, eine vollständige Demokratie müsse den Demos vollständig abbilden und repräsentieren. Denn offensichtlich fügt die Demokratie diesem Demos etwas hinzu, was er selbst nicht enthält. Und offensichtlich ist die politische Demokratie von etwas abhängig, das sie selbst nicht voraussetzen kann.

Peking: Im Zentrum die Gesamtheit, nicht der Einzelne

Die westliche sozialwissenschaftliche und philosophische Debatte über die Bedeutung der repräsentativen Demokratie ist zumeist eine sehr selbstbewusste Debatte. Niemals lässt sie Alternativen zur demokratischen Herrschaftsform auf theoretischer und normativer Augenhöhe zu, auch wenn die Geschichte der westlichen politischen Systeme ihre Selbstdementierung in faschistischen Systemen, im Nationalsozialismus von rechts sowie im Stalinismus und der kommunistischen Ideologie von links zur Genüge unter Beweis gestellt hat. Es ist womöglich dieser innere Konflikt des Westens, der den Blick nach außen erschwert; man erkennt im Spiegel undemokratischer und autokratischer Herrschaft mehr an Eigenem, als man es sich wünschen würde. Deshalb entlastete die eigene dunkle Geschichte womöglich davon, diese Herausforderungen wirklich ernst zu nehmen. Im Selbstbild scheint sich mit der westlichen repräsentativen Demokratie eine zumindest normativ alternativlose Form etabliert zu haben, von der abzuweichen allenfalls eine empirische Evidenz besitzt, aber sicher keine guten Gründe.

Freilich haben sich die Verhältnisse geändert. Alternativmodelle zur westlichen liberalen Demokratie lassen sich beim besten Willen nicht mehr bloß als fehlerhafte Alternativen abtun, die trotz geschichtsphilosophischer Zuversicht den entsprechenden Standard nur noch nicht erreicht hätten. Das fängt in der postkolonialen Kritik des westlichen Selbstbewusstseins an und führt über die Neubetrachtung der kanonischen Schriften des Westens bis zur feministischen Kritik und rassismuskritischen Zurückweisung des universalistischen Modells.

All diese Herausforderungen lassen sich noch in der Weise integrieren, dass etwa die Kritik an einer mangelnden Repräsentation von Frauen, People of Color oder diverser Minderheiten letztlich auf Erfüllung der liberalen und universalistischen Versprechen der Einbeziehung aller zielt. Solche Kritik ist im Wesentlichen Selbstkritik, sie wirft ihrem Gegenstand vor, seinen eigenen Standards nicht gerecht zu werden, und zehrt von dem, was sie kritisiert. Noch das identitätspolitische Pochen auf Anerkennung partikularer Ansprüche nährt sich am universalistischen Repräsentationsmodell, auch wenn es sich in unauflösbare Paradoxien verstrickt beim Versuch, den Universalismus mit partikularistischer Verve zu erreichen. Das galt rhetorisch sogar für die inzwischen kaum mehr relevante linke und realsozialistische Kritik der westlichen »kapitalistischen« Demokratie, die wenigstens semantisch zumeist den Terminus des Demokratischen in Anspruch nahm.

Inzwischen gibt es selbstbewusste politische Konzepte, die nicht bloß die eigene kulturelle Inkompatibilität mit dem individualistischen Westen ins Feld führen, sondern ebenso die Dysfunktionalität der westlichen Demokratie.

Aber inzwischen finden sich auch selbstbewusste, hochnormative politische Konzepte, die nicht defensiv bloß die kulturelle Inkompatibilität mit dem individualistischen Westen ins Feld führen, sondern ihrerseits die Dysfunktionalität der westlichen Demokratie zum Ausgangspunkt der eigenen Argumentation machen. Wer diese Form des Denkens verstehen will, sollte das kürzlich ins Deutsche übersetzte Buch des Philosophen Zhao Tingyang lesen, der an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und an der Universität Peking lehrt. Es ist die selbstbewusste Verteidigung einer Gesellschaftsordnung ohne Massendemokratie mit marktkritischen Elementen.

Zhaos Buch ist keineswegs eine defensive Rechtfertigung der chinesischen Autokratie gegen die normativen Ansprüche des Westens, sondern eine offensive Kritik an deren inneren Widersprüchen. Dieses Denken kommt einer naturrechtlichen Ordnungsvorstellung am nächsten – und wenn man das Buch mit seiner neokonfuzianischen Perspektive unvoreingenommen liest, fühlt man sich an die gegenrevolutionäre Attitüde eines Joseph de Maistre erinnert.3 Wie dieser spricht auch Zhao dem »Egoismus die Berechtigung« ab, die Welt selbst gestalten zu wollen, und zwar durch »Maximierung des eigenen Nutzens«. In ihr sieht er vor allem die »Unterwerfung der Natur unter grenzenlose Entwicklung« und also die »Zwangsläufigkeit allen Übels«.4

Man muss zugeben: Allzu fremd klingt das nicht. Für Zhao ist der Populismus, dessen Wortführer gerade mit demokratischen Mitteln ins Amt gewählt werden können und werden – die Beispiele liegen vor Augen –, ein Hinweis darauf, dass es die innere Verfasstheit der Demokratie selbst sei, die die Falschen ins Amt wähle und mit Macht ausstatte. Die Demokratie transformiere sich in eine »Publikratie« 5, weil Grundlage des Demokratiekonzepts nicht die Repräsentation des Ganzen, sondern die der unterschiedlichen Einzelinteressen sei. Zhao zeigt an Thomas Hobbes’ Konzept, dass dieses seinen Ausgangspunkt an der Differenz der Perspektiven nehme, zwischen denen letztlich (wenn auch nur potenzielle) staatliche Gewalt vermitteln müsse. Der Fehler liege schon im Ausgangspunkt des Denkens, nämlich mit der Existenz des Individuums zu beginnen, also mit dem Problem statt der Lösung.

»Die Koexistenz geht der Existenz voran, mit anderen Worten, die Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz.«

Zhao bezieht sich dabei auf den antiken konfuzianischen Philosophen Xunzi, ein Zeitgenosse von Aristoteles: »Anders als Hobbes sah Xunzi im Urzustand ein Gen der Kooperation, die Gruppe gehe dem Individuum vor.« 6 Daraus folgt ein »ontologisches Prinzip: Die Koexistenz geht der Existenz voran, mit anderen Worten, die Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz.« 7 Einer Demokratie bedarf es dann gar nicht, weil diese ja nicht das Gemeinsame verwalte, sondern gerade die Differenz unterschiedlicher Ansprüche, Interessen, Meinungen, Lebensformen und dergleichen anstachele. Die Demokratie befördert nach diesem Verständnis sogar das Trennende, weil sie gerade den Differenzen einen Wert gibt, nicht der Einheit und dem »Kriterium der vollständigen Einbeziehung«.8 Zhao meint also, die Demokratie versuche letztlich, ein Problem zu lösen, das sie selbst erst erzeugt, und macht das Christentum mit seiner Hervorhebung des Individuums als Ebenbild Gottes dafür verantwortlich, universelle und oberste Prinzipien einer monotheistischen Ordnungsvorstellung gegen alles andere, also das Partikularistische, durchzusetzen. Gegen Universalismus als Legitimation zur Einstufung des Anderen setzt Zhao »Kompatibilität«: »Die Politik muss dem Himmel entsprechen, nicht einem Gott.« 9

Man kann Zhao durchaus als einen staatsnahen Philosophen lesen, der die chinesische Autokratie rechtfertigt und dem Westen nicht nur vorhält, mit seinem demokratischen Verfahren keineswegs gegen Inkompetenz, politische Hasardeure und starke innergesellschaftliche Konflikte gefeit zu sein, sondern zudem die Gesellschaft nicht wirklich erreichen und mitnehmen zu können, man denke an seine mangelnde Krisenkompetenz bei Klimawandel oder Migrationsfragen.

Die Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. Sie ähnelt in ihrer meritokratischen Tendenz durchaus den Bedenken des Aristoteles, ob das Demokratieprinzip in der Lage sei, kompetente Akteure an die Macht zu bringen, die weder von ihren Partikularinteressen, noch von ihrem Unwissen korrumpiert werden. Das Problem der Demokratie, so Zhao, bestehe also in dem Zweifel, ob die richtigen Personen und die richtigen Konzepte zum Zuge kommen könnten. Dass das nicht immer der Fall ist, ist kaum zu bestreiten. Zugleich räumt Zhao aber ein, dass es in jeder komplexen, modernen Gesellschaft Zielkonflikte und widerstreitende Interessen gibt, die nur unter einer entscheidenden Voraussetzung versöhnt werden könnten: »Ein System ist dann und nur dann legitim, wenn es der Volksseele entspricht.« 10

Es ist hier nicht der Ort, darüber zu räsonieren, ob diese Argumentation an einer Petitio Principii laboriert, aber es gilt doch, auf eine empirische und eine normative Falle hinzuweisen, die dieses neokonfuzianische Konzept der »Tianxia« enthält. Die empirische Falle ist die Frage, ob und wie sich ein Zustand »vollständiger Einbeziehung« einstellen kann, die normative Falle besteht in der Frage, wer darüber entscheidet, was jener »Volksseele« entspricht und wie mit Abweichungen davon umzugehen ist. Die chinesische Praxis jedenfalls vermag beide Fragen nicht befriedigend zu beantworten. Denn auch sie steht vor der zu klärenden Herausforderung, wie viel gesellschaftliche Kohäsion vorausgesetzt werden kann und muss, damit Konflikte gelöst werden können. Oder anders formuliert: Wenn, wie für Zhao, die Demokratie als ein Verfahren zur Verarbeitung und zum Ausgleich unterschiedlicher Perspektiven und Interessen prinzipiell ausgeschlossen ist, bleibt es dann eher eine Frage der unmittelbaren Macht und des Ausschlusses von Differenzen und Kritik, ob man den »Himmel auf die Erde« holen kann.11 Die Demokratie beginnt eben nicht im Himmel, sondern auf der Erde – und muss ihre Probleme mit terrestrischen Mitteln lösen.

Freiburg: Böckenfördes Gesetz

Hat der bisherige Weg von Athen nach Peking geführt – und dabei durchaus in den Grundfragestellungen nach Athen zurück –, muss er nun in den Westen, genau genommen den Südwesten Deutschlands verlängert werden. Kaum eine staatswissenschaftliche Debatte kommt heute ohne Rekurs auf den berühmten Satz des Freiburger Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde aus: »So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften (in unserem Gemeinwesen) von neuem und in ihrem eigentlichen Kern: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« 12 Böckenförde beschreibt hier die Folge jenes Säkularisationsvorgangs, der nicht nur zu einer operativen und semantischen Trennung von Politik und Kirche/Religion geführt hat, sondern auch bewirkt, dass die zuvor religiös und konfessionell gestifteten gesellschaftlichen Bindungskräfte nun eben säkular, also irdisch gestiftet werden müssen. Es führe »kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören«.13

Schon diese einfache Formulierung macht den Unterschied deutlich. Nicht die All-Einheit einer Volksseele ist, anders als bei Zhao, hier Ausgangspunkt. Der bietet letztlich einen quasi-religiösen konfuzianischen Säkularismus an, der es dem Staat leicht macht, immer schon das Allgemeine zu repräsentieren; dem Volk werden innere Konflikte oder gar Widerspruch gar nicht zugemutet und dies dann als Legitimation für die autoritäre Herstellung von Einheit benutzt. Böckenförde dagegen rechnet mit Differenzen und Konflikten, er sieht auch den quasi-religiösen Charakter der »Nation«, der einst die inneren Widersprüche zu verdecken in der Lage war, aber nun, in säkularer Verfassung, das Unterschiedliche irgendwie zusammenbringen muss.14 Das Ambivalente am Konzept der Nation ist eben, dass diese neben einem ausschließenden auch ein emanzipatorisches Element in sich trägt, weil die Nation in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft Gleichheit und Gleichberechtigung versprechen kann. Gerade deshalb stellt sich die Frage, welche Voraussetzung die vorpolitischen, nichtpolitischen Sphären der Gesellschaft erfüllen müssen, damit der Staat politische Konflikte demokratisch austragen kann. Hier erst sind wir bei der Repräsentationsfrage angekommen.

Wen und was muss die Demokratie repräsentieren?

Die Frage nach der Relevanz der repräsentativen Demokratie würde unterschätzt, beschränkte man sie darauf, zu klären, ob parlamentarische Verfahren oder das Angebot an Parteien oder der gesetzliche Minderheitenschutz tatsächlich die gesamte Bevölkerung entsprechend abbilden könnten.15 Denn dies würde bedeuten, dass man die zu repräsentierende Gesellschaft gewissermaßen als gegeben hinnimmt, um sie dann politisch zu repräsentieren, als seien Interessen, Milieus und Gruppen schlicht vorpolitisch schon vorhanden. Das neokonfuzianische Modell kann so denken und dabei mit der Voraussetzung einer Volksseele jenen zu repräsentierenden Raum schon vordefinieren und quasi-religiös untermauern. Es würde, ganz anders als bei Böckenförde, in der Konsequenz die Voraussetzungen politisch garantieren, die in einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft zwar politisch miterzeugt, aber eben nicht staatlich garantiert oder gar kontrolliert werden können.

Politik kann nicht einfach Macht ausüben, sondern muss diese Macht in der Gesellschaft umsetzen, um von dort die Macht wieder zurückgespiegelt zu bekommen.

In der liberalen Demokratie stellt sich das Repräsentationsproblem erheblich komplexer dar. Das liegt vor allem daran, dass in der Demokratie Herrscher und Beherrschte in eins fallen. »Die Einheit des (politischen, A. N.) Systems kommt in der Paradoxie zum Ausdruck, dass das Volk zugleich Souverän und sein eigener Untertan ist.« 16 In der repräsentativen Demokratie wird diese Paradoxie dadurch abgemildert, dass Herrscher und Beherrschte trotz Identität differenziert werden und sich in dieser Oszillation von Identität und Differenz wechselseitig beobachten. Daraus entsteht ein Machtkreislauf, in dem die Macht sowohl von der Politik als auch vom Volk ausgeht. Politik kann nicht einfach Macht ausüben, sondern muss diese Macht in der Gesellschaft umsetzen, um von dort die Macht wieder zurückgespiegelt zu bekommen.

Diese systemtheoretische Denkungsart, die die Einheit des Politischen in dieser Wechselseitigkeit vorfindet, lässt sich bereits in Max Webers Herrschaftsbegriff wiederfinden. Anders als amorphe Macht, die sich gegen alle Widerstände durchsetzen kann, markiert Weber Herrschaft als die Chance, Gefolgschaft und Gehorsam zu finden, zugleich aber auch Zustimmung zur Legitimationsquelle der ausgeübten Herrschaft.

Von dieser Verbindung zehrt letztlich politische Herrschaft, die nicht einfach auf Machtausübung beruht, sondern jenen Machtkreislauf im Blick hat, der seine Durchsetzungsmöglichkeiten nicht beliebig, zur Not mit Gewalt und autoritärem Zwang, ausnutzt, sondern auf eine wenigstens prinzipielle Zustimmung der Machtausübung gründet. Das ist es, was Böckenförde stark machen will: nicht einfach Bindungskräfte einer Gesellschaft in einem vorausgesetzten Konsens bündeln, sondern jene Bindungskräfte in der Demokratie fördern, die es aushalten können, dass die Gesellschaft selbst nicht homogen, sondern heterogen ist.

Die repräsentative Demokratie setzt die Gesellschaft nicht als einen Raum konsentierter Zustimmung voraus, sondern als einen Raum zum Teil unüberwindlicher Konflikte, der erst die Bedingung der Freiheit ist.

Hier liegt die entscheidende Stärke der repräsentativen Demokratie. Sie setzt die Gesellschaft nicht als einen Raum konsentierter Zustimmung voraus, sondern als einen Raum zum Teil unüberwindlicher Konflikte, der erst die Bedingung jener Freiheit ist, die als Korrelat einer offenen Gesellschaft gelten kann. »Offenheit« ist dabei nicht nur als normatives Prinzip zu verstehen, sondern als empirische Bedingung für Koexistenz in einer komplexen Gesellschaft, die sich schon aus operativen Gründen nicht auf eine vorkonsentierte All-Einheit verlassen kann. Den »Himmel auf die Erde« zu holen, ist die Chiffre einer am Ende doch ängstlichen und deshalb notwendig autoritären Form, die die gesellschaftliche Dynamik als Bedrohung, nicht als Chance begreift.

Das repräsentative Element an der repräsentativen Demokratie hat zwei Funktionen: Zum einen entlastet es die Gesellschaft davon, kollektiv bindende Entscheidungen stets kollektiv und damit noch volatiler zu treffen als ohnehin schon. Zum anderen versorgt es das politische System mit ausreichend Komplexität, Variabilität, Diversität und Konfliktmöglichkeiten, um es mit jener Entscheidungsoffenheit auszustatten, die für eine komplexe Gesellschaft vonnöten ist.

Die chinesische Kritik an der (repräsentativen) Demokratie muss deshalb gar nicht am politischen System ansetzen, sondern an der Gesellschaft: Diese muss als vollständig integriert, als hierarchisch geordnet beschworen werden, um Konflikte nicht als Interessensgegensätze zu markieren.17 Der Umgang mit der Forderung nach Alternativen, mit Entscheidungsunsicherheit, mangelndem Wissen und Lösungskonzepten wird in das politische System selbst hineinverlagert. Das Äquivalent zum Prinzip der demokratischen Repräsentation wird auf eine meritokratische Ebene verschoben, die in der Lage sein soll, sachorientierte Lösungsansätze vollständig politisierbar und konsensfähig zu machen.

Dass auch daraus eine wenigstens wissenschaftlich-technisch und ökonomisch erfolgreiche Gesellschaft werden kann, lässt sich in China beobachten. Dass eine solche Gesellschaft keine Mangel-, sondern eine Konsumgesellschaft sein kann, ebenfalls. Aber ob tatsächlich jene Vielfalt (requisite variety) entstehen kann, die zur Anpassung an Veränderungen in komplexen Systemen nötig ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls ist der Grad an Autokratie und politischem Zwang ein direktes Korrelat der Unfähigkeit, mit Varianz und dem Denken in Alternativen umzugehen. Das ist es, was die repräsentative Demokratie ausmacht. Das Prinzip der Repräsentation reagiert auf die funktionale Notwendigkeit, die Konflikte innerhalb der Gesellschaft als deren innere Pluralität abzubilden, die ja eine Pluralität politischer Programme ist und nicht einfach klar definierter sozialer Gruppen.

Die Demokratie ist ein Legitimationsgenerator für politische Entscheidungen, zugleich aber auch ein Themengenerator für das politische System, in dem Entscheider und Beherrschte sich wechselseitig beobachten.

Ausgeübte Macht trifft auf ein Publikum, das seinerseits in einer Art Gegenbewegung den Mächtigen den Spiegel vorhält. In der repräsentativen Demokratie sind Herrscher und Beherrschte voneinander abhängig, weil Macht sich nur darin manifestieren kann, wenn die Beherrschten, die ja als Quelle der Macht fungieren, ihre Loyalitätsbereitschaft nicht verlieren. Deshalb spielt in der Demokratie die Opposition die logisch entscheidende Rolle. Ihre Integration in das politische System gewährt auch denen Loyalitätschancen, die nicht zu den Befürwortern bestimmter Entscheidungen gehören.18 Die Demokratie ist also ein Legitimationsgenerator für politische Entscheidungen, zugleich aber auch ein Themengenerator für das politische System, denn der doppelte Machtkreislauf lässt Entscheider und Beherrschte sich wechselseitig beobachten.

Diese idealtypische Beschreibung freilich unterschätzt, dass der doppelte Machtkreislauf und damit die politische Partizipation mit beeinflusst wird durch nicht politisch legitimierte Akteure (Experten, pressure groups, ökonomische Akteure etc.). Dieser keineswegs neue Sachverhalt, als »Postdemokratie« 19 diskutiert, setzt aber die Abhängigkeit demokratischer Entscheidungen von einer bestätigenden öffentlichen Kommunikation nicht außer Kraft.20 Letztlich lebt die repräsentative Demokratie nicht nur von der »Abbildung« der gesellschaftlichen/politischen Pluralität, sie erzeugt sie mit.

Parteien domestizieren den politischen Streit

Die Kontrahenten im politischen Prozess sind unterschiedliche Parteien – deshalb heißen Parteien auch Parteien. Eine der ironischsten Figuren der politischen Sprache ist der Begriff der Einheitspartei – ein logisches Oxymoron und ein politischer Offenbarungseid. Er ist ein logisches Oxymoron, weil Partei (lat. pars) nur eine Partei neben einer anderen sein kann. Wenn es nur eine Partei gibt, gibt es keine Parteien. Ein Offenbarungseid ist er, weil er den Mechanismus des Politischen außer Kraft setzt: nämlich nicht schlicht Macht zu exekutieren, sondern diese zum reflexiven Gegenstand ihrer selbst zu machen.

In den klassischen Parteienarrangements spiegelt sich eine Systematik gesellschaftlicher Ordnung wider, die Konflikte in die Form politischer Entscheidbarkeit bringt.

Parteien spielen dafür eine entscheidende Rolle, denn in den klassischen Parteienarrangements spiegeln sich nicht einfach Meinungen oder Weltbilder wider, sondern genau genommen eine Systematik gesellschaftlicher Ordnung, die Konflikte in die Form politischer Entscheidbarkeit bringt. Ihre Genese aus dem 19. Jahrhundert ist insbesondere an der sozialen Frage scharf gestellt.21 In einer groben Phänomenologie lässt sich die Systematik in etwa so darstellen:

Für Konservative ging es um die Rettung sogenannter gewachsener Lebensformen und die Verteidigung einer überkommenen Schichtung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Anerkennung der modernen Komplexität, die sie vor allem durch Rekurs auf die Idee der Nation als Einheit simulieren. Die semantische Übersteigerung der Nation kann jedoch nicht kompensieren, was der Konservatismus für die eigene Tradition hält. Deshalb ist der Konservatismus eine eminent moderne politische Form, weil er eine semantische Problemlösung für Modernisierungsfolgen anbietet. Die Staatsnähe des Konservatismus ist eine Nähe zum Staat als Garant einer gewachsenen Ordnung, wozu meistens auch die Wirtschaftsordnung gehört. Auch der politische Konservatismus ist an der Etablierung ordnungspolitischer Maßnahmen im Sinne sozialpolitischer Maßnahmen interessiert – deutlich zu sehen gerade in Deutschland an den unterschiedlichen Quellen in der katholischen und auch evangelischen Soziallehre einerseits, in der sozialistischen andererseits. Konservative Formen der Herstellung von Kontinuität sind Formen, die an Strukturen ansetzen, die in der Gesellschaft bereits als vorhanden gelten: regionale Traditionen, Konfessionen, Berufsstände und familiale Kontinuitäten.

Für die Sozialdemokratie oder für sozialistische politische Akteure ging es noch expliziter um die Herstellung von Kontinuität in einer diskontinuierlichen Wirtschaftswelt, nämlich trotz der Volatilität von Märkten eine Lebens- und Versorgungsperspektive für die arbeitenden Menschen zu ermöglichen. Es ging um die Erzeugung von Kontinuität, weswegen solche Parteien in der Vergangenheit tatsächlich mehr als nur politische Organisationen waren, sondern auch Bildungs- und Kulturorganisationen als Identitätsangebot für diejenigen, die von traditionellen Versorgungsstrukturen nicht erfasst wurden. Klassische sozialdemokratische Politik zeichnete sich durch eine größere Bereitschaft zur Umverteilung sowie zur Ermöglichung sozialen Aufstiegs aus.

Der politische Liberalismus schließlich stand einerseits für Abwehrrechte gegen einen autoritären Staat, andererseits für die Idee, der Volatilität und Eigendynamik der Gesellschaft und den ordnungsbildenden Kräften des Marktes zu vertrauen. Der Liberalismus war auf der einen Seite eine starke Freiheitsbewegung, die von der Kritik der Bevormundung durch den Staat, durch die Kirche, durch Traditionen und tradierte Lebensformen geprägt ist. Darin ist der klassische Liberalismus vor allem an den Bürgerrechten orientiert und strahlt in kulturlinke und linksliberale Denkungsarten aus. Andererseits neigt er bisweilen zu einer merkwürdigen Anfälligkeit für libertäre Ideologien bis in die Nähe zu rechten Denkungsarten, weil ein staatsferner Liberalismus in der Konsequenz dem Recht des Stärkeren und der Verdrängung des Schwachen nahesteht.

Diese idealtypische, also übersteigerte Phänomenologie soll zeigen, wie sich unterschiedliche politische Programme vor allem an der sozialen Frage beziehungsweise am Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und Volatilität definieren. Die Gegnerschaft dieser Parteien wird dadurch zusammengehalten, dass ihre repräsentative Funktion für das politische System nicht nur darin besteht, unterschiedliche Milieus und Gruppen beziehungsweise Interessen abzubilden, sondern vor allem den Grundkonflikt des politischen Raums. In den Grundstrukturen des klassischen modernen politischen und sozialen Konflikts geht es stets und in erster Linie um das Verhältnis von Volatilität und Stabilität, um die Frage von mehr oder weniger Regulierung des Ökonomischen durch den Staat, um Verteilungs- und Umverteilungsfragen und nicht zuletzt um die Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen der Gesellschaft in diesem Konfliktfeld.22 Solche Konflikte fallen nicht vom Himmel, um noch einmal die chinesische Metapher aufzunehmen, sie sind auch nicht einfach positiv in der Gesellschaft vorhanden, sondern werden durch die den Machtkreislauf des Politischen strukturierende Form entscheidbarer politischer Probleme erst in eine prozessierbare Gestalt gebracht.

Für die Bundesrepublik (auch für andere westeuropäische Länder) war die Existenz von zwei komplementären Volksparteien ein Stabilitätsfaktor. Union und SPD erreichten lange Zeit etwa 90 Prozent der Wählerschaft (wie übrigens parallel dazu etwa dieselbe Rate Mitglied einer der beiden großen Kirchen in Deutschland war). Heute bilden die einstigen großen Volksparteien weit weniger als die Hälfte der Wähler ab. Das muss kein grundlegendes Problem sein, aber es ist ein Hinweis darauf, was das für die repräsentative Demokratie bedeutet: An der Veränderung der Parteiensystematik lässt sich deutlich sehen, welche Funktion das repräsentative Element der Demokratie hat.

Es geht nicht einfach darum, die Sozialstruktur des Wahlvolks proportional im Parlament abzubilden, sondern einen stabilen Rahmen für die Austragung politischer Konflikte zu schaffen. Stabil verliefen politische Konflikte immer dann, wenn im Parlament die entscheidenden Konfliktlinien abgebildet werden konnten. Gewiss haben dabei das Wahlrecht und das Wahlsystem in unterschiedlichen Ländern direkte Auswirkungen darauf, wie sich vor allem kleinere Parteien etablieren können.23 Aber an der grundlegenden Systematik hat das für die Form der westlichen Demokratie wenig geändert.

Es sollte deutlich geworden sein, dass die repräsentative Demokratie nicht einen repräsentativen Konsens im Parlament abbildet, sondern den Dissens dadurch etabliert, dass die widerstreitenden Parteien (im engeren und im weiteren Sinne) eine Form dafür finden, ihren Streit zivilisiert zu inszenieren. Diese Inszenierung ermöglicht es erst, der Entscheidungsfindung eine rationale und stete Gestalt zu geben. Die repräsentative Demokratie muss in diesem Sinne keine homogene Gesellschaft voraussetzen, also keine vorpolitischen Bindungskräfte an bestimmte Entscheidungen, wohl aber eine Bindungskraft an die Legitimität und Legitimation der Form und der Verfahren der demokratischen Prozeduren.

Legitimation durch Verfahren

Die repräsentative Demokratie muss notwendigerweise ein Rechtsstaat sein. Ein Rechtsstaat bindet alle an das Recht: die Herrschenden ebenso wie die Beherrschten, die in der Demokratie paradoxerweise auch noch in eins fallen. Verfahren sind die entscheidende Legitimationsquelle des Politischen. Die sprichwörtliche »Legitimation durch Verfahren« 24 reagiert darauf, dass man etwa in Gesetzgebungs- oder Gerichtsentscheidungen nicht einfach auf die Rationalität der beteiligten Akteure zurückgreifen kann. Das wäre eine zu riskante Strategie, die sich auf Voraussetzungen verlassen müsste, die schwer zu kontrollieren und schwer zu verstetigen sind. An die Stelle dieses kontrafaktischen Vertrauens auf die Vernunft der Menschen lenken Verfahren die Geltungsfrage von der alleinigen Vernunft des Urteilens auf die Geltung der Verfahren selbst. Die Legitimität der Macht stützt sich dann nicht mehr auf die vermeintliche Rationalität eines Entscheiders, sondern auf ein rationales Verfahren. Auf der Suche nach der Vernunft, die der Demokratie zugrunde liegen soll, stößt man auf die in den Verfahren aufbewahrte Form einer Vernunft, deren Geltung der Geltung der in den Verfahren verhandelten Argumente und Inhalte noch vorgeordnet ist. Vernünftige Verfahren sollen vernünftige Entscheidungen generieren, die mit den Verfahren selbst Einzug in die eigenen Begründungen finden. Verfahren haben in diesem Sinne eine zivilisierende Funktion.

Die rechtsstaatliche Form der Entscheidungsfindung erzwingt eine Langsamkeit, die der schnellen Willkür entgegensteht, zugleich dem Kompromiss Geltung verschafft, weil sich die meisten Verfahren ohne solche Kompromisse gar nicht durchhalten lassen. Verfahren disziplinieren. Sie regeln durch Reduzierung von Komplexität das Handeln der Beteiligten, sie zivilisieren und zwingen sie dazu, auch der Gegenseite Gehör zu schenken. Zugleich erhöhen sie die Kreativität, weil durch die Komplexitätsreduktion der Prozeduren eine höhere Komplexität in den Entscheidungen möglich wird. Die Vernunft der Demokratie in ihren legislativen, judikativen und exekutiven Funktionen gründet auf den Verfahren selbst.25

Verfahren können missbraucht werden – aber sie haben am Ende eine Widerständigkeit, die womöglich stärker ist als die mentale und kognitive Widerständigkeit beteiligter Akteure, die durch die Verfahren selbst in ihren angemessenen Motiven unterstützt werden können. Die Stärke der repräsentativen Demokratie besteht darin, dass sie tatsächlich in der Lage sein kann, über Verfahren die widerstreitenden Teile der politischen Auseinandersetzung zusammenzuhalten und damit auch der unterlegenen Seite des politischen Streits die Möglichkeit zu geben, einer Entscheidung, die sie anders gefällt hätte, dennoch Loyalität zu erweisen.

Exakt deshalb ist die Opposition in der repräsentativen Demokratie womöglich der wichtigere Teil des repräsentativen Demokratiemodells, weil die verfassungsmäßige und auch operative Integration der Opposition in die Routinen des politischen Systems politische Gegnerschaft innerhalb des Systems und nicht gegen das System ermöglicht. Wo man in der illiberalen Demokratie, die den Himmel auf die Erde holt, Opposition nur gegen das politische System ermöglichen kann, ist Opposition in der repräsentativen Demokratie der Garant dafür, dass diejenigen, die qua Mehrheit die Macht haben, mindestens öffentlich gute Gründe für ihr Tun nennen müssen. Der gesellschaftliche Machtkreislauf zwischen Staat/Politik und Gesellschaft/Volk wird innerhalb des politischen Systems als ein Kreislauf zwischen Regierung und Opposition noch einmal abgebildet – repräsentiert, wenn man so will. Deshalb ist es nur in dieser Art der Demokratie möglich, dass eine amtierende Regierung stets von einer wenigstens potenziellen Regierung vor sich hergetrieben wird.

Die Krise der Repräsentation

Die bisherige Argumentation sollte deutlich gemacht haben, dass die repräsentative Demokratie aus systematischen Gründen keineswegs ein Auslaufmodell ist. Denn anders als das neokonfuzianische Modell mit seinem Vorrang der Koexistenz vor der Existenz wird hier Koexistenz nicht einfach vorausgesetzt. Die Funktion von Politik besteht vielmehr gerade darin, Existenz in Koexistenz zu verwandeln, also »kollektiv bindende Entscheidungen« zu ermöglichen und dafür Formen und Verfahren zu finden und bereitzustellen.26 Dass diese Formen und Verfahren, vor allem aber auch die Aspekte von Steuerungskompetenz und Entscheidungskriterien als politischer Konflikt und politische Entscheidungsfindung inszeniert werden, wird gerade durch die Repräsentation nicht nur von Gruppen, sondern von Perspektiven auf die gesellschaftlichen Grundkonflikte ermöglicht.

Ein meritokratisches und autokratisches Modell muss dies immer schon als lösbar beziehungsweise gelöst voraussetzen. Das neokonfuzianische Modell setzt ausschließlich auf Harmonie im Sinne der Unterwerfung unter ein Allgemeines, bleibt aber im Hinblick auf die Qualität der Entscheidung stumm – das Problem wird durch Rekurs auf die Meritokratie gewissermaßen unsichtbar gemacht. Wo der neokonfuzianische Philosoph eher schweigt, wird freilich die technokratische Agenda in Staaten wie etwa Singapur lautstark als Vorbild und als durchaus erfolgreiches Alternativmodell diskutiert, zum Beispiel von dem indisch-amerikanischen Politologen Parag Khanna.27 Es ist aber ein Modell, bei dem der Staat letztlich schon weiß, was das Richtige ist, und dafür dann entsprechend qualifizierte Funktionäre einsetzt.

Dennoch kann man schwer daran vorbeisehen, dass sich mit den gesellschaftlichen Komplexitätssteigerungen die Qualität von kollektiv bindenden Entscheidungen und auch ihre Legitimität in den westlichen Demokratien nicht gerade erhöht hat. Es ist im Gegenteil ein Trend zur Elitenskepsis, zur politischen Radikalisierung von rechts und von links, zum Populismus und zur radikalen Vereinfachung von Problemlagen zu beobachten, von dem man tatsächlich nicht behaupten kann, dass er die Problemlösungskompetenzen signifikant verbessert. Selbst wenn man die systematischen Schwächen und Kurzschlüsse, IIliberalitäten und den versteckten Autoritarismus in Zhaos neokonfuzianischem Modell aus der Gleichung herausrechnet, bleibt der Vorwurf einer »Publikratie« gegen das westliche Modell bestehen. Wie ist damit umzugehen?

Wenn es stimmt, dass die Stärke der repräsentativen Demokratie darin besteht, nicht nur Interessengruppen, sondern auch und vor allem gesellschaftliche Grundkonflikte abzubilden, dann kann man durchaus eine Krise der Repräsentation diagnostizieren. Womöglich passen die klassischen Parteiengestalten nicht mehr, um den gesellschaftlichen Konflikten eine entscheidbare Form zu geben. Es dürfte heute schwerfallen, konservative Bezugsprobleme noch nach dem Bilde zu formen, wie es seit dem 19. Jahrhundert aus den religiösen Soziallehren und aus der Betonung regionaler Traditionen hergeleitet wurde. Das, was man ein sozialdemokratisches Bezugsproblem nennen kann – einst stark orientiert an Berufsgruppenidentitäten, an der Anerkennung eher kleinbürgerlicher Schichten und am sozialen Aufstieg – wird heute von fast allen politischen Lagern als Ziel geteilt. Auch der Liberalismus schließlich kann sich heute weniger als Pluralismusanwalt aufstellen und nicht als Sachwalter von Abwehrrechten gegen den Staat, weil dies fast Gemeingut ist. Vielleicht ist die Krise des Liberalen vor allem darin zu sehen, dass es fast nur noch für ökonomischen Liberalismus steht.

Dass zum Teil neue politische Spieler entstehen, ist kein Zufall. Das Aufkommen ökologischer Parteien verweist darauf, dass mit dem Umweltschutz und dem Klimawandel ein epochales Problem entstanden ist, das quer zu den klassischen politischen Konfliktlinien liegt. Rechte Parteien hat es immer gegeben, aber ihr derzeitiger Erfolg verweist darauf, dass sich Fragen der Zugehörigkeit und auch der Sachkompetenz für komplexe Entscheidungslagen völlig neu stellen. Und alle mit Migration, ethnischem Pluralismus und der Emanzipation sexueller Orientierungen verbundenen politischen Konflikte verweisen einerseits auf eine liberale Pluralisierung, andererseits auch auf ein verunsicherndes Konfliktpotenzial.

Die Krise der repräsentativen Demokratie ist also eher eine Krise der Repräsentation. Die Preisfrage lautet: Wie lassen sich die neuen Konfliktlinien in eine Form bringen, die den politischen Konflikt so zivilisiert, dass daraus entscheidbare Dichotomien werden? Ich wiederhole: Politische Probleme und Konflikte liegen nicht einfach vor, sie müssen politisch erzeugt und ermöglicht werden, und dafür bedarf es komplementärer politischer Spieler, die einen zivilisierten politischen Konflikt dazu ermöglichen. Die Komplexitätssteigerungen der Gesellschaft haben die Anforderungen verändert.

Man kann das an merkwürdigen Anomalien beobachten. In Deutschland etwa, wo in einigen Bundesländern der Konflikt zwischen den Parteien gewissermaßen suspendiert werden muss, um offenkundigen Feinden der demokratischen Verfahren und einer liberalen Gesellschaft in Gestalt der AfD entgegenzutreten. Diese Situation erzwingt Harmonie dort, wo sie schädlich ist, nämlich zwischen unterschiedlichen politischen Spielern, und erzeugt Konflikt dort, wo er nicht weiterführt, weil die rechtsradikale Politikform keinen sachlichen Beitrag zur Problemlösung leisten kann.

Eine ähnliche Anomalie lässt sich in osteuropäischen Ländern beobachten. Wie Stephen Holmes und Ivan Krastev auf beeindruckende Weise gezeigt haben, ist nach einer liberalen Euphorie in osteuropäischen Ländern eine tiefe Enttäuschung eingetreten, die viel damit zu tun hat, dass der »Nachahmungsdruck« 28, unter dem viele dieser Länder sich mit Blick auf ihre neuen westeuropäischen Partner sahen, ebenfalls eine Repräsentationslücke hervorgebracht hat. Die illiberalen und offenkundig mit demokratischen Verfahren inkompatiblen Reaktionen sind die Folge.

Solange politische Akteure sich nicht auf die Komplexität kommender Herausforderungen einstellen, werden technokratische oder meritokratische Modelle für sich reklamieren, höhere Kompetenzen mobilisieren zu können als die repräsentative Demokratie.

Diese wenigen Hinweise sollen genügen, um zu zeigen, dass die Zukunft der repräsentativen Demokratie sich nicht im Hinblick auf Verfahren oder auf die staatsrechtliche Verfassung entscheidet, sondern explizit politisch. Solange es politischen Akteuren nicht gelingt, sich inhaltlich auf neue Konfliktlinien und auf die Komplexität der kommenden Herausforderungen einzustellen, werden technokratische oder meritokratische Modelle wenigstens den Vorteil für sich reklamieren können, auf der Sachebene höhere Kompetenzen mobilisieren zu können. Ob das freilich wirklich gelingen kann, ist zu bezweifeln. Denn es würde fast notwendigerweise bedeuten, dass politische Herrschaft autoritärer werden muss und Politik sich stärker auf die Exekutive konzentrieren wird. Es ist ein Traum, der auch in unseren Breiten gerade im Nachgang zur Pandemie von manchen geträumt wird,die meinen, man könne etwa den Klimawandel eher mit exekutiven Ausnahmerechten als mit demokratischer Debatte und Abstimmung bekämpfen.

Für ein flankierendes »Parlament der Funktionen«

Deshalb sei zum Schluss dieser Überlegungen darauf hingewiesen, dass sich Expertise und die Form der Sachebene verändern müssen. Die parlamentarische repräsentative Demokratie war erfolgreich, solange es gelang, die Repräsentation unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft mit der Repräsentation unterschiedlicher programmatischer Lösungskonzepte in Einklang zu bringen. Vielleicht war deshalb die Orientierung von Politik und politischen Konfliktlinien an der »sozialen Frage« so integrierend. Nun soll hier nicht argumentiert werden, die soziale Frage stelle sich nicht mehr. Sie wird im Gegenteil sowohl im Hinblick auf die Digitalisierung der Ökonomie als auch auf den Umbau hin zu einer ökologischen Wirtschaft eine besondere Rolle spielen, auch was migrationspolitische Fragen angeht.29 Aber die Konflikt- und Programmlinien liegen heute quer dazu und können deshalb nicht mehr so geschmeidig repräsentiert werden wie in der klassischen Phase der westlichen Demokratien im »Goldenen Zeitalter« (Eric Hobsbawm) des Westens.

Vielleicht müssen aus der technokratischen und meritokratischen Herausforderung Schlüsse gezogen werden. Vielleicht muss die Logik der Repräsentation sich ändern – oder besser: erweitert werden. Es ist sicher kein Zufall, dass sich etwa in interdisziplinären Beratungsgremien oder in Ethikräten Formen etabliert haben, die in der Lage sind, Expertise aus unterschiedlichen Funktionssystemen beziehungsweise ihrer wissenschaftlichen Repräsentation zusammenzubringen und für entscheidbare Lösungen zu suchen.30 Ich habe an anderer Stelle einmal ein »Parlament der Funktionen« 31 vorgeschlagen, in dem sich Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Verwaltung, Religion etc. zusammenfinden, um Szenarien für Lösungskonzepte zu entwickeln, deren Aufgabe es ist, das Arrangement der Funktionen und unterschiedlicher Zielkonflikte durchzuspielen, etwa bei der Kombination ökologischer und ökonomischer Logiken, beim Transfer von Wissen(schaft) in politische und ökonomische Entscheidungen oder bei der Darstellbarkeit von Wertschöpfung und Technologien etc. Man denke an eine zweite Kammer, die die erste mit Wissen versorgt – keine Meritokratie, sondern eine Flankierung des parlamentarischen Prozesses durch Repräsentation von Funktionen.

Das wird kaum praktikabel sein. Aber diese Erwägungen verweisen darauf, dass die erhebliche Komplexitätssteigerung der Gesellschaft und die Querlage von Herausforderungen zu den klassischen politischen Programmen Strategien erfordern, die Funktionen der Gesellschaft, ihre Expertise und ihre jeweiligen Logiken wieder repräsentationsfähig zu machen. Wenn das gelingt, ist die repräsentative Demokratie keineswegs ein Auslauf- sondern ein Zukunftsmodell. Denn das Neue kann nur dort gelingen, wo es gerade keine politischen und ideologischen Einschränkungen für denkbare Szenarien gibt. Wo anders als in liberalen Politikmodellen wird das Neue prinzipiell prämiiert und nicht nur dann, wenn es einer allgemeinen Harmonie der Beherrschten mit den Herrschenden dient, was am Ende nur autoritär gesichert werden kann.

Anmerkungen

1 Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München 2012, S. 32.

2 Vgl. dazu grundlegend und einführend Reinhold Zippelius: Geschichte der Staatsideen. 9. Aufl., München 1994, S. 28 ff.

3 Vgl. Joseph de Maistre: Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag. Berlin 2016; Beatrice Bondy: Die reaktionäre Utopie. Das politische Denken von Joseph de Maistre. Köln 1982.

4 Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin 2020, S. 214.

5 Ebd., S. 221.

6 Ebd., S. 18.

7 Ebd.

8 Ebd., S. 48.

9 Ebd., S. 202.

10 Ebd., S. 44.

11 Ausführlich zu Zhao Tingyang vgl. Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. München 2021 (i. E.).

12 Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«. In: Ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976, S. 42–64, hier S. 60.

13 Ebd.

14 Vgl. ebd., S. 59.

15 Grundlegend dazu vgl. Dolf Sternberger: Ursprung der repräsentativen Demokratie. Zürich 1970.

16 Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000, S. 256 f.

17 So programmatisch nachzulesen bei Daniel A. Bell, Wang Pei: Just Hierarchy. Why Social Hierarchies Matter in China and the Rest of the World. Princeton 2020.

18 Vgl. dazu Armin Nassehi: »Abwählen! Warum in Demokratien die Opposition regiert, es aber in Europa nicht gelingt«. In: Kursbuch 174: Richtig wählen. Hamburg 2013, S. 25–36.

19 Vgl. Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008; Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox. Wien 2008; Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2018.

20 Paul Nolte: »Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 1–2, 2011, S. 5–12.

21 Vgl. dazu Klaus von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien. München 1982; Oskar Niedermayer, Richard Stöss, Melanie Haas (Hg.): Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden 2006; Jasmin Siri: Parteien. Zur Soziologie einer politischen Form. Wiesbaden 2012.

22 Vgl. klassisch dazu Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit. München 1994.

23 Vgl. dazu Henner Jörg Boehl: »Wahlrecht und Volksparteien«. In: Die Politische Meinung, Nr. 506/507, 2012, S. 85–89.

24 Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. 11. Aufl., Frankfurt am Main 1983.

25 Vgl. dazu Birte Förster, Armin Nassehi: »Die wohlkalkulierte Strategie der ›Querdenker‹«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.09.2020.

26 Vgl. Armin Nassehi: »Soziologie des Politischen«. In: Martin Endreß, Benjamin Rampp (Hg.): Handbuch politische Soziologie. Baden-Baden 2021 (i. E.).

27 Vgl. Parag Khanna: Unsere asiatische Zukunft. 3. Aufl., Berlin 2020, S. 353 ff.

28 Vgl. Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Berlin 2019, S. 17 ff.

29 Dazu sehr instruktiv das Sonderheft Sozialstaat 4.0 – Digitale Ökonomie und Sozialpolitik, hg. von Sebastian Haunss und Frank Nullmeier der Zeitschrift für Sozialreform 4, 62, 2016.

30 Vgl. dazu Armin Nassehi, Irmhild Saake, Matthias Tann: »Anerkennung und Eigensinn. Übersetzungskonflikte am Beispiel der Ethikratsdebatte zu Intersexualität«. In: Soziale Welt 3/4 70 (2019), S. 233–267; Armin Nassehi, Irmhild Saake, Niklas Barth: »Die Stärke schwacher Verfahren. Zur verfahrensförmigen Entdramatisierung von Perspektivendifferenzen im Kontext der Organspende«. In: Zeitschrift für Soziologie 48 (2019), S. 190–208.

31 Vgl. Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg 2015, S. 289.

Demokratie in Bedrängnis: Warum wir jetzt gefragt sind

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