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Internationale Gerechtigkeit

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Philosophische und theologische Perspektiven

GERALD HARTUNG UND STEPHAN SCHAEDE

Inhalt

1 Die Herausforderung Internationaler Gerechtigkeit

2 Eine Skizze theologischer Gerechtigkeitsperspektiven

3 Die philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit

4 Die Aufgabe einer Bestimmung Internationaler Gerechtigkeit im Übergang zu den Praxisfeldern

In philosophischer und theologischer Perspektive die Frage nach der Internationalen Gerechtigkeit anzupacken und im unübersichtlichen Gewölbe der Bibliotheken zum Thema ein weiteres Licht zu entfachen, ist ohne Zweifel abenteuerlich. Gleichwohl liegt ein großer Reiz in der Herausforderung, in ein aktuelles Gespräch über Internationale Gerechtigkeit Resultate eines philosophisch und theologisch geleiteten Nachdenkens über Gerechtigkeit behutsam, aber mit Nachdruck einzubringen. Die Auseinandersetzung mit der Tradition und ihren überlieferten Argumentationsmustern zum Thema Gerechtigkeit erfüllt einen vielfältigen Zweck, Anregung zum Nachdenken, Abstand vom alltäglichen „Geschwätz“ (Kierkegaard) und Herausforderung zu einer komprimierten Darstellung sein.

I. Die Herausforderung Internationaler Gerechtigkeit

Gerechtigkeit gehört zu den ältesten Rätselfragen der Menschheitsgeschichte. Schon Aristoteles urteilte über die Gerechtigkeit „nicht Abendsonne noch Frührot [sei] so staunenswürdig wie sie“1 . Bei Platon war sie die Sonne am Ideenhimmel. Mit gleichem Bild bezeichnet ein evangelisches Kirchenlied Jesus Christus als „Sonne der Gerechtigkeit“2 . Gerechtigkeit, das ist, über die Jahrhunderte hinweg, jenseits aller säkularen und religiösen Schwärmerei „die zentrale Leitidee der politischen Philosophie“.3 Darüber hinaus ist sie in vielen Kulturen höchstes ethisches Prinzip für gesellschaftliches und religiöses Verhalten. Weltreligionen und klassische Philosophien führen sie als zentrales Konzept: Maat in Ägypten4 , Zedakah im Alten Israel5 , Gottes versöhnende Gerechtigkeit bei Paulus6 , Dharma im Hinduismus7 . Gerecht soll das Leben sein und einem jeden sein Lebensmaß gönnen. Gerecht solle sich Zusammenleben gestalten, so lautet eine Forderung, die in vergleichender religionsgeschichtlicher Perspektive standhält.

Was muss also in diesem ausgreifenden kulturgeschichtlichen Kontext angesichts der aktuellen sich globalisierenden Welt- und Lebensverhältnisse gesagt werden? Eine Antwort wird nicht nur von der Theologie oder Philosophie gefordert. Erweisen muss sie sich auch in der Perspektive wechselseitig aufklärender Arbeit von Ökonomie, Recht, Politikwissenschaft, Theologie und Philosophie. Die Kooperation dieser Disziplinen im Blick auf das Gerechtigkeitskonzept scheint angesichts der Komplexität menschlicher Lebensverhältnisse zu einer interdisziplinären Verpflichtung zu werden. Denn jede Generation ist neu aufgefordert, sich angesichts ständig verändernder kultureller und natürlicher Bedingungen auf die Suche zu begeben, wie für gerechtere Lebensverhältnisse gesorgt werden kann. Jede der genannten Disziplin wäre dabei, wie sollte es angesichts der Komplexität ihres Gegenstandes auch anders sein, auf sich gestellt hoffnungslos überfordert.

Es ist deshalb eine der großen konzeptionellen Herausforderungen an Institutionen und wissenschaftliche Disziplinen, die praktische Bedeutung und Durchsetzbarkeit von Gerechtigkeit angesichts der Entgrenzung sozialer Ungleichheit im globalen Horizont überzeugend zu beschreiben. Diese Herausforderung steigert sich folgerichtig im Blick auf das Konzept Internationaler Gerechtigkeit. Soll es nämlich gerechte Lebensverhältnisse geben, dann müssen sie mit guten Gründen und mit Macht8 durchgesetzt werden können. Welche Gründe aber kann es geben und welche Macht will und wird Gerechtigkeit durchsetzen – gar international? Die Globalisierung vollzieht sich ja ohne ein, eindeutig dafür zur Verantwortung zu ziehendes, spezifisches Subjekt.9 Die Verantwortung diversifiziert sich in eine schwer zu durchschauende und zu übersehende Vielzahl höchst unterschiedlicher Institutionen. Hier muss durch anspruchsvolle ökonomische, politische und juristische Analysen Klarheit gewonnen werden.

Noch bevor überhaupt diese Arbeit aufgenommen wird, könnte eine, die Tatsachen analysierende, ökonomische, rechtliche und philosophische Diagnose, die beansprucht, nüchtern und emotionslos zu sein, zu folgendem defätistischen Urteil kommen: Wir leben in einer Welt, in der es ungerecht zugeht. Politische und soziale Menschenrechte werden zwar manchenorts realisiert, gerechte Lebensverhältnisse sind jedoch im weltweiten Vergleich eher die Ausnahme von einer Regel und bestehen lokal begrenzt. Es ist also völlig ausreichend, die menschliche Lebenswirklichkeit zu begreifen und von allem Wünschenswerten und Illusionärem abzusehen.10 Für diesen nüchternen Befund gibt es eine Fülle von Hinweisen, von denen hier nur einige zu erwähnen sind. Zweifelsohne leben sehr viel mehr Menschen in Armut11 als unter prosperierenden Verhältnissen, sie kennen physisches Wohlergehen kaum, psychisches ebenso wenig. Bildungsressourcen fehlen ihnen, informiert werden sie gar nicht, schlecht oder irreführend. Die Situation einer eskalierenden Ressourcen- und Nahrungsmittelknappheit wird durch viele Studien vor Augen geführt. Im Blick auf Klimaveränderungen wird deutlich, dass die soziale Ungleichheit noch verschärft wird durch eine Entkoppelung von Risikoerzeugung und Risikobetroffenheit.12 Dieses Faktum wird auch zu einem Problem der Generationengerechtigkeit.13 Höchst ungleiche Rechts- und Strafordnungen bestimmen das Leben innerhalb staatlicher Ordnungen. In jeder Hinsicht wird im nationalen und internationalen Bereich – und das hängt nicht nur, aber auch im religiöser Motivation zusammen – mit unterschiedlichem Maß gemessen. Das hat – zumindest aus kulturellen und kulturgeschichtlich aufklärbaren Gründen, weshalb eine Zentralperspektive auf Rechts- und Staatsordnungen weltweit unangemessen erscheint. Deshalb wird ein „Rechtskonzept für mehr internationale Gerechtigkeit … polyzentrisch und diskursiv angelegt sein müssen“14 .

Da scheint das Unterfangen, in internationaler Perspektive von Fortschritt und sich entwickelnder Gerechtigkeit zu sprechen, ein Wagnis zu sein. Welche verlässlichen Daten können dieses Wagnis absichern? Wo verlässliche Daten zur Verteilung von Armut und Wohlstand, von Bildungschancen und materiellen Ressourcen vorliegen, ist nur ein verhaltener Optimismus gerechtfertigt. Die Finanzkrise des Herbstes 2008 scheint jedoch diese keimende Hoffnung sogleich zu ersticken. Lässt sich überhaupt noch von einem allgemeinen Trend zu einem Mehr an Wohlstand weltweit sprechen? Die Daten stimmen skeptisch, wenn nicht gar pessimistisch. Daher kann eine Philosophie des skeptischen Minimalismus im Blick auf gerechte Verhältnisse mit einiger Plausibilität behaupten: Die Welt wird immer nur anders, nicht besser.15

Solch einem skeptischen Minimalismus kann eine an der Rechtfertigungslehre orientierte evangelische Beschreibung des christlichen Glaubens nicht beipflichten. Die Welt wird zwar nicht schon durch ein Minimum an gutem Willen und aufrechter Gesinnung gleich besser. Vielmehr sind Individuen und gesellschaftliche Institutionen nach christlicher Auffassung dazu verpflichtet, für das Beste, für das sie sorgen können, auch wirklich Sorge zu tragen. Das jedoch wäre mit einem universalisierten „pecca fortiter“16 nicht vereinbar, denn die Rechtfertigungslehre beschreibt kein religiöses Privatissimum. Christlicher Glaube staunt über Gerechtigkeit nicht weniger als Aristoteles und er hat dafür ganz andere Gründe als die Philosophie. Er setzt auf Gottes Gerechtigkeit. In seiner Schöpfung sollte es entsprechend gerecht zugehen und zwar nicht nur im Ausnahmefall. Gerechte Ordnungen, gerechte Ideen, gerechtes Verhalten sollten durchgängig die Schöpfung bestimmen. Gottes Gerechtigkeit ist keine Richtertugend wie auch menschliche Gerechtigkeit ebenso wenig als eine bloß wünschenswerte Zukunftsperspektive und Utopie im schlechten Sinne, d. h. eine niemals zu erreichende, an der Eigenart der Schöpfung vorbei gedachte Vorstellung Sinn haben würde. Sie ist eine reale lebensgestaltende Kraft, mit der Menschen immer wieder rechnen können und unter den Endlichkeitsbedingungen dieser Welt auch rechnen müssen. Sie ist ein Phänomen essentieller Macht wie umgekehrt Ungerechtigkeit ein Phänomen instrumentalisierten Machtmissbrauchs ist.17

Diese Welt ist im Horizont des christlichen Glaubens eine Welt in der Wende, weder eine völlig korrupte, noch eine bereits erlöste Welt. Wie ist das im Horizont einer verantwortlich interpretierten, theologischen Rechtfertigungskonzeption zu verstehen? Und was bedeutet das aktuell für menschliches Tun und Lassen? Das ist im ersten Teil dieser Studie im Umriss zu skizzieren. Um kompakt zu bleiben und evangelischer Überzeugung zu folgen, geschieht dies in einer Konzentration auf biblische Texte, deren Relevanz für aktuelle Probleme immer zugleich pointiert herausgestellt wird. Dieser Skizze folgt dann eine Analyse aktueller philosophischer Gerechtigkeitskonzepte, mit denen theologisch ins Gespräch zu kommen ist. Denn es lassen sich bemerkenswerte Strukturanalogien zwischen einer philosophischen, nicht schon gleich christlich ambitionierten, Beschreibung der Herausforderungen Internationaler Gerechtigkeit einerseits und einer christlich-theologischen Beschreibung dieser Herausforderung andererseits identifizieren.

Die theologische und philosophische Arbeit am „Begriff“ kann sich hier wechselseitig anregen und erhellen. So können die folgenden Ausführungen zu einer Leitlinie werden, die Orientierungsmarken für die Sachanalyse verschiedener Handlungsfelder Internationaler Gerechtigkeit formulieren hilft. Denn diese Studie ist in der Überzeugung geschrieben, dass eine Sorge um Gerechtigkeit in dem eingangs angesprochenen Sinn auch jenseits nationaler Ebenen möglich und gefordert ist. Für diese These werden die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einen belastbaren Beitrag liefern. Grundsätzlich hat sich auch die Kirche in diesem Zusammenhang mit der Macht der Bitte und des Appells zu Wort zu melden. Das umfasst vor allem eine theologische Aufklärung über Lebensperspektiven, die in Verantwortung vor Gott zu gestalten sind.

Vorausgeschickt werden soll eine präzise Ausarbeitung der aktuellen Rahmenbedingungen unseres Nachdenkens über Gerechtigkeit, die anschließend in einer extensiven Analyse der einzelnen Handlungsfelder aufgefächert wird. Denn Gerechtigkeitskonzepte fallen ebenso wenig vom Himmel, wie sie einfach durch die Systematisierung empirischen Materials ermittelt werden können. Letzteres ist nicht möglich, weil das Bestehende allein nicht Auskunft darüber zu geben vermag, wie es besser und anders gehen kann. Mit Recht hat Immanuel Kant darauf bestanden, „nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige (…) Praxis“ zu nennen, die „als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird“.18 Gerechtigkeit lässt sich nicht einfach heuristisch erheben. Wie es jedoch aus ökonomischen, rechtlichen und politischen Gründen dazu kommt, dass in bestimmten Konstellationen die Lebensverhältnisse das, sich ja offensichtlich schon jenseits von empirischer Einübung und kultureller Prägung sich meldende, Gerechtigkeitsempfinden weniger kränken als in anderen – dies zu wissen ist Bedingung, um eben jene Gerechtigkeitskonzepte zu entwickeln, die der Dynamik in sich vielfältiger – und d. h. eben auch biblischer – Gerechtigkeitskonzepte entsprechen.

Wenn philosophische und theologische Überlegungen diese Studie eröffnen, so bedeutet das in keinem Fall, dass Spekulation und eine sich gegen die Empirie abschottende religiöse Apodiktik sich den Entwurf einer gerechten Welt erdichtet, um ihn anschließend ökonomisch, juristisch und politisch passend zu machen. Gegen diesen Verdacht spricht schon die Tatsache, dass die Gründungsurkunden des christlichen Glaubens selbst erfahrungsgesättigte Dokumente sind, in denen Geschichten erzählt und Lebenskonstellationen beschrieben werden, die von ökonomischen, politischen und juristischen Gestaltungsbemühungen mitbestimmt sind. Die Kritik eines Propheten Amos an den Lebensverhältnissen Altisraels ist immer auch ökonomisch orientiert.19 Die Kritik eines Jesaja geht auf Fehler in der internationalen Politik ein20 . Quer durch die Schriften des Alten Testamentes ziehen sich Erwägungen zur Dimension Recht und Gerechtigkeit mit ihrem lebensgestaltenden Potential, deren Spuren sich auch in den neutestamentlichen Texten wieder finden. Sie „speichern“ also Lebenserfahrungen, die Menschen über Jahrhunderte hinweg mit gerechteren und ungerechteren Lebenskonstellationen gemacht haben. Diese Erfahrungen werden in der Überzeugung dokumentiert und gedeutet, dass Gott mit ihnen auf bisweilen schwer durchschaubare Weise Geschichte macht. Sie sind dadurch spezifisch religiöse Urkunden der Entwicklung eines Gerechtigkeitsverständnisses eigener Art. Nicht zuletzt deshalb haben die hier dokumentierten Gerechtigkeitsbestimmungen Deutungskraft auch für ein gegenwärtiges Fragen nach Gerechtigkeit im Horizont entgrenzter Ungleichheit in einer globalen Welt und den Erwägungen zum Thema Internationaler Gerechtigkeit. Auch die Philosophie bezieht sich, wie unschwer zu erkennen sein wird, auf ökonomische, rechtliche und politische Diskurse. Sie rezipiert diese und prägt sie systematisierend und orientierend. Die interdisziplinäre Aufklärung über das, was Gerechtigkeit ausmachen könnte, muss also spiralförmig die Disziplinen durchlaufen und zu ihrer vorangehenden Problemstellung zurückkehren.

Ein praxistaugliches Gerechtigkeitskonzept im globalen Horizont rechnet außerdem damit, dass in anderen Kulturen andere Konzepte von Gerechtigkeit bestimmend sein könnten. Ein kulturübergreifender Gerechtigkeitsbegriff dürfte nicht nur unrealistisch, sondern prinzipiell auch unmöglich sein.21 Solch ein Begriff könnte nur aus einer geschichtsphilosophisch begründeten Zentralperspektive heraus formuliert werden, deren letztgültige Form in der Philosophie Hegels gegeben ist, deren Prämisse – der enge Zusammenschluss von Logik und geschichtlicher Entwicklung – heute allerdings ihre Überzeugungskraft verloren hat. Statt dessen ist es möglich und gefordert, eigene kulturbedingte Gerechtigkeitskonzepte mit ihrem Wahrheitsanspruch so präzise und vernünftig wie möglich im Hinblick auf die Problemstellung Internationaler Gerechtigkeit zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen.22 Dieses Verfahren schließt als angestrebte Möglichkeit ein, gemeinsam Gerechtigkeitsmerkmale auszumachen, die möglichst viele, in bestimmten Fällen sogar alle Kulturen teilen.23 Eine solche Verständigung über Gerechtigkeitsmerkmale ist unter Beibehaltung kulturbedingter Perspektiven denkbar. Sie liegt in der Möglichkeit sprachlicher Dialoge überhaupt begründet. Es ist eine Forderung unserer Zeit, eine bestimmte immer auch kulturbedingte Perspektive gesprächsfähig für andere Perspektiven und praktisch belastbar zu entfalten. Sie ist daher auch eine der zentralen Absichten dieser Studie. Zunächst werden theologische Gerechtigkeitsperspektiven skizziert. Sie sind, wie ein Blick in offizielle Verlautbarungen der evangelischen Kirche in Deutschland zeigt, durchgängig Reflexionsbasis für kirchliches Handeln in nationalem und internationalem Kontext, die bei Übereinstimmung in einigen grundlegenden Charakteristika der Gerechtigkeitsbestimmung stark durch die jeweiligen gesellschaftlichen Provokationen mitgeprägt sind.24

II. Eine Skizze theologischer Gerechtigkeitsperspektiven

II.1 Gottes schöpferische Gerechtigkeit

Gott wird schon im Alten Testament als eine Instanz begriffen, deren Gerechtigkeit eine richtende Gerechtigkeit ist, indem sie Leben aufrichtende Gerechtigkeit ist.25 Gott richtet, indem er unterscheidet und eindeutig urteilt, was Zukunft hat und was zerstört. Gottes Gerechtigkeit richtet Lebensverhältnisse neu aus und rettet. Jahwe ist derjenige, der den unschuldigen Gerechten aufrichtet (Ps. 7,12), das ist erklärtes Ziel seiner Gerechtigkeit. Gottes zurechtrückendes Handeln ist kreatives schöpferisches Handeln. Dieser Sachverhalt ist sofort für eine rechtliche, ökonomische und politische Beschäftigung mit Gerechtigkeit lehrreich. Gerechtigkeit ist eine Kraft, die nicht technokratisch umordnet. Gerechtigkeit erfindet neue Ordnungen. Ohne Gottes Phantasie ist Gerechtigkeit nicht denkbar. Gott, so beschreibt das Ps. 89,15 - 17, lässt seine Gerechtigkeit vom Himmel auf die Erde wie eine göttliche Vorgabe herabregnen. Ein entsprechendes menschliches Verhalten sei die fruchtbare Folge, denn Gerechtigkeit sprosst zugleich auf, wie es heißt.26 Damit wird folgender Überzeugung Ausdruck gegeben: Gott reagiert nicht auf gerechteres Verhalten mit Frieden und Gerechtigkeit. Vielmehr gehen sein Frieden und seine Gerechtigkeit voraus. Sie sind die fundamentalen Lebensbedingungen, mit denen er die Natur im doppelten Sinne gestaltet und erhält. Menschliches, zurechtgerücktes, gerechtes Verhalten – in Worten der alttestamentlichen Prophetie und des Predigers in der Wüste Johannes „Umkehr“27 und „Buße“28 – sind Folge der vorgängigen Gerechtigkeit Gottes.29 Menschen leben nicht nur im Blick auf Verfassungen von Voraussetzungen, die sie nicht selbst erzeugt haben.

II.2 Gerechtigkeit als Gefolgschafts- und Gemeinschaftstreue

Es ist, um ein weiteres Moment theologischer Gerechtigkeitstheorie zu nennen, nicht die Gerechtigkeit integrer Individuen beeindruckend, die Gerechtigkeit landes- und dann weltweit durchzusetzen vermag. Es ist ein fatales Selbstmissverständnis der Moralphilosophen unseres Kulturkreises, wenn Individualität und Autonomie als Folgen eines eurozentrischen Weltbildes oder gar als Folgen der Aufklärung ins Feld geführt werden. Zwar ist wahr, dass Immanuel Kant Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“30 bestimmt hat. Die Ursachen der Unmündigkeit entdeckte Kant jedoch nicht in einer sozialen Vergemeinschaftung oder Vermassung, sondern allein in „Faulheit und Feigheit“ und der Bequemlichkeit, ein Buch statt meiner selbst für mich Verstand haben zu lassen.31 Autonomie jedoch war für ihn die Fähigkeit, in Freiheit sich seines Verstandes zu bedienen, um gemeinsam mit (allen) anderen Individuen – Kant redet hier immer wieder von der Menschheit – neue Anfänge zu setzen. Gerechtigkeit setzt neue Anfänge und sie setzt diese in gemeinsamem und gemeinsam abgestimmtem Handeln. Faszinierenderweise bestimmt diese Einsicht eben alttestamentliches Nachdenken über Gerechtigkeit. Zedakah, die hebräische Entsprechung für den Ausdruck Gerechtigkeit, ist mit Recht auf die beiden Ausdrücke der „Gefolgschaftstreue“ gegenüber verantwortlich Handelnden und Gott und der „Gemeinschaftstreue“ gebracht worden32 . Personen handeln im Kontext mit anderen Personen so, dass sie sich den gegenwärtigen und zu erwartenden zukünftigen Lebensbedingungen und der Lebenssituation entsprechend verhalten. Das ist mühsam. Und es ist, unter jeweils immer neuen Lebensbedingungen, eine Herausforderung herauszufinden, wie das gehen kann.

Ein solches Gerechtigkeitskonzept erschöpft sich nicht allein in der Verteilung und im Ausgleich von materiell bestimmbaren Gütern. Das bedeutet auch, dass das Verhalten des Einzelnen und der interaktive Handlungszusammenhang der Gesellschaft wechselseitig ineinander greifen. Man hat das auf den Begriff der „konnektiven Gerechtigkeit“33 gebracht. Sie hat zur Folge, dass der „Fluch der bösen Tat“ den Täter einholt. Die so genannte „Krise der alttestamentlichen Weisheit“, die einsehen muss, dass es ungerechten mitunter sehr viel besser geht als gerechten Menschen – und das nicht nur vorübergehend, hat allerdings schon offen gelegt, dass dies bereits in überschaubaren Lebenszusammenhängen nicht mehr zutrifft. Die natürliche Regulierung durch freie Handlungszusammenhänge sorgt als solche nicht bereits für gerechte Verhältnisse. Entsprechend groß ist immer schon die Flut prophetischer Klagen gewesen. Anklagen und Drohworte im Namen Gottes werden um das 8. Jahrhundert vor Christus laut und verstummen seither nicht mehr. Sie werden, nach den schroff vernichtenden Urteilen eines Amos, der für das Volk Gottes angesichts der ungerechten Lebensverhältnisse als politischer Größe keine Zukunft mehr sieht, alsbald mit Verheißungen verknüpft. Die Lebensverhältnisse sind unangemessen, aber die Möglichkeit zu einem „gemeinschaftstreuen Verhalten und damit gelingenden Leben“ wird den Menschen „für die Zukunft geweissagt“.34 Ihr könnt gerecht sein, also seid es auch! Diese sich entwickelnden gerechten Lebensverhältnisse stehen in der Verheißung, erneut durch Gottes gerechtes stabilisierendes Verhalten verstärkt zu werden. Es ist ein positiver Lebenskreislauf der Gerechtigkeit.

II.3 Die Entwicklungsdynamik der Gerechtigkeit

Entscheidend ist, dass dabei Gerechtigkeit Lebensgewinn für alle bedeutet, und zwar keinen optimierten allein den Durchschnitt betrachtenden Lebensgewinn. Das Alte Testament kennt keinen durchschnittlichen Menschen und das Neue Testament denkt darüber nicht anders. Es gibt ihn nicht und man sollte es tunlichst lassen, die gerechten Verhältnisse an jemandem zu orientieren, den es nicht gibt. Das ist das eine. Das andere und entscheidende ist, dass Gerechtigkeit einen Entwicklungsprozess35 und nicht abgeschlossene, mit dem Bild etwa der Gerechtigkeitswaage nahe gelegte, austarierte Verhältnisse beschreiben kann. Gerechtigkeit ist kein durch Ausgewogenheit stabilisierter Zustand, sondern eine Bewegung. Wo Lebensverhältnisse Veränderungen und Entwicklung entbehren, wo sie sich ohne eine dynamische Ordnung gestalten, fehlt Gerechtigkeit im Sinne des Alten Testamentes. Damit ist nicht schon einem ökonomischen System das Wort geredet, das auf die ununterbrochene Steigerung von Bruttosozialprodukten angewiesen ist. Entwicklung ist in dieser Perspektive vor allem ein Qualitätsbegriff, denn er steht und fällt nicht allein mit der Steigerung von Quantitäten. Über den Zusammenhang der Dynamik quantifizierender und qualitativer Analyse und Deutung von Störungen und Prozessen Internationaler Gerechtigkeit wird im Kontext der ökonomischen Handlungsfelder zu reflektieren sein.36

II.4 Sechs zentrale Momente alttestamentlicher Gerechtigkeitsvorstellungen

Sechs zentrale Momente also prägen die alttestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung. Sie ist erstens keine Strafgerechtigkeit und sie ist zweitens mehr als eine simple Verteilungsgerechtigkeit. Drittens ist sie eine komplexe Abstimmung eines Tuns und Lassens von Einzelnen und Gruppen innerhalb eines Gesamtgefüges und sie regelt sich viertens nicht durch natürlichen, freiheitlichen Austausch, sondern muss durch Appelle und gesellschaftlich kommunizierte Korrekturen37 gemeinsam gestaltet werden. Fünftens ist sie dynamische Entwicklung und setzt sechstens voraus, dass Gott gehandelt hat, handelt und handeln wird. Nun haben sich im Horizont des Alten Testamentes hier und jetzt die immer gerechteren Verhältnisse zunächst und wesentlich im Volk Israel zu realisieren. Das ist ein überschaubarer Handlungshorizont. Gerechte Lebensverhältnisse weltweit durchzusetzen zu wollen, gar von Menschenhand, ist hingegen ein Unternehmen, zu dem Menschen der Überblick fehlt. Entsprechend kühn ist die Universalisierung der Gerechtigkeit im Neuen Testament. Kühn ist sie nicht deshalb, weil von allen Menschen gegenüber allen Menschen Gerechtigkeit gefordert würde. Gerechtigkeit und Recht zu üben, dazu sind nach Auffassung der Proverbien alle Menschen gegenüber allen Mitmenschen verpflichtet.38 Die Kühnheit besteht darin, universale Gerechtigkeit in ganz spezifischer Weise als eine realistische und realisierbare Bestimmung zu behaupten.

II.5 Gottes weltumfassende versöhnende Gerechtigkeit

Im Horizont neutestamentlicher Texte gilt: Wer Gerechtigkeit denkt, hat sie auch global zu denken, oder er hat noch nicht über Gerechtigkeit nachgedacht. Dieser Anspruch kumuliert in der Taufszene Jesu. Der Täufer meint, eher von ihm getauft werden zu müssen als Jesus zu taufen. Jesus entgegnet ihm: „Laß es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (Mt. 3,15). Begreift man die Taufe als Bestätigung eines Einsetzungsaktes, so ist sie genauer die Einsetzung zur Realisierung aller Gerechtigkeit durch die und in der Person des Jesus von Nazareth. Er wird als „der Gerechte“ verstanden (Lk 1,6). Im Tun, Lassen und Erleiden des Jesus von Nazareth, in dem, was er sagt, wie er sich verhält, wie er für andere eintritt und wie er zur Nachfolge aufruft, sind alle Möglichkeiten von Gott zur Verfügung gestellt, gerecht zu werden.39 Es wird hier eine entscheidende Zeitstruktur für die Gerechtigkeitsbestimmung offen gelegt. Gott hat Menschen in der Vergangenheit mit sich und sie selbst untereinander versöhnt (2. Kor 5,18 - 22). Er erwartet von ihnen, dass sie dieser Versöhnung entsprechend ihr Leben gestalten (2. Kor 6,1f.). Und er stellt ihnen ein von der Unvollkommenheit dieser Welt befreites, erlöstes, durchweg von Gerechtigkeit bestimmtes Leben in Aussicht.

II.6 Die Zeitstruktur von Gerechtigkeit im Kontext einer Güterordnung

Diese Zeitstruktur der Gerechtigkeit ist von hoher Bedeutung. Sie ist eingebunden in ein komplexes Beziehungsgefüge von „Gütern“. Was gerecht ist, kann nicht begriffen werden, wenn Menschen rein gegenwartsbezogen handeln und argumentieren. Es kann auch nicht begriffen werden, wenn es ausschließlich von den Parametern einer mitunter sehr ungerechten Vergangenheit bestimmt ist. Und es kann schließlich nicht begriffen werden, wenn es sich geschichtsvergessen allein an Zukunftsaussichten orientiert, in denen die Herkunft der bestehenden Lebensverhältnisse verdrängt wird.40 Gerechtigkeitskonzeptionen müssen alle drei Zeitmodi in nachvollziehbarer, intelligenter Weise miteinander verschränken. Das ist für die Bearbeitung aktueller Gerechtigkeitsfragen auf internationalem Parkett keine Nebensächlichkeit. Weder allein die Parameter einer ungerechten Vergangenheit, noch die Gepflogenheiten des status quo, noch Zukunftsutopien sind je für sich genommen Orientierungsmarken für ein Gerechtigkeitskonzept. Die neutestamentlichen Texte raten, den vergangenen Lebenskonstellationen ohne jedes Wenn und Aber ins Auge zu blicken. Denn Gerechtigkeit ist eine Freundin der Wahrheit (vgl. Röm 1,18). Sie ist auf ein Verhalten aus, das den Nächsten, den Nachbarn nicht schädigt und wahr ist.41 Präzise ist es die sich im Leben und Sterben der Person des Jesus von Nazareth zeigende Wahrheit, die frei macht (vgl. Joh 8,32).

Wie ist das im Horizont der Gerechtigkeit zu verstehen? Vergangene Lebensverhältnisse legen Personen und Gesellschaften nicht in der Weise eines, individuell und plural, schlechten Gewissens so fest, dass diese Vergangenheit zukünftige Relationen zwischen Menschen zu bestimmen hat. Es geht um eine Gewissensbildung, die für Unrecht sensibilisiert – eine Schulung mit dem Ziel, nicht ein chronisch schlechtes Gewissen, sondern ein zu gerechterem Handeln befreites Gewissen zu bilden. Der christliche Glaube zehrt hier von der Wahrheit, dass Menschen bei Gott sich von ihrer Vergangenheit unterscheiden dürfen, insofern sie in der Vergangenheit scheiterten, schuldig wurden, sich selbst also verfehlten und so weder Gott, der eigenen Person noch anderen und anderem gerecht wurden. Deshalb fordert die Gerechtigkeit als versöhnende Gerechtigkeit dazu auf, die Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Vergebung zu lesen. Dadurch ist die Gegenwart im Horizont der Gerechtigkeit als eine solche bestimmt, in der Menschen Frieden jetzt bei Gott haben (Röm 5,1).42 Und dieser Friede eröffnet ihnen die Möglichkeit, für eine neue Zukunft zu leben, in der „Frieden und Gerechtigkeit sich küssen“ (Ps. 85,11).

Verabsolutierte Anklagen und verleugnete Schuld werden Gerechtigkeitsprozesse zerstören. Umgekehrt werden ideale, als pure Zukunftsvisionen der Politik unterbreitete Gerechtigkeitsmodelle ohne Einbindung in Geschichtsprozesse zu nichts führen. Sie müssen sich an der Tugend der Klugheit messen lassen, die als „Gebärerin“ realer Gerechtigkeit43 danach fragt, auf welchem Weg ein angestrebtes Ziel denn erreicht werden soll. Sozusagen kopfüber, ohne historischen Sinn und Verstand in das Beschließen und Tun des Gerechten hineinzuspringen – ein solches Verhalten hat die Theologie immer wieder als Unbesonnenheit kritisiert.44 Der Weg selbst hat gerecht zu sein, niemals darf der Zweck fragwürdige Mittel heiligen.45 Die teleologische Struktur der christlichen Gerechtigkeitsbestimmung muss daher unablässig mit utilitaristischen Gerechtigkeitskonzepten streiten.46 Dabei geht Geduld als langer Atem gerechter Leidenschaft nicht nur beim Apostel Paulus (Röm 5,347 ), sondern auch bei der Geschichte in die Schule. Geschichtliche Konstellationen sind allein schon aus dem Grund zur Kenntnis zu nehmen, um das Scheitern bestimmter Gerechtigkeitsmodelle beziehungsweise das Scheitern einer naiven Applikation unterkomplexer Gerechtigkeitsbegriffe besser zu verstehen. Das verhindert, die Fehler der Vorfahren geradewegs noch einmal zu machen. Eine schlichte Applikation vergangener Konzepte auf die Zukunft hat in theologischer Hinsicht keine Zukunft. Für die Zukunft im Sinne einer Generationengerechtigkeit48 Verantwortung zu übernehmen ist die der christlichen Gerechtigkeitsvorstellung fest eingeschriebene Struktur nachhaltigen Handelns.49 Zu dieser Verantwortung gehört die Bereitschaft zum Verzicht. Verzicht ist etwas anderes als Verlust. Verluste tun weh. Verzicht dagegen kann heilsam sein. Verzicht durchzusetzen ist allerdings ein hartes politisches Geschäft. Internationale Abkommen, die für gerechtere Lebensverhältnisse eintreten werden gerne unterzeichnet. Bei der Umsetzung entstehen jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Das ist in theologischer Perspektive noch lange kein Grund, nicht auf solche Abkommen zu setzen.50 Theologie hat immer wieder auf die Kraft des Wortes gesetzt.51

II.7 Gerechtigkeit und neues Leben

Gerecht wird niemand durch menschliches Tun und Lassen. Gerecht werden, das ist, wie schon im Alten Testament behauptet, zugleich ein Schöpfungsakt Gottes (das Neue Testament redet hier ausdrücklich von Neuschöpfung, 2. Kor 5,17), und ein Gestaltungsauftrag an Menschen, ihr Leben immer wieder neu zu regeln. Man muss hier dreierlei unterscheiden: Zum ersten ist Gerechtigkeit durch Gott in Jesus Christus realisiert und insofern kein utopisches Konzept. Sie hat ihren Ort in dieser Person und ist zur Stelle. Zweitens wird im Kontext dieser Gerechtigkeitsbestimmung das Moment der Lebensdynamik des alttestamentlichen Gerechtigkeitsverständnisses aufgenommen. Gerechtigkeit ist nicht als gefügte Ordnung zu begreifen, sondern als Entwicklung. Sie ist dabei Entwicklung auf ein Ziel hin, das unter den Bedingungen dieser endlichen Welt noch nicht möglich ist, zu dem aber die endlichen Lebensverhältnisse eine immer überzeugendere Entsprechung bilden können. Dieses Ziel selbst ist eine dritte Gerechtigkeitsbestimmung, die in der Rede vom „Reich Gottes“ zu greifen ist. Das Reich Gottes ist die Realisierung einer durchweg gerechten Welt. Von ihr kann nur in Gleichnissen die Rede sein, aber genau hier kommt sie zum Ausdruck. Sie ist insofern, und nur insofern noch eine Utopie, als sie noch nicht realisiert ist. Sie wird jedoch – unter allerdings anderen von Gott in Aussicht gestellten Lebensbedingungen realisiert werden.

Im Blick auf diese drei Bestimmungsmomente der Gerechtigkeit gibt es vor allem im Blick auf das zweite und dritte Moment fatale Missverständnisse. Eine Institution oder ein Volk oder eine Welt, die meint, Gerechtigkeit im Sinne des dritten Momentes selbst durchsetzen zu können, verwechselt sich mit Gott. Dies zählt nach christlicher und jüdischer Auffassung zu den verheerenden Selbstmissverständnissen. Eine Welt, die das Reich Gottes Reich Gottes sein lässt und nicht mit dem Kommen dieser Weltverhältnisse allein durch Gott rechnet und sich von diesen ganz anderen Weltverhältnissen produktiv für eine gerechtere Gestaltung einer unvollkommenen Welt herausfordern lässt, verweigert den von Gott in die Welt gesetzten Möglichkeiten zum Neuanfang ihr Recht und ignoriert Gerechtigkeit im Sinne des oben genannten zweiten Momentes. Dies zählt zu den verheerenden Missverständnissen der Welt über sich selbst, die sie in freier Kontingenz ins Elend taumeln lässt.

Anders formuliert: Menschen leben unter den Bedingungen der Endlichkeit dieser Welt in einer versöhnten aber noch nicht erlösten Welt. Jede Gerechtigkeitsvorstellung, die behauptet, die Lösung eines globalen Ungerechtigkeitproblems bereitstellen zu können, gerät in dieser Perspektive unter den Verdacht, nicht bloß von der Versöhnung leben zu wollen, sondern selbst erlösen zu können. Jede Gerechtigkeitsvorstellung hingegen, in der die Sorge für gerechtere Verhältnisse bestritten wird, ignoriert die Kraft versöhnter und versöhnender Gerechtigkeit. Menschen können zwar immer nur für ein „mehr“ an Gerechtigkeit eintreten. Dafür aber müssen und dürfen sie eintreten (Mt 5,20), dazu sind sie befreit.

Im Neuen Testament hat die versöhnende Gerechtigkeit ihr Maß nicht allein im Vergleich und nicht in der Verteilung52 , auch wenn unbestritten bleibt, das unter Geschöpfen immer auch verteilt und ausgeglichen werden muss. Sie hat ihren Grund in der Liebe zum „Nächsten“ und in der Liebe zu Gott. Der Nächste wurde bereits in der deuteronomischen Gesetzgebung als „Bruder“ bestimmt, d. h. ein familiäres Ethos wurde auf die Nachbarn ausgeweitet (vgl. Dtn 15,2). Jesus universalisiert dieses Ethos, denn nach seiner Lehre kann prinzipiell jeder Mensch zum Nächsten werden, der einem, egal wo, begegnet (Lk 10,25 - 37). Die Liebe, als Gerechtigkeit bewirkende Lebenskraft, wird dabei als Achtung vor dem Nächsten verstanden. Sie gewinnt ihre Kraft dadurch, dass Menschen begreifen, dass sie von Gott geliebt sind (vgl. Joh 13,34f.). Gottesliebe provoziert Nächstenliebe. Der Ruf nach mehr Gerechtigkeit resultiert hier nicht aus dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Vielmehr gewinnt ein Mensch aus der Einsicht, von Gott längst gerecht behandelt worden zu sein, die Energie, auch andere gerechter zu behandeln.

II.8 Biblische Gerechtigkeitskonzepte und disziplinärer Sachverstand

Am Ende dieser Skizze christlicher Gerechtigkeitsbestimmungen muss eine Warnung stehen. Wie sich das in den biblischen Texten beschriebene neue Leben im Blick auf Gerechtigkeit jeweils realisieren lässt, dazu schweigen die neutestamentlichen Quellen. Es wäre eine unsachgemäße Fehldeutung dieser Texte, ihnen unmittelbar ökonomische, politische oder rechtliche Handlungsanweisungen entnehmen zu wollen. Die Situation in den urchristlichen Gemeinden war nicht eben dazu angetan, sich über soziale, ökonomische und rechtliche Fragen internationaler Reichweite den Kopf zu zerbrechen. Man erwartete das Kommen des Herrn allzu bald und sorgte sich nicht um die Strukturen dieser Welt. Zudem gab es angesichts der gesellschaftlichen Randstellung der Gemeinden auch keine Perspektiven einer wirkungsvollen politischen Einflussnahme. Allerdings sind die Gerechtigkeitsbestimmungen der neutestamentlichen Texte auch nicht bloß religiöse Lyrik, die für ethische, rechtliche und ökonomische Gerechtigkeitskonzeptionen ohne Belang wäre. Vielmehr entlassen die neutestamentlichen Texte ihre Leser und somit gerade Christen mit einer klar strukturierten Agenda, in der die Gerechtigkeit im Kontext von Zeitbezügen und Grundbestimmungen (z. B. Friede, Freiheit, Wahrheit, Liebe) sowie den Grenzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten ihren Platz zugewiesen bekommt. Eine Antwort auf die Frage, wie sich aus ethischen Gerechtigkeitsüberzeugungen präzise Recht und Ökonomie gestalten lassen, ist Aufgabe eines weiteren Reflexionsganges. Das ist kein Mangel, sondern eine Aufforderung an christlich ambitionierte Bürgerinnen und Bürger, mit ihren ökonomischen, rechtlichen und politischen Talenten zu wuchern. Diese Talente sind die von Gott den Menschen in ihrem Zusammenleben anvertrauten Charismen; sie sind nicht nur im Gemeindeleben (1. Kor 12,1 - 11), sondern zum Wohl von Lebenszusammenhängen einzusetzen.

Überhaupt ist Gerechtigkeit in den Zusammenhang anderer Bestimmungen – Freiheit, Friede, Geduld, Klugheit, Augenmaß – und im christlichen Horizont in den Zusammenhang von Glaube, Hoffnung und Liebe einzustellen und mit systematischer Stringenz zu integrieren. Das hatten mittelalterliche Sitten- und Rechtslehren bereits realisiert und entsprechend komplexe Theorien vorgeführt. Auch wenn diese, angesichts divergierender politischer, rechtlicher und ökonomischer Konstellationen, heute nicht zu übernehmen sind, so kann doch eine aktuelle Gerechtigkeitskonzeption hinter die in ihnen formulierten grundlegenden Einsichten nicht zurückfallen. Die christliche Theologie hat von ihren Ursprüngen an Gerechtigkeitsvorstellungen adaptiert und integriert und um Rechtsentwicklungen und ökonomische Neuerungen hat sie dabei keinen Bogen gemacht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch wer mit Gott rechnet, muss mitunter dennoch selber rechnen können, zum Wohle seines Nächsten. Doppelte Buchführung ist nicht vom Teufel. Kapital wächst, auch wenn das Zinsverbot in den biblischen Texten ausgesprochen wurde. Die Frage ist dann nur: cui bono. Johannes Calvin hat nicht zuletzt deswegen die biblische These des strikten Zinsverbotes zurückgewiesen. Die aristotelische Behauptung, dass Geld seiner Natur nach unfruchtbar sei, hat er eine frivole und infantile Argumentation genannt.53 Calvin sah deutlich, dass eine gerechte Verteilung vorhandener Güter nicht ausgereicht hätte, um den Bewohnern von Genf deren Dasein zu sichern. Kredite, die Kreditgeber Gewinn in Aussicht stellen gehen also in einem Gewinnstreben auf Erden aus theologischer Perspektive durchaus in Ordnung. Sie müssen allerdings auch dem Kreditnehmer zum Besten dienen, also etwa im Sinne eines „positiven Schuldenzyklus“54 konzipiert sein. Wirtschafts- und Rechtsverfahren sind leistungsfähig, aber sie sind oft wertethisch ambivalent.55 Die theologische Reflexion kann dazu beitragen, sie intelligent und nicht wertevergessen zu gestalten. Sie kann das seriös nur tun, wenn sie den Kontext der Debatte um Internationale Gerechtigkeit zur Kenntnis nimmt und sich in diese ebenso kritisch wie konstruktiv einmischt.

III. Die philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit

Die philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit ist – ob eher von der juristischen oder ethischen Erwägungen geleitet56 – von dem Bemühen gekennzeichnet, einem für viele Menschen unerträglichen Zustand ein wirkungsvolles Modell des gerechten Lebens entgegenzusetzen. Hier geht es um das Bild einer Welt, nicht wie sie ist, sondern wie sie unseren Vorstellungen nach sein sollte. Inter-national ist das Denken einer gerechten Welt, insofern es an den bestehenden Machtstrukturen souveräner Staaten und ihrer Verknüpfung zu einer Völkergemeinschaft festhält, die sich im Völkerrecht rechtliche Regeln des Handelns gibt. Diese haben gegenüber nationalem Recht einen Verbindlichkeitsstatus anderer Art: da es an einem Souverän fehlt, können keine Sanktionen vergleichbarer Art bei Rechtsbruch verhängt werden. Zugleich unternimmt internationales Rechtsdenken den Versuch, den Bereich der Fernwirkung ökonomischen, politischen und sozialen Handelns denselben moralischen Standards anzupassen, die Beziehungen zu einem „Nächsten“ innerhalb von Staatsgebieten angelegt werden. Daher dominiert in den Debatten über Internationale Gerechtigkeit die Frage, wie ein gerechtes Leben zwischen Völkern und Staaten, zwischen Individuen weltweit in einer Weise möglich ist, wie es sich vergleichsweise innerhalb moderner, kulturell abendländisch geprägter Gesellschaften bereits etabliert hat.

Zwei Merkmale kennzeichnen diese Diskussion. Zum einen soll ein internationaler Gerechtigkeitsstandard geprägt werden, der sich am Modell der Menschenrechte und damit an einem bestimmten kulturellen Werthorizont orientiert; zum anderen sollen ökonomische, politische und soziale Wirkungsverhältnisse nicht nur mit moralischen Handlungsregeln überformt, sondern im internationalen Zusammenhang rechtsförmig gestaltet werden. Die zunehmende Verrechtlichung des internationalen Handlungsfeldes soll eine Gerechtigkeitslücke schließen, und zwar entweder auf dem Wege der Moralisierung und der rechtlichen Normierung der Handlungsregeln oder, wie die abendländische Geschichte der Frühen Neuzeit zeigt, auf dem Umweg über eine Monopolisierung der Gewalt und eine Disziplinierung der handelnden Akteure.

III.1 Der Kontext der philosophischen Debatte

Der klassischen Gerechtigkeitsdebatte war der Begriff der Internationalen Gerechtigkeit fremd. Sie sprach von natürlicher und ziviler Gerechtigkeit. In aristotelischer Tradition gilt die Vorstellung, dass jede natürliche Lebensgemeinschaft und politische Gemeinschaft, von der Familie bis zur Polis, ihre eigenen Gerechtigkeitsstandards haben, Standards, die auseinander entstehen und aufeinander abzustimmen sind. Als Richtlinie dieser Abstimmung gilt zumeist ein Hinweis auf die „Natur der Sache“. Da jedes Ding in einer natürlichen Ordnung der Dinge und auch jeder Mensch innerhalb einer sozialen Ordnung gemäß Natur und Herkunft seinen Ort hat, üben Menschen Gerechtigkeit, insofern sie den Dingen einen gerechten Preis im Tausch beimessen und den Menschen ihren Wert in der sozialen Interaktion zusprechen. Jenseits der Sozialgemeinschaft endet dieser Bereich natürlicher Beziehungen, hier grenzt das Fremde, Außermenschliche, auch Feindliche an.57

Diese Abgrenzung einer Gemeinschaftsethik von einer anethischen Sphäre jenseits der jeweiligen Gemeinschaft, d. h. einer Sphäre, in der das Handeln nicht normiert ist, konnte über Jahrhunderte aufrechterhalten werden, solange die Gemeinschaften, Kulturen, Lebensformen ohne große Berührungspunkte nebeneinander – in friedlicher Koexistenz oder offener Feindschaft – unter maximaler Ausschöpfung der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen leben konnten.58 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die antike Sklavenwirtschaft kaum von den frühneuzeitlichen Kolonialmächten und von modernen imperialen Gewalten, die im Kampf um die natürlichen Ressourcen – menschliche Arbeitskraft, Rohstoffe, Wasser usw. – durchgehend eine Ordnung moralischer Handlungsregeln vermissen lassen. Dem steht seit den Anfängen politischer Gemeinschaftsbildung als ein hörbares Korrektiv, das aber politisch und rechtlich nicht eine entsprechende Ausformung erfuhr, die artikulierte Sehnsucht nach einer Überwindung der Feindschaft oder gar einer Aufhebung der sozialen, religiösen, politischen und kulturellen Grenzen gegenüber – für das Christentum wurde das bereits in Abschnitt 2 herausgestellt. Aber auch die Stoa, und der aus griechischer Philosophie und christlichen Quellen schöpfende Humanismus des 16. Jahrhunderts wie auch der Sozialismus des 19. Jahrhunderts sind hier zu nennen. Das Gegenbild zur natürlichen, auf ihren partikularen Grenzen beharrenden Gerechtigkeit ist das einer universalen Gerechtigkeit, die alle Begrenzungen aufhebt und die Verheißung einer gerechten Welt erfüllt. Philosophen haben sich immer schon, wenn auch nicht ausschließlich, der Frage zugewendet, wie die Durchsetzbarkeit dieser Gerechtigkeitsvorstellung zu denken ist und welche Mittel vom Zweck ihrer Durchsetzung gerechtfertigt werden können.59

Man kann die politische Geschichte des Abendlandes bis ins letzte Jahrhundert hinein geradezu als eine Auseinandersetzung zwischen den partikularen Kräften eines politischen Aristotelismus und denjenigen eines universalistischen politischen Chiliasmus lesen, der nicht mit entsprechenden eschatologischen Konzepten der Theologien verwechselt werden darf. Insbesondere die letzte Phase unserer Geschichte zeigt, dass die Menschheit sich auf dem Weg von der Verheißung zur erzwungenen Erfüllung ihrer Idealbilder ihre eigenen Gespenster produziert hat. Diese Dialektik und mit ihr die Diskreditierung sozialer, ökonomischer und politischer Ideale durch den Versuch ihrer gewaltsamen Verwirklichung ist eine bleibende Signatur der Moderne.60 Auf den Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkriegs, in den Arbeits- und Vernichtungslagern totalitärer Regime und angesichts der ethnisch motivierten Völkermorde am Rande Europas und auf anderen Kontinenten, auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist eine Fortschrittsgläubigkeit massiv in Frage gestellt worden, die seit dem 18. Jahrhundert ein Motor sozialer und kultureller Entwicklungen in Europa gewesen war. Im Innersten dieser Katastrophe öffnet sich eine erschreckende Diskrepanz zwischen den Idealen, an denen Menschen ihr Handeln orientieren, und den Realitäten, die sie durch ihr Handeln hervorbringen. Die Rede vom „age of extremes“ (Hobsbawm) bringt diesen Sachverhalt prägnant auf eine Formel.

III.2 Die Wiederentdeckung der „Mitte“ zwischen den Extremen

Die Dialektik der Entzauberung solcher Ideale und geschichtlichen Zielperspektiven kann zwar in die zeitweilige Resignation führen. Sie kann aber auch eine Wiederentdeckung der Mitte provozieren, das heißt der vorletzten Ziele, des mittleren Maßes und der angemessenen Mittel-Ziel-Relation. Eine solche Entwicklung könnte Hannah Arendts Behauptung bestätigen, dass auch die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte lehrreich sind.61 Für das Thema der Internationalen Gerechtigkeit heißt das: Es stehen sich die Positionen einer natürlichen, aristotelisch geprägten und einer künstlichen, more geometrico entworfenen Gerechtigkeitskonzeption gegenüber. Erstere basiert auf partikularen und beharrenden Kräften, letztere leitet über zu den universalen und dynamischen Kräften der Aufklärungs- und Revolutionszeit.

Im 20. Jahrhundert bietet sich, im Angesicht der extremen Erfahrungen, nicht mehr ein schlichter Rückgriff auf die eine oder andere Konzeption an, sondern vielmehr und mit guten Gründen die Entdeckung einer Zwischenposition, deren pragmatische Dimension auszubauen und zu stärken ist. Diese kommt den oben skizzierten Bestimmungen einer christlichen, versöhnenden Gerechtigkeit entgegen, die einem Komparativ, aber nicht Superlativ menschlicher Gerechtigkeit das Wort redet. Am Ausgang des gewaltsamen 20. Jahrhunderts und im Angesicht sich ankündigender neuer ethnischer und sozialer Konflikte um enge Lebensräume und knappe Ressourcen sowie wegen inakzeptabler Bedingungen der Lebensfristung wird dieser Aspekt eine zentrale Bedeutung für das Thema Internationale Gerechtigkeit erlangen.

III.3 Der Horizont der Globalisierung

Die Debatte über Internationale Gerechtigkeit resultiert nicht einfach aus den Lehren der sozialen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie hat zusätzlich ein normatives Gerüst in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 erhalten.62 Auch diese Erklärung rechtfertigt sich zwar rückblickend aus den „Akten der Barbarei“, die infolge einer Verachtung der Menschenrechte ausgelöst wurden; vorausblickend erhebt sie jedoch den Anspruch, auf eine universale Anerkennung der Würde und der unveräußerlichen Rechte hinzuwirken, die für jeden Menschen die Grundlage seiner Freiheit, aber auch der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden. Auf diesem Weg ist die Herrschaft des Rechts, ausgeübt von den Völkern und Nationen, das notwendige Mittel zu einem höheren Zweck. Die Instrumente souveräner staatlicher Gewalt bleiben gerechtfertigt, da sich der Zweck einer Entwicklung der Menschheit nicht aus eigener Kraft erfüllt. Es bedarf „fortschreitender nationaler und internationaler Maßnahmen“, um die Achtung der Menschen füreinander, die Entstehung gerechter Lebensverhältnisse und damit zuletzt den Weltfrieden zu befördern. So weit die Präambel der Menschenrechtserklärung von 1948, in der die Grundsätze Internationaler Gerechtigkeit verbrieft sind. Skeptische Einwände heben hervor, dass das Völkerrecht als „ein Recht der Staaten“ den Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg auch nach 1945 nicht konsequent vollzogen hat. Zwar impliziert die Erklärung von 1948 das Versprechen, „das Völkerrecht werde sich von einem Recht der Staaten zu einem Recht der Menschheit wandeln“,63 es bleibt dabei jedoch faktisch auf halbem Weg stehen. So ist es keineswegs zu einem Recht aller Menschen als Rechtsindividuen, unabhängig von staatlicher Zugehörigkeit geworden. Dadurch ist bis heute ein effektiver durchgängig wirksamer internationaler Menschenrechtsschutz nicht möglich.64

Im Vergleich zum Jahr 1948 hat sich heute die Problemlage noch einmal radikal verändert. Während die Verfasser der Menschenrechtserklärung auf die Situation der Weltkriege reagierten und vorausblickend das Bild einer Welt skizzierten, die sich im Geist universaler Leitbilder in einem unendlichen Prozess der Annäherung an ihren höchsten Zweck, die Weltfriedensordnung, befindet und sich immer von Neuem der Gefahr des Konflikts, des Zerfalls in partikulare Einheiten und der Barbarei stellen muss, geht es heute unter dem Stichwort der „Globalisierung“ um ein anderes Szenario. Heute stehen Menschen vor der Herausforderung, die Welt als bereits bestehende Verflechtung naher und ferner, bekannter und fremder Menschen durch außenpolitische, wirtschaftliche, technologische und ökologische Faktoren nachträglich als Einheit zu begreifen. Die Veränderung der Problemlage resultiert daraus, dass die Welt de facto in eine Einheits-Perspektive gerückt ist und zwar auf eine Weise, die keinem zuvor entworfenen Fahrplan folgt. Es ist geradezu umgekehrt: Statt einer idealiter konzipierten Vereinheitlichung aller Wertvorstellungen und Lebensstandards, wie es die Menschenrechtserklärung vorsieht, findet eine vorrangig durch ökonomische, politische und ökologische Faktoren provozierte Einigung realiter statt. Statt Universalisierung also Globalisierung, statt der erwünschten Einheit der Menschheit im Zustand ewigen Friedens (Kant) eine Einheit der globalisierten Wirtschaftsgesellschaft, die weitgehend ohne Zustimmung der beteiligten „Akteure“ entsteht. Kulturell spiegelt sich das darin wider, dass eine kulturelle Vielfalt innerhalb von Staaten bei gleichzeitiger Abnahme globaler Vielfalt zu verzeichnen ist. Migranten und McDonalds gibt es überall.65

Der Prozess voranschreitender Globalisierung in Verbindung mit der Einsicht, dass die tradierten Denkkonzepte der einen Welt sich entweder als glückselige Träumereien oder totalitäre Alpträume erwiesen haben, verweist auf eine philosophische Leerstelle. An die Stelle chiliastischer und utopischer Fehlbuchungen muss ein Konzept treten, das sowohl einer Überdehnung der Erlösungserwartungen als auch einem Rückfall in einen simplen Revisionismus prämoderner Denkansätze entgegenstehen kann. Das Konzept Internationaler Gerechtigkeit im Horizont der oben skizzierten Strukturmomente einer christlichen Gerechtigkeitsbestimmung, die weder prä- noch postmodern sind, besetzte diese Leerstelle. Es wird sich zeigen müssen, ob es der genannten Anforderung gerecht wird. Auf die Frage Internationaler Gerechtigkeit zugeschnitten geht es um eine doppelte Aufgabenstellung: Einerseits ist eine Antwort auf die unerwünschte Einheit der globalisierten Wirtschaftsgesellschaft zu geben, und andererseits sind partikularistische und revisionistische Tendenzen abzuwehren, um solchermaßen „fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen“ zur Gestaltung des Weltfriedens ergreifen zu können. Es geht also unter dem Stichwort Internationale Gerechtigkeit um eine Gestaltungsmacht im Prozess der Globalisierung.

Bevor diese Überlegungen fortgesetzt werden können, bedarf es einer vorläufigen Klärung des Begriffs „Globalisierung“. Globalisierung ist zunächst einmal nichts anderes als ein Trend zur weltweiten Verknüpfung des Wirtschaftshandelns und zur Entstehung einer weltweiten Öffentlichkeit. Naturkatastrophen, politische Krisen und soziale Schieflagen sind lokale Ereignisse, sie stehen jedoch in globalen Wirkungszusammenhängen und werden weltweit wahrgenommen. Selbst wenn ihre Wirkung noch lokal begrenzt sein mag, ihr Bedeutungshorizont ist davon jedoch abgelöst. Globalisierung meint eben beides: die weltweite Verflechtung sozialer, ökonomischer und politischer Ereignisse und die Öffnung eines globalen Horizonts der Aufmerksamkeit und Deutung ebendieser Ereignisse.

Alle Beispiele für Globalisierungsszenarien stehen in dieser Doppeldeutigkeit. Eine Entlassungswelle in der Automobilindustrie Nordamerikas bestimmt die soziale Realität der Beteiligten, kann jedoch aufgrund der Verflechtung internationaler Wirtschaftsunternehmen und Finanzmärkte in anderen Ländern erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage haben. Die Finanzkrise des Herbstes 2008 hat dieser Einsicht noch einmal eine besondere Wucht gegeben. Auch eine Flutwelle im Indischen Ozean ist nicht nur für die Anwohner und Reisenden eine physische Realität, sondern sie erreicht die übrige Welt erstaunlich wirkmächtig als eine mediale Realität und löst der Effekt „episodischer Solidarität“ (Boris Holzer) aus. Auch unser Konsumverhalten wirkt nicht nur auf unsere Lebensverhältnisse ein und erzeugt oder vernichtet in unserem Land Arbeitsplätze, sondern es wirkt auch in die Herkunfts- und Erzeugerländer der von uns konsumierten Produkte zurück. Des Weiteren ist es nicht ohne Einfluss auf das Weltklima, ob Europäer Lebensmittel aus europäischen Regionen konsumieren oder solche, die einen Weg von mehreren tausend Kilometern zurückgelegt haben. Empfindliche Irritationen globalen Handelns entstehen, wenn etwa aufgrund von Schuldendiensten die Ökonomie eines Landes an den Bedürfnissen des Auslandes und nicht an den Bedürfnissen des Landes selbst orientiert wird.66 Die Beispiele für eine globale Verflechtung des Handelns und des Deutens von Handlungskontexten ließen sich mühelos fortsetzen.

Globalisierung heißt hier, dass ganz unterschiedliche Wirklichkeiten in der einen, medialen Welt um Aufmerksamkeit ringen und in der Wahrnehmung des Einzelnen zusammenrücken können. Es dokumentiert sich hier die „vermittelte Unmittelbarkeit“ unserer kulturellen Existenz (Helmuth Plessner) in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit: Zwar ist jede Wahrnehmung für uns Menschen durch unsere Sinneswahrnehmung, unser Erkenntnisvermögen und durch die sprachliche Form vermittelt, aber sie kann uns ungeachtet dessen dennoch mit der ganzen Wucht eines unmittelbaren Sinneseindrucks treffen. Dieser Sachverhalt korrespondiert dem Faktum institutioneller Entgrenzung67 , das auf den Ebenen des ökonomischen, sozialen und politischen Handelns zu beobachten ist. Diese Aspekte zusammengerechnet meint Globalisierung aus der Sicht der handelnden Individuen und Institutionen die bemerkenswerte Unfähigkeit, die Komplexität der realen Verflechtungen unserer Handlungszusammenhänge und der ihnen zugehörigen Bedeutungsebenen in ein stimmiges Gesamtbild zu bringen. Im Zusammenhang von Globalisierung dennoch von Internationaler Gerechtigkeit zu sprechen, heißt dieser Inkommensurabilität sehenden Auges zu begegnen.68 Dafür ist es notwendig, in einem nächsten Schritt Landmarken oder normative Orientierungspunkte auf der Karte der globalisierten Welt einzutragen.

III.4 Philosophische Perspektiven und politische Modelle

Aus den vorangehenden Überlegungen wird deutlich, dass eine ernstzunehmende philosophische Debatte über Internationale Gerechtigkeit nur auf dem Boden einer rückhaltlosen Analyse der ökonomischen Situation der Weltwirtschaft69 und der ökologischen Situation unseres Planeten geführt werden kann. Ohne einen solchen Bezug zu den Praxisfeldern würde philosophische Reflexion bloße Fabulierkunst sein. Nietzsche hat diesen Irrweg nicht erfahrungsgebundener Spekulation in der kurzen Geschichte „Wie die Welt zur Fabel wurde“ parodiert und damit eine Kurzgeschichte des Platonismus geschrieben. Unsere Zeit setzt eindeutig materialistische Erklärungsmuster, wobei auch hier der Spielraum der Argumentation immens ist. Der materialistische Einschlag in die Debatte über Internationale Gerechtigkeit meint folgendes: Diesseits des Fabulösen stehen die Erfahrungsdaten über die frappierender Ungerechtigkeit in der weltweiten Wohlstandsverteilung, die stichhaltigen Prognosen zur Ressourcenverknappung angesichts ihrer Aufzehrung und damit einhergehend Vermutungen und Berechnungen über die Überlebenschancen der Menschengattung, in die auch die ansteigende Umweltbelastung als wichtiger Faktor einzubeziehen ist.

In diesen Problemfeldern gibt es unterschiedliche Gerechtigkeitsprobleme. Einerseits wirft das Wohlstandsgefälle zwischen industriell entwickelten und noch nicht entwickelten Ländern gegenwärtig ein ökonomisches und moralisches Gerechtigkeitsproblem auf. Hierfür werden von internationalen Organisationen und der Weltbank bis zu staatlichen und nicht-staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen Programme zur Entwicklungshilfe aufgestellt, welche die Angleichung der Lebensverhältnisse weltweit zum Ziel haben. Andererseits gibt es eine Diskussion über eine womöglich katastrophische Entwicklung des Weltklimas, der zufolge das Leben der Menschheit insgesamt auf dem Spiel steht. In diesem Zusammenhang muss es darum gehen, möglicherweise „gerechte“ Ansprüche noch nicht entwickelter Länder auf wirtschaftlichen Fortschritt, expandierendes Konsumverhalten und eine Angleichung der Lebensverhältnisse im Zeichen eines Überlebens zukünftiger Generationen zu begrenzen.

Die genannten Problemfelder stehen nicht im Einklang miteinander. Die Angleichung oder gar der Ausgleich der Lebensverhältnisse weltweit kann zu unkalkulierbaren Konsequenzen (z. B. bei den CO2-Emissionen) für das Weltklima führen. Maßnahmen zur Abwendung der ökologischen Katastrophe könnten implizieren, dass die noch nicht entwickelten Länder der Welt niemals das Entwicklungsniveau der Länder Europas und Nordamerikas erreichen werden. Hier einen Ausgleich anzustreben, würde bedeuten, dass Ungleichheiten der Lebensverhältnisse in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft in ein Berechnungsmodell übertragen werden müssen. Auf dem Weg zu Handlungsregeln Internationaler Gerechtigkeit müssten dann auf allen Zeitebenen die Fragen des Rechtsanspruchs- und Interessenausgleichs miteinander verrechnet werden – getragen von der Hoffnung, dass am Abschluss der Verhandlungen ein Konsens aller beteiligten Akteure gefunden wird.

Wie dieser Konsens material ausgefüllt sein könnte, das muss für die Praxisfelder im Einzelnen herausgearbeitet werden. In philosophischer und theologischer Perspektive kann nur über die Form des Konsenses zu Internationaler Gerechtigkeit, der den Interessen aller Beteiligten wie auch der Garantie des Weltfriedens und des Überlebens der Menschheit zugrunde liegt, nachgedacht werden. Abzugrenzen ist diese Fragestellung von einer existentiellen Zuspitzung des Problems, die den Gedanken radikaler Befristung der verbleibenden Zeit zur Lösung der Gerechtigkeitsfragen derart verabsolutiert, dass ein dezisionistisches Politikmodell alternativlos übrig bleibt. Dieses Modell präferiert im Zeichen der ökologischen Krise eine radikale politische Einigung, um die Entscheidungen treffen und durchsetzen zu können, die zur Abwendung der Krise notwendig sind. Das Resultat dieses Einigungsprozesses könnte ein Weltstaat sein, der wie der Leviathan alle souveräne Gewalt auf sich vereint, um den notwendigen Konsens zu ökonomischen und ökologischen Maßnahmen notfalls auch von den beteiligten Akteuren zu erzwingen. Nur wenige betrachten den Weltstaat als Ideal, der sich auf eine Legitimation durch alle Individuen der Welt stützt (z. B. Kai Nielsen, Emmerich Fritsche).70 Ein universaler Weltstaat würde jedoch die Grundsätze internationaler Gerechtigkeit per definitionem aufheben. Eine an den Prämissen der Aristotelischen wie der Kantischen Gerechtigkeitstheorien geschulte Philosophie sieht die Gefahrenmomente eines dezisionistischen Politikmodells, aber auch von theologischer Seite kann, wie der vorausgehende Abschnitt nahe legt, vor diesem Konzept nur dringend gewarnt werden.

Ob ein Weltstaat die Grundsätze Internationaler Gerechtigkeit in positives Recht übertragen oder sich durch sie gebunden sehen würde, muss eine offene Frage. Der Präzedenzfall im kleineren Modell, die Schaffung des frühneuzeitlichen souveränen Staates, der Gerechtigkeitsansprüche in Recht transformiert hat, stimmt eher skeptisch. Von seinen Voraussetzungen her, vor allem angesichts einer Präferenz für unbegründbare Entscheidungen bei gleichzeitiger Ächtung des Konsensverfahrens, widerspricht ein dezisionistisches Politikmodell den Grundgedanken Internationaler Gerechtigkeit.71 Alle ernstzunehmenden Denkansätze zur Internationalen Gerechtigkeit auf der Basis der Menschenrechtserklärungen, die ja auch der Zähmung der frühneuzeitlichen Souveränität dienten, halten am Konsensmodell fest. Das hängt mit der festen Überzeugung zusammen, dass in Zeiten der Globalisierung die Alternative zu einer ungesteuerten Einheit der Wirtschaftsgesellschaft nicht deren erzwungene Vereinigung in einem Weltstaat sein kann. Erzwungene Vereinigung huldigt fehlgeleiteten Entmündigungs- und Herstellbarkeitsphantasien für Internationale Gerechtigkeit.

Ihr widerspricht auch die christliche Theologie, die eine enge Anbindung des Gutes der Gerechtigkeit an das der Freiheit72 behauptet. Gerechte Verhältnisse sind durch sittliches Handeln bestimmte Verhältnisse. Sittliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass ich will, was ich soll. Und dass ich soll, was ich will. Handle ich nur so, wie ich will, ohne dass diesem Handeln ein Moment sittlicher Pflicht zugrunde liegen würde, handle ich nicht sittlich. Handle ich nur so, wie ich soll, ohne dass ich es eingesehen habe und will, ist das Handeln auch nicht sittlich. Die Einheit von Wollen und Sollen konstituiert sittliche Freiheit und Gerechtigkeit.73 Das ist eine gravierende Herausforderung bei der gemeinsamen Bemühung um gerechtere Lebensverhältnisse weltweit.

Der Denkansatz Internationaler Gerechtigkeit setzt auf die Überzeugungskraft guter Argumente, um eine Krisensituation zu bewältigen und dabei nicht die Standards der Menschenrechte – die Achtung der Menschenwürde und der unveräußerlichen Individualrechte – aufzugeben. Das konsensuale Modell Internationaler Gerechtigkeit baut auf die sittliche Kompetenz einzelner Individuen und ihrer Vereinigung zu Kollektiven (Volk bis Völkergemeinschaft). Diesen wird die Fähigkeit zugesprochen, durch rationale Verfahren und die Artikulation ihrer moralischen Überzeugungen Institutionen zu bilden, die als Formen eines Gesamtwillens aus der Kraft gemeinsamer Überzeugungen die Lösungsmodelle für die anstehenden sozialen und ökologischen Probleme gewinnen können.

Die normativen Voraussetzungen dieses Politikmodells sind durchaus anspruchsvoll, und sie lassen sich, wie Onora O’Neill es prägnant formulierte, auf drei Setzungen zurückführen: Einerseits muss die irreduzible Pluralität der Akteure als Bedingung einer Vielheit von Weltansichten und ihrer wechselseitigen Anerkennung vorausgesetzt sein. Hierzu muss das Bewusstsein der Akteure hinzu treten, dass sie Bewohner ein und derselben, unteilbaren Welt sind. Das zusammen ergibt aber erst einen guten Sinn, wenn bei den Akteuren die Einsicht in ihre gegenseitige Verletzbarkeit gegeben ist.74 Die Debatte über Internationale Gerechtigkeit lebt wesentlich davon, dass die entscheidende Wechselwirkung dieser Faktoren ernst genommen wird. Eine Einsicht in die Unteilbarkeit der Welt ohne die Sorge um die Verletzbarkeit Anderer und seiner selbst durch Andere bliebe nahezu wirkungslos. Nur wenn ich den Anderen als solchen anerkenne und ich mich durch ihn anerkannt weiß, wird mir seine Verletzbarkeit nicht gleichgültig sein. Dieser Einsicht korrespondieren Strukturmerkmale der Konzeption christlicher Nächstenliebe als Ausdrucksform von Gerechtigkeit.

Dabei müssen Selbstsein und Anderssein als Aspekte eines gemeinsamen In-der-Welt-Seins und aufeinander Angewiesenseins verstanden werden. So schließt sich ein Kreis der Argumentation und es bedarf keines apokalyptischen Gestus’, um die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf das Wohlergehen der gegenwärtig und zukünftig Anderen zu begründen.

III.5 Philosophisch-politische Theorien im Vergleich

Internationale Gerechtigkeit, so zeichnete sich ab, fordert ein konsensuales Modell politischen Handelns. Die Achtung der Menschenwürde und der unveräußerlichen Individualrechte ist nur plausibel zu vertreten, wenn zugleich auf die sittliche Kompetenz einzelner Individuen und ihrer Vereinigung zu Kollektiven gesetzt wird. Darüber hinaus bleibt allerdings weitgehend unklar, wie es von den Grundvoraussetzungen des Konsenses und dem Verfahren der Konsensfindung zu einer bindenden Verpflichtung im Völkerrecht kommt, von der eine wirksame Garantie der vereinbarten Handlungsziele ausgehen kann. Während innerhalb der jeweiligen Gesellschaften die moralischen und rechtlichen Normen durch die politische Ordnung und den Gesetzgeber reglementiert und garantiert werden, fehlt diese Sicherheit auf internationaler Ebene fast vollständig.75 Die lakonische Bemerkung Kants in seiner Schrift zum Ewigen Frieden, „noch ungewisser“ als internationale Regierungsmodelle aller Art sei „ein auf Statute nach Ministerplanen vorgeblich errichtetes Völkerrecht, welches in der Tat nur ein Wort ohne Sache“ sei, „und auf Verträgen“ beruhe, „die in demselben Akt ihrer Beschließung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten“76 , ist nur ein Indiz dieses Problems. Diese Geltungslücke besteht überall dort, wo die Destruktion des klassischen Naturrechts im ausgehenden 18. Jahrhundert für irreversibel gehalten wurde. Sie hat seit dieser Zeit eine ganze Reihe von Versuchen motiviert, diesen Mangel zu kompensieren.77 Dabei ist unbestritten, wie die vorangehende Darstellung zu belegen sucht, dass innerhalb der Tradition des Naturrechtsdenkens und des ihr nachfolgenden Menschenrechtsdiskurses das Problem von Begründung und Geltung moralischer Normen als Rechtsregeln unterhalb der Ebene des hypothetischen Weltstaates zu verhandeln ist.78

Auf dieser Zwischenebene – zwischen nationalstaatlicher und weltstaatlicher Lösung der Begründungs- und Geltungsfragen – liegt das Wirkungsfeld Internationaler Gerechtigkeit. Es ist ein Feld der Unwägbarkeiten, der Verhandlungen, des Ringens um Transparenz in ökonomischen, sozialen, politischen und sozialen Fragen und ist ein stetes Bemühen um Gestaltungsspielräume in einer globalisierten Welt. Gelingt es einzelnen Akteuren, Individuen oder Institutionen, Transparenz zu schaffen und Aufmerksamkeit in einer globalen Öffentlichkeit zu erregen, dann üben sie im besten Fall eine Korrektivfunktion aus, aber keinesfalls eine Steuerungsfunktion, noch gar verfügen sie über eine Ordnungsmacht. In einer verfassungsrechtlichen und philosophisch-politischen Perspektive, die vom Ordnungsdenken ausgeht, wird die aktuelle Situation der Weltpolitik mit ihren heterogenen Rechtssystemen, kulturellen Lebensformen, divergierenden Wertsystemen und Religionen bei gleichzeitiger Verflechtung zu einer globalen Wirtschafts- und Informationsgesellschaft, in ein verzerrtes Bild eingerückt – vor allem dann, wenn die Nähe zu Samuel Pufendorfs Bild vom „monstro simile“, das dieser zur Beschreibung der verfassungsrechtlichen Lage des deutschen Reiches nach dem Dreißigjährigen Krieg geprägt hat, gesucht und dieses nahezu mühelos auf die gegenwärtige Lage übertragen wird.

Die sich selbst als „realistisch“ apostrophierende Position von Morgenthau trennt die Partikularität von Wertüberzeugungen und -bindungen strikt vom Prozess wirtschaftlicher Globalisierung ab.79 Ihrer Auffassung nach wäre es eine gefährliche Illusion, die Möglichkeit globaler ethischer Standards einzukalkulieren, da hier eine Verlässlichkeit im politischen Handeln konstruiert wird, die es nicht gibt. In Anlehnung an Thomas Hobbes, den Urvater aller modernen politischen Philosophie, die sich das Wünschen versagt, halten sie am souveränen Nationalstaat als Hauptakteur interessegeleiteter Weltpolitik fest. Sie rechnen – mythologisch-philosophisch gesprochen – mit niemand anderem als dem alten Adam und der alten Eva80 . Allein der Nationalstaat geht ethische Verpflichtungen ein und bindet sich durch sie, solange diese seinen eigenen Interessen nicht widersprechen. Jenseits der Sphäre staatlicher Souveränität scheint jedes Vertrauen in den Anderen eine Chimäre zu sein.

Diesen Verdacht bekräftigt auch eine „partikularistische“ Position, die in der Nachfolge von Isaiah Berlin durch Michael Walzer und James Tully vertreten wird. Sie gehen von ethischen Standards in den jeweiligen sozialen Gemeinschaftsformen von der Familie bis zur Nation aus, koppeln diese zwar nicht an Staatlichkeit, leugnen aber auch die Existenz gemeinsamer Werte jenseits solcher Gemeinschaften. Dabei weisen sie staatlichen und auch internationalen Organisationen die Aufgabe zu, die weltweite Angleichung der Lebensverhältnisse zu befördern, um auf diese Weise ein Zusammenleben in friedlicher Ko-Existenz dauerhaft zu realisieren.81 Eine „nationalistische“ Option, der Will Kymlicka und Yael Tamir anhängen, verbindet den realistischen und partikularistischen Denkansatz und leugnet die Wirksamkeit moralischer und rechtlicher Handlungsregeln im internationalen Bereich vollständig.82 Ihrer Ansicht nach liegt der Ursprung moralischer Überzeugungen strikt innerhalb der jeweiligen Nationen, die sich dadurch fundamental voneinander unterscheiden. Was „internationale Politik“ genannt wird, das ist eine Politik des Misstrauens und führt im besten Fall, wie die reale Wirksamkeit internationaler Organisationen wie der UN zeigt, zur Hegung und Kontrolle unaufhebbarer kultureller Differenzen. Die vorgestellten drei politiktheoretischen Denkmodelle begreifen die Konzeption Internationaler Gerechtigkeit als ein hölzernes Eisen.

III.6 Der Horizont realistischer ethischer Standards

Der politische Liberalismus von John Rawls dagegen entwirft das positive Szenario einer internationalen Politik, die mit moralischen Konnotationen verknüpft ist. Nach Rawls gibt es keine universalen ethischen Standards, die durch Tradition entstanden oder naturgegeben sind. Diese Standards werden erst durch Übereinkunft zwischen Völkern und souveränen Staaten entwickelt. Das Ziel der Übereinkunft ist die Angleichung divergierender Wertevorstellungen und die Ausgleichung bestehender Ungleichheit zwischen Staaten respektive Völkern. Da Rawls Wertüberzeugungen und -bindung nicht als gegeben ansehen kann, muss er nachvollziehbar machen, dass dennoch wirksame Kriterien in einer bestehenden Gesellschaft und zwischen Gesellschaften durch Übereinkunft entstehen können, die es erlauben, eindeutig zwischen gerechten oder ungerechten Strukturen zu unterscheiden.83 Die Eindeutigkeit liegt auf der formalen Verfahrensseite einer vernünftigen und angemessenen Übereinkunft. Dies zeigt sich bei ihrer Entstehung und zwar gleichermaßen, ob es sich um eine Übereinkunft zwischen einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften selbst handelt: Gerecht ist nämlich eine Übereinkunft für die beteiligten Akteure dann, wenn sie einen gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten ermöglicht, in dem allen Akteuren die gleichen Grundrechte – Rawls nennt vorrangig die politische Freiheit, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, den Schutz des physischen Lebens, den Eigentumsschutz – zugesprochen werden. Gerechtigkeit ist hier nicht mehr als die formale Bedingung von Chancengleichheit, sie bleibt eine „kalte Tugend“. Rawls erklärtes Ziel ist es jedoch, gegen die faktische Ungleichheit in einer Gesellschaft – durch Natur, Zufall, Wettbewerb – einen Katalog von Maßnahmen zur Erreichung von Chancengleichheit durchzusetzen. Wie jeder Einzelne seine Chance nutzt, und ob ihm dafür überhaupt die materialen Bedingungen zur Verfügung stehen, darauf gibt seine Theorie der Gerechtigkeit allerdings keine Antwort.

In seiner letzten Veröffentlichung zum Thema über das Gesetz der Völker geht Rawls explizit auf die Fragen der internationalen Politik ein. Tatsächlich gibt es hier eine analoge Struktur, denn auch auf der Ebene der Staatengemeinschaft kehren die gleichen Probleme faktischer Ungleichheit und fehlender Chancengleichheit wieder. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Binnensphäre entstehen für die beteiligten Akteure aus einer Übereinkunft jedoch keine Rechtsansprüche, sondern lediglich – bei Rawls müsste man sagen: immerhin – Pflichten der internationalen Staatengemeinschaft, benachteiligte Gesellschaften im Aufbau gerechterer Verhältnisse zu unterstützen. Gemeint ist damit ein prozessuales Konzept Internationaler Gerechtigkeit, das zwar nicht von der Gegebenheit universaler Wertvorstellungen ausgeht, aber deren verfahrensmäßige Erzeugung durch wechselseitige Absichtserklärungen für denkbar hält. Hierdurch unterscheidet sich die Rawlsche Position deutlich von den partikularistischen Theorieansätzen seiner Kollegen, die einen politischen oder nationalen Liberalismus vertreten.

Ziel einer Politik der Internationalen Gerechtigkeit im Sinne von Rawls ist es, den Standard der Menschenrechte im globalen Maßstab, vor allem aber in den am meisten benachteiligten Ländern, anzuheben. Das alles geschieht gleichwohl auf einem Weg der Konsensfindung und -anreicherung innerhalb der Rahmenbedingungen einer Völkergemeinschaft, die sich aus souveränen Staaten zusammensetzt und sich in internationalen Organisationen auf der Grundlage des Völkerrechts zusammenschließt. Weil Rawls diesen Rahmen nicht überschreitet, findet bei ihm auch keine Entwicklung des Völkerrechts „von einem Recht der Staaten zu einem Recht der Menschheit“ statt.84

Das ist ein zentraler Punkt, der von einer „kosmopolitischen“ Option zum Thema Internationale Gerechtigkeit aufgegriffen wird. Diese Position wird von Peter Singer und Thomas Pogge vertreten, die in einer Hinsicht über Rawls, dessen liberalistische Wertgesichtspunkte sie weitgehend teilen, hinausgehen.85 Ihrer Auffassung nach können universale ethische Standards nicht erst ein Produkt von Übereinkunft sein, und sie können auch keinen bloß kulturellen und geschichtlichen Index haben. Der kosmopolitische Denkansatz vertritt die Ansicht, dass unsere Wertüberzeugungen universal sind, weil sie von jedem Menschen als denkendem und fühlendem Wesen geteilt werden. Es gibt ihrer Auffassung nach anthropologische Konstanten mit universalem Geltungsanspruch – so z. B. der Respekt vor der Würde des Mitmenschen, die Achtung seiner Rechtsansprüche, die Pflicht zur Hilfe für Notleidende – und diesen Konstanten gegenüber sind die kulturellen, sozialen und politischen Unterschiede nachgeordnet.86

Die kosmopolische Position formuliert die These, dass die fundamentalen menschlichen Rechte und Pflichten tatsächlich universal sind und nicht, wie bei Rawls, abhängig von geschichtlich bedingten, institutionellen Rahmenbedingungen. Behauptet wird damit ein Minimum an menschlicher Moralität, das als vorgegebene conditio humana Beziehungen zu anderen Menschen bestimmt. Menschen folgen ihren Zielen, die nicht nur der Selbsterhaltung unterworfen sind, sondern die auch das eigene Wohlergehen und das eigene Streben nach Vervollkommnung in der Beziehung zum Mitmenschen umfassen. Menschen gestehen – wie Thomas Scanlon es formuliert – anderen Menschen zu, das zu tun, was ihnen selbst gut tut. Dieses nicht von ungefähr an die „Goldene Regel“ erinnernde moralische Minimum ist nicht von der Existenz bestimmter Institutionen abhängig, „it governs our relations with everyone in the world” – so Thomas Nagel.87

Eine zweite, ebenfalls konstruktive Kritik an der Rawlschen Konzeption wird von dem Ökonomen Amartya Sen vorgebracht. Nach Sen kann es in der Debatte über Internationale Gerechtigkeit nicht nur um Ansprüche gehen, sondern es müssen auch die Verwirklichungschancen mitbedacht werden. Neben den elementaren Grundrechten muss jedem beteiligten Akteur auch ein notwendiges Minimum an Befähigungen, „capabilities“ – der Zugang zu Ressourcen und Kapital, zu medizinischer Versorgung, zu Ausbildung und zu beruflicher Stellung usw. – zugestanden werden, damit die Menschenrechte überhaupt genutzt und ihr Geltungsbereich entwickelt werden kann.88

Die Kritik an Rawls Konzeption zeigt, dass es in der Debatte über Internationale Gerechtigkeit keine Alternative zu einer liberalistischen, am konsensualen Verfahren orientierten Theorie gibt. Aber sie zeigt auch, dass die liberalistische Theorie auf Fundamenten basiert, die sie selbst weder theoretisch einholen noch praktisch garantieren kann. So bedarf es erstens der Vision einer globalisierten Welt als einer Einheit, um den Prozess der Verständigung und Annäherung gestalten zu können. Diese Vision hat die christliche Theologie immer wieder in aller Behutsamkeit, manchen apokalyptischen Aberrationen zum Trotz, formuliert. Zweitens muss es, damit diese Vision mehr als eine bloße Illusion ist, ein Minimum an moralischen Überzeugungen geben, wie den Respekt menschlicher Würde, die Achtung individueller Rechtsansprüche und die Akzeptanz von Regeln der Vertragstreue (pacta sunt servanda), die universal auf Anerkennung treffen können. Wenn dies nicht so wäre, dann verdampften alle theoretischen Überlegungen zum Thema Internationale Gerechtigkeit und wären praktisch wirkungslos. Und es müssen drittens auch die ökonomischen Bedingungen geschaffen und die ökologischen Bedingungen erhalten werden, die ein menschenwürdiges Leben weltweit ermöglichen.89 Auch diese Bedingung ist notwendig, um alle weiteren Überlegungen nicht ins Reich der Fabulierkunst verbannen zu müssen.

III.7 Zur Rehabilitierung utopischen Denkens

Die angeführten Prämissen korrelieren mit den O’Neillschen Bestimmungen Internationaler Gerechtigkeit. Tatsächlich bliebe das prozedurale und konsensuale Modell Internationaler Gerechtigkeit ein hölzernes Eisen, wenn nicht in ökonomischer und ökologischer Hinsicht die Voraussetzungen geschaffen werden, um die Pluralität der handelnden Akteure zu schützen. Dies ist unabtrennbar von einer wechselseitigen Anerkennung, die wiederum ohne das Streben nach einer Ermöglichung menschenwürdiger Lebensumstände wenig überzeugend wäre. Ebenso fundamental ist die Einsicht in die Unteilbarkeit einer gemeinsamen Welt und die – angesichts der weltweiten Verflechtungen sozialen und wirtschaftlichen Handelns – nie auszuschließende Verletzbarkeit jedes Einzelnen. Über diese Klüfte hinweg hilft den handelnden Akteuren, den einzelnen Individuen und den Institutionen internationaler Politik die Vision der einen Welt. Diese Vision setzt voraus, dass die Menschheit grundsätzlich zur Einigung befähigt ist (Minimum an universalen moralischen Überzeugungen), und dass der Prozess der Einigung zu einer Ausfaltung menschheitlicher Potentiale führen kann (Telos des Weltfriedens). Gewissheit gibt es hier für eine Philosophie nicht. Sie muss von einem utopischen Kern in der Debatte über Internationale Gerechtigkeit sprechen. Christliche Theologie wird demgegenüber geltend zu machen haben, dass dieser utopische Kern in der Glaubenseinsicht in die Bestimmung geschichtlicher Weltläufte einen Ort hat, einen Ort allerdings bei Gott, der zur Nachfolge und entsprechenden Gestaltung herausfordert.

Gewissheit über den positiven Ausgang von Handlungsbemühungen in Sachen Internationaler Gerechtigkeit kann es – weder für Theologen noch für Philosophen, aber auch nicht für die Vertreter anderer Wissensdisziplinen – schon deshalb nicht geben, weil zusätzlich zu den internen Faktoren, zu denen die Annahme einer universal verbreiteten moralischen Kompetenz gehört, auch eine kaum überschaubare Fülle von externen Faktoren zu zählen ist. Mit dieser immer nur partiell zu durchschauenden Komplexität (die nie restlose Durchschaubarkeit gilt ja übrigens auch schon für ein Staatswesen mittlerer Größe) ist jedoch nicht zu legitimieren, dass man darauf verzichtet, über ein möglichst rational begründetes, gerechteres Handeln und Gestalten weltweit nachzudenken. Nachdenken über solche Handlungsbemühungen führt in verschiedene Praxisfelder, in denen sich zeigen muss, ob das konsensuale und prozedurale Modell Internationaler Gerechtigkeit praxistauglich ist. Unbenommen von der notwendigen Überführung des Modells in das Feld internationaler Verflechtungen, von der Klimapolitik bis zur Bildungspolitik, ist die Notwendigkeit der Freilegung des utopischen – oder vorsichtiger gesprochen – des teleologisch regulativen Gehalts der hier skizzierten Debatte. Die Diskussion über Rawls Theorie der Gerechtigkeit und die Kritik an ihr hat gezeigt, dass trotz der Diskreditierung utopischen Denkens im zurückliegenden Jahrhundert die Gestaltung der Handlungsfelder internationaler Politik leitender Visionen bedarf. Wie auch schon bei Aristoteles die Gerechtigkeit keine kalte Tugend ist, weil sie die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben liefert, so steht auch die Internationale Gerechtigkeit sowohl im Zeichen einer weltweiten Angleichung der Lebensbedingungen als auch einer umfassenden Eröffnung von Chancengleichheit, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Dazu gehört heute neben der politischen Vision des Weltfriedens und der ökonomischen Vision weltweiten Wohlstandes auch die, in Anbetracht einer reflektierten Schöpfungslehre, auszuformulierende ökologische Vision einer globalen Lebenseinheit von Menschheit und Natur.

Internationale Gerechtigkeit wäre ohne diese Entwürfe größtmöglicher menschlicher Gestaltungsspielräume nur ein blutleeres Konstrukt. Sie ist aber im Horizont philosophischer Reflexion mit dieser Vision nicht identisch, sondern markiert ganz aristotelisch nur den Weg zum Ziel. In der Theologie hingegen ist der Weg zum Ziel eine die Gerechtigkeit ermöglichende Klugheit, wenn Klugheit im Sinne von Thomas von Aquin als Gebärerin aller anderen Kardinaltugenden begriffen wird.90 Dieser Weg führt durch die Mitte, zwischen Resignation angesichts weltweiter Krisenszenarien einerseits und Verblendung genährt durch illusionäre Träume andererseits.

Wer von Internationaler Gerechtigkeit handelt, der führt die theoretische Diskussion in die Praxisfelder, analysiert die dort zu erkennenden ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Problemlagen und begreift sie gleichwohl als Chancen für die Gestaltung eines guten Lebens für alle beteiligten Akteure. Das heißt, auch in der letzten Zuspitzung, im Gedanken einer radikalen Befristung menschlichen Gattungslebens im Hinblick auf eine drohende ökologische Krise, darf nicht die Einsicht verloren gehen oder verspielt werden, dass ein menschenwürdiges Leben immer auch ein gerechtes und gutes Leben bleiben muss. Keine Gefahr, wie groß sie auch erscheinen mag, rechtfertigt die Aufhebung des Respekts vor der Würde des Menschen und der Schutzgarantie für die unveräußerlichen Individualrechte.

IV. Die Aufgabe einer Bestimmung Internationaler Gerechtigkeit im Übergang zu den Praxisfeldern

Sollte die Debatte über Internationale Gerechtigkeit keinen utopischen Kern haben, dann ist sie in philosophischer Hinsicht nicht der Rede wert. Was der Philosoph einfordert, das ist dem Theologen allerdings noch zu wenig. Aber diese Spannung zwischen einem „noch nicht“ und „nicht genug“ ist produktiv, denn sie zeigt an, dass der theoretische Entwurf ohne eine entsprechende Praxis nicht das Papier wert ist, auf dem er geschrieben ist. Die eingeforderte Praxis ist dann diesseits aller Utopien – das ist die weltumstürzende Forderung christlicher Theologie – ein Aufruf zur menschlichen Gestaltung unserer Lebensverhältnisse, die mit der von Gott bereits realisierten, d. h. versöhnenden Gerechtigkeit im Rücken antreten darf. Das muss geschehen mit allem nur zu Verfügung stehenden ökonomischen Sachverstand, mit politischem Mut zu neuen völkerrechtlichen und transnationalen verwaltungsrechtlichen Modellen und eben auch politischer Phantasie. Es geht darum, gemeinsam an einer kommenden Welt zu arbeiten, so dass sich mehr und mehr zeigt, was doch eigentlich schon der Fall sein könnte.

Diese weltumstürzende Praxis darf die philosophische Skepsis und die Lehren aus einem falsch verstandenen „hic et nunc“ nicht aus den Augen verlieren. Nur in der wieder entdeckten Mitte, die den Rahmenbedingungen einer komplexen Güterordnung angemessen ist, und in der Bestimmungen wie Friede, Gerechtigkeit, Freiheit und Wahrheit zugleich prägend sind, können die Mittel des Politischen gerechtfertigt sein. Es gibt keine Rechtfertigung ungerechter Handlungen und Institutionen im Ausblick auf einen höheren Zweck. Keine schreiende Ungerechtigkeit kann im Ausblick auf eine kommende Gerechtigkeit im Hier und Jetzt gerechtfertigt werden; kein Umweg über „patently unjust and illegitimate global structures of power“ (Thomas Nagel) ist tolerierbar. Soll die evangelische Einsicht in die zentrale Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als Vermittlungsformen der christlichen Gerechtigkeitsbestimmung ernst genommen werden, kann auch eine Politik der Internationalen Gerechtigkeit niemals ohne eine Rechtsordnung, zugleich aber auch niemals durch eine das Gesetz verabsolutierende Rechtsordnung gestaltet werden. Gerade die unter dem Terminus „soft law“91 subsumierten Formen internationaler Rechtsgestaltung bilden strukturell eine bemerkenswerte säkulare Entsprechung zur Pointe der theologischen Unterscheidung von Evangelium und Gesetz. Sie haben zu zeigen, dass die Verbindlichkeitsformen der Bitte und der Selbstverpflichtung auf dem Parkett der Gerechtigkeit auch international auszutragen vermögen.

Kräfte wie Öffentlichkeit, zivilgesellschaftliche Institutionen, Kirchen und zivilcouragierte Individuen, die Gehör finden, sind Machtfaktoren, die neben Wirtschaftsinstitutionen und -organisationen und den Staaten zu nennen wären. Die so genannte dritte Kraft kann Einsichten formulieren, die verändern – evangelisch mit der Kraft der Geduld, der vehementen Bitte, des Appells, des Protestes, mit dem Hinweis, dass die guten Möglichkeiten, das Leben fairer und damit erträglicher gestalten, angeboten sind. Appell und Protest haben konstruktiv zu sein. Sie zielen auf den Konsens, ohne den es keine Internationale Gerechtigkeit gibt.

Es ist immer relativ leicht, den Prozess der Globalisierung zu kritisieren, allerorts Unrecht zu identifizieren und so das Ungerechtigkeitsgefühl mit Recht Alarm schlagen zu lassen. Anspruchsvoller ist es jedoch, Wege und Möglichkeiten im komplexen internationalen Beziehungsgefüge zu eruieren, die Aussicht darauf haben, wirksam Lebensbedingungen so zu verbessern, dass es am Ende nicht auf ein internationales Gerechtigkeitsnullsummenspiel hinausläuft.

Konkret geht es darum, in einzelnen Problemfeldern – von der Globalisierung wirtschaftlichen Handelns und des Handels mit natürlichen Ressourcen über die Verflechtung der internationalen Finanzmärkte und der transnationalen Wirtschaftsunternehmen so wie der universalen Organisationsformen des Rechts und der Politik bis zu den weltweiten Verflechtungen der Akteure in Politik, Religion und Kultur – die Voraussetzungen zu heben, um die zumeist akademisch verkürzte Debatte über die Prinzipien gerechten Handelns praxistauglich zu machen. Die große Schwierigkeit liegt nicht im kohärenten Aufbau eines Theoriegebäudes, sondern vielmehr in der überzeugenden Verflechtung von Gedankenexperiment und Gegenstandsbeschreibung. Hier zeigt sich, ob ein prononciertes Verlangen nach Gerechtigkeit sich erfolgreich am Widerstand einer nur partiell gerechten sozialen Wirklichkeit brechen kann, ob es sich als bloßes Wolkenkuckucksheim oder belastbares, die menschliche Lebenswirklichkeit erschließendes und gestaltendes Konzept erweist. Wie für jede Theorie, so gilt auch für die Theorieansätze Internationaler Gerechtigkeit eine Forderung des Praxisbezugs, die sicherlich für alle Zeiten am prägnantesten in einer Phrase zum Ausdruck kommt, die auf den britischen Historiker William Camden zurückgehen soll: „All the proofe of a pudding, is in the eating“.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn das Urteil hängt ganz entscheidend von der Rezeptur ab. Gelingende Praxis ist auch vom theoretischen Design abhängig. Gedankenlose Taten können nicht die Antwort auf eine Praxisschwäche der bekannten Theorien sein. Das gilt insbesondere deshalb, weil das Nachdenken über Internationale Gerechtigkeit sich, wie zu zeigen versucht wurde, aus dem Gerechtigkeitskonzept des christlichen Glaubens und der philosophischen Tradition geradezu zwingend ergibt. Es ist, das darf hinzugefügt werden, angesichts der neueren weltpolitischen Entwicklungen eine gleichsam wichtige und reizvolle Aufgabe. Mit dem Ende des Zeitalters der Ideologien ist das weltweite Zusammenleben zwar nicht konfliktärmer geworden, es ergeben sich jedoch neue Gestaltungsmöglichkeiten. Die höhere Freizügigkeit im Austausch – eben nicht nur auf ökonomischem Terrain, sondern im freien Spiel ganz anderer Kräfte, etwa dem des kulturellen Austauschs, der Verfahren des Völkerrechts, der Strukturen einer globalen Öffentlichkeit – hat Gewicht. Ein Tor, der diese Möglichkeit ausschlägt, klein redet und nicht überdenkt. Ein Schwärmer, der in ihr das Heil der Welt erblickt.

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