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Epiphanien, harte Konflikte und Figuren, die sich nicht unterkriegen lassen

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WOLKE 9 erzählt die Geschichte von Inge (Ursula Werner), einer Frau um die 70, die mit ihrem etwas älteren Mann Werner (Horst Rehberg) ein ausgeglichenes Rentnerleben führt, bis Inge den noch etwas älteren, aber agileren Karl (Horst Westphal) kennenlernt, mit dem sie eine Affäre beginnt. Sie verlässt schließlich nach inneren Konflikten und einem Streit Werner, der sehr unter der Trennung leidet, und zieht zu Karl. Als sich Inge und Werner etwas später bei einem Familienfest im Garten der Tochter (Steffi Kühnert) wieder treffen, scheint Werner sich mit der Situation abgefunden zu haben. Beide gehen anschließend noch ein Stück des Heimwegs zusammen und kramen in Erinnerungen. Kurz darauf erhält Inge bei Karl einen Anruf. Sie erfährt mit großer Bestürzung, dass Werner sich umgebracht hat.

Bei einer Diskussion zu diesem Film, 2014 an der Universität Zürich, fragte eine engagierte Teilnehmerin Andreas Dresen, warum er die Geschichte nicht mit dem versöhnlich erscheinenden Auseinandergehen nach dem Gartenfest hat enden lassen. Sie hätte sich das so sehr gewünscht. Er antwortete sinngemäß, Lebensentscheidungen wie diese hätten Konsequenzen, er habe keinen Kitsch produzieren wollen.


WOLKE 9: Ein Melo-Element – die gleichgültig vorbeiziehende S-Bahn im Sturzregen intensiviert im Äußeren Inges inneres Dilemma

Diese Antwort erscheint charakteristisch für die Art und Weise, wie Dresen in seinen Filmen mit Konflikten umgeht und mit den Figuren, die diese Konflikte austragen. Das lässt sich an WOLKE 9 gut beobachten. Obwohl die Erzählung des Films überwiegend Inge begleitet und sukzessive Verständnis für sie weckt, für ihr Begehren, auch für das dann von ihr gespürte Dilemma (denn Werner ist ihr nach langen, guten Jahren ihres gemeinsamen Lebens keinesfalls egal) und ihre ab einem gewissen Punkt fast von einem unausweichlichen Automatismus getriebene letztliche Entscheidung für Karl, wird alternierend auch Werners Perspektive ähnlich überzeugend vermittelt. Wir sehen und begreifen, welche Katastrophe die Trennung für den introvertierten Mann bedeutet. Wir fühlen mit Werner, als der Film ihn allein in der leblos gewordenen Wohnung aus einer sich im Film regelmäßig wiederholenden Perspektive des gleichen, nun aber unbelebten Raums zeigt und ahnen, dass es sich um einen existenziellen Konflikt handelt, aus dem es kaum einen guten Ausweg geben wird. Der Absturz ist dennoch brutal, gerade nach der Retardierung durch die Begegnung am Gartenfest. Die Verzweiflung Inges und die liebevollen, etwas hilflosen Gesten Karls entlassen uns – zerrissen, nun vor allem mit der überlebenden Inge und ihrem Schuldgefühl fühlend, aber auch mit etwas Hoffnung für diese beiden.

Deutlich wird: WOLKE 9 setzt keine der am Konflikt Beteiligten herab, hält sich von jeglichem Gut-Böse-Schema fern, ja erzeugt Verständnis für alle Hauptfiguren. Der Film besitzt, so gesehen, Züge einer klassischen Tragödie. Er macht es sich nicht leicht und bietet keine Konfliktauflösung nach Wunsch oder im Sinne eines intellektuellen Konzepts. Vielmehr führt er in echte Konflikte und menschliche Bewährungsproben hinein, deren Härte nicht zugedeckt werden soll. Im Gegenteil. Es geht darum, Konflikte ›durchzuarbeiten‹, die in ähnlicher Form auch mit jeder und jedem von uns vor der Leinwand zu tun haben. Man verlässt das Kino und wird das Dilemma nicht so leicht los, und doch entlässt der Film sein Publikum auch hier nicht ohne Hoffnung. Dresen liebt Figuren, die – wie schon die in HALBE TREPPE – sich nicht unterkriegen lassen, wieder aufstehen …

In dieser Hinsicht ähnelt WOLKE 9 auch dem drei Jahre später ins Kino gekommenen HALT AUF FREIER STRECKE. Dabei ist die Lage der Hauptfigur dort von Beginn an völlig ausweglos. Denn der Film beginnt gleich damit, dass Frank Lange (Milan Peschel) im Beisein seiner Frau Simone (Steffi Kühnert) von einem Arzt an einem CT-Bild seines Gehirns erklärt bekommt, er habe einen inoperablen Hirntumor, und auf Nachfrage: Er habe vielleicht noch ein paar Monate. Der Film zeigt uns nun unerbittlich die Stationen des Verfalls, beginnend mit dem Zustand, den Alltag aufrecht erhalten zu wollen und die Krankheit sowie erste Fehlleistungen nicht wahrzuhaben und zu verdrängen, über die Phase, noch einmal gute Erlebnisse mit der Familie zu haben, was dann an zunehmenden Verlusten von Erinnerungsvermögen und Orientierungsfähigkeiten sowie weiterer körperlicher und mentaler Funktionen scheitert. Zuletzt liegt Frank als schwerer Pflegefall im ersten Stock seines Hauses in einem Pflegebett und wird von Simone versorgt, unterstützt durch Pflegedienstkräfte und eine Palliativärztin. Hier stirbt Frank schließlich.

Verbunden mit dem schonungslosen Blick auf den Verfall bis hin zum Tode, wird aber auch erlebbar, mit wie viel gutem Willen die Familie ihm Zuwendung entgegenzubringen sucht und allen Fehlschlägen zum Trotz auch leistet. In einem Moment ergibt sich zwischen Simone und Frank noch einmal Sex, ein tragisch-schöner Augenblick. Wiederholt kommt es zu solch ›guten Szenen‹, so etwa das spontane Umräumen der Weihnachtstafel an Franks Bett. Zuvor aber gab es auch Szenen, die offenbar Franks Halluzinationen darstellen, für uns im Kino aber auf den ersten Blick irritierend wirken, so vor allem ein Talk-Show-Interview von Harald Schmidt (er selbst) mit einer Personifikation des Tumors (Thorsten Merten). Das Ganze erschließt sich nach und nach: Die Szene ist einerseits Ausdruck der psychischen Verfassung Franks, andererseits auch ein ironischer Blick auf das Talk-Show-Metier und ein gewollter bitter-komischer Bruch im filmischen Geschehen.


HALT AUF FREIER STRECKE: Der wiederkehrende Blick auf den Baum aus Richtung des Pflegebetts wird Zug um Zug sinnbildlich aufgeladen

Immer deutlicher zeigt sich dann aber, wie unsicher und zunehmend überfordert alle sind. Irgendwann sagt Simone in ihrer Erschöpfung sogar, sie wünsche sich inzwischen, dass er bald einschlafen möge. Vorsorglich rät ihr die angesprochene Palliativärztin davon ab, Frank in ein Hospiz zu geben. Es gehe auch darum, gibt sie zu bedenken, die Kinder erleben zu lassen, dass Sterben nicht nur schrecklich sein muss, darum, ihnen diese Erinnerung in ihr Leben mitzugeben. Der Dialog mit der Ärztin markiert im Film den dramaturgischen Punkt, an dem neben der Familie noch einmal die Schwester, der Vater (Otto Mellies, besonders berührend), die Freundin aus jungen Jahren, ein befreundeter Kollege am Bett erscheinen. Wir werden Zeugen vieler kleiner, teils hilfloser, aber echter und anrührender Gesten der Nähe, die eine gute Atmosphäre, einen Kokon menschlicher Wärme schaffen, die sich auf uns überträgt, bis Frank schließlich ruhig stirbt. Auch bei diesem Film kulminieren zum Schluss – vielleicht am stärksten von allen Filmen Dresens – Momente, in denen Trauer mit Hoffnung, und mit dem Mutmachen zum Weiterleben zusammengeht. Eine Art säkularer Epiphanie. Sie wird innerhalb der Handlungswelt, durch die von Frank noch selbst erwünschte und damit bedeutungsvoll hergestellte Raumanordnung von Krankenbett und Fensterblick, der einen ausladenden Baum rahmt, visuell-metaphorisch und dabei semantisch metamorph unterstützt.

Solche besonderen Ambivalenzen, die das Ironische und das Tragische mit menschlicher Nähe und einem Schuss Utopie verbinden, wobei alles letzthin auf genau beobachteter, in der Imagination der filmischen Welt aufgehobener Realität fußt – eine Melange, die so letzthin nur das Kino herzustellen vermag. Das ist es wohl, was den Dresen-Ton ausmacht.

FILM-KONZEPTE 64 - Andreas Dresen

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