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Vorwort

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Er las so, wie wir alle lesen: mit Lust oder gelangweilt. Und er schrieb und sprach darüber so, dass alle ihn lesen, alle ihm zuhören konnten. Kein Literaturkritiker vor ihm hat die Menschen so angesprochen wie er. Er betrieb Literaturkritik für alle, und es ist verblüffend, wie er, der Autodidakt, dabei den Ansprüchen an guten Journalismus und den Erwartungen des Medienpublikums gerecht wurde. Daran zu erinnern ist notwendiger denn je.

Der Journalismus steckt in einer Vertrauenskrise. Die Nachfrage nach sorgfältig recherchierter und überprüfter Information sinkt ebenso wie die Glaubwürdigkeit ihrer Vermittler. Umfragen zeigen, dass viele Menschen Journalisten eine systematische Falschberichterstattung unterstellen, dass sie ihnen und ihren Absichten nicht mehr trauen. Sie wenden sich ab von einer Medienelite, die sie als abgehoben und lebensfremd empfinden – und sie stimmen auf der Tastatur ihrer Smartphones und Laptops ab: Suchmaschinen scheinen mehr nützliche, lebensnahe und objektive Informationen zu bieten als die althergebrachten publizistischen Institutionen. Und sie erlauben zugleich den Rückzug in eine Meinungsblase, die schützt vor irritierenden Analysen und andersartigen Argumenten. Das böse Wort von der Lügenpresse ist im Umlauf. Es trifft auch das Feuilleton. Ohnehin stand dieses Ressort und standen seine Repräsentanten, die Kritiker, nie oben in der Gunst des Publikums. „Feuilleton“ wurde und wird vielfach gleichgesetzt mit Abgehobenheit, Bildungsjargon und Imponiergehabe, mit Dünkel und Abgrenzung vom Massengeschmack, aber auch mit Oberflächlichkeit, Geplapper und Anmaßung. Kulturblogs von jedermann im Internet dagegen, die zu den besonders nachgefragten Angeboten der Netzwelt gehören, lassen sich leicht nach eigenem Gusto zusammenstellen und zur Festigung des eigenen Weltbildes nutzen.

Vertrauensverlust ist nur durch Qualität zu begegnen. Qualität aber braucht Vorlagen und Vorbilder. Wenn der Journalismus die Menschen wieder von seiner Leistungsfähigkeit überzeugen will, dann muss er sich seiner Leistungen erst einmal selbst bewusst werden. Und wenn das Medienpublikum diese Leistungen erkennen und schätzen soll, dann kann es nützlich sein, sich auf die großen Kritiker im Feuilleton zu besinnen.

Marcel Reich-Ranicki war solch ein großer Kritiker, und er war ein großer Journalist. Daran soll dieser Essay erinnern. Er fragt nicht nach seinen ästhetischen Positionen und literarischen Idealen. Er fragt nur am Rande nach seinem schweren Schicksal, das Millionen Menschen berührt hat. Er liefert keine Charakterstudie, leuchtet nicht seine (gewiss vorhandenen) Abgründe und Eitelkeiten aus, und er delektiert nicht mit der Nacherzählung von Literaturskandalen. Aber er versucht zu umreißen, was unter gutem Kulturjournalismus zu verstehen ist. Und er sucht nach Argumenten und Belegen dafür, dass man diesen Literaturkritiker getrost ein Vorbild der Alltagspublizistik und des Feuilletons für alle nennen darf.

Obwohl man Marcel Reich-Ranicki gern und griffig als Literaturpapst einordnet, waren seine Werturteile keineswegs unfehlbar. Er irrte durchaus, und oft. Vorbildlich ist er weniger darin, was er über Literatur gewusst und gesagt hat. Vorbildlich ist, wie er es tat. Er hat das Feuilleton konsequent als journalistisches Ressort und nicht als Kunstagentur begriffen. Für ihn war klar: Auch dieser spezielle Journalismus ist für das Publikum da und nicht für die Künstler, für die Gemeinde und nicht für die Priester, für die Laien und nicht (nur) für die Experten.

„Reich-Ranicki und die Folgen I“ wirft Schlaglichter auf die Rezeption Marcel Reich-Ranickis und auf seinen ungewöhnlichen Aufstieg zum Publikumsliebling. „Im transparenten Haus der Literatur“ spürt seinen Lebensstationen nach, legt dabei allerdings einen Akzent auf die Herausbildung der Prinzipien seiner Literaturkritik. Was guten Kulturjournalismus ausmacht, fragt „Ein republikanisches Geschäft“. Das Kapitel bietet Belege dafür an, dass Reich-Ranicki professionell anerkannten Qualitätskriterien in besonderer Weise genügte. Ob man auch in der Medienumgebung von heute und morgen noch so arbeiten und Wirkung entfalten kann, wie diese Ausnahmegestalt es zu ihrer Zeit konnte, ist umstritten. Die Interviews mit einigen Feuilletonisten und Feuilletonistinnen im letzten Kapitel dieses Buches „Reich-Ranicki und die Folgen II“ zeugen davon. Aber eine Medienzukunft ohne Qualitätsstandards ist weder denkbar noch wünschenswert. Das Lebenswerk von Marcel Reich-Ranicki offenbart zumindest einige Gütekriterien, an denen sich das Medienpublikum und der Kulturjournalismus auch künftig orientieren könnten.

Gunter Reus Hannover, im August 2019
Marcel Reich-Ranicki

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