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3. Kapitel

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Peter Steinmann schloss den Räucherofen, den er mit feinem Räuchermehl und frisch geschlachteten Regenbogenforellen bestückt hatte. Am Abend würde er den Räucherfisch mit einer Auswahl an Salaten zu einer Familienfeier nach Michelstadt bringen. Die Salate standen schon fertig im Kühlschrank, sie mussten vor der Auslieferung nur noch mit frischen Kräutern dekoriert werden. Als er sich die Hände im Außenwaschbecken wusch, trat seine Frau Tina an seine Seite. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe.

»Ist was?«, wandte sich Peter Steinmann ihr zu.

»Spricht was dagegen, wenn ich bis drei, vier Uhr heute Nachmittag nicht hier bin?«

Peter trocknete sich die Hände an einem karierten Handtuch ab, das an einem Metallhaken neben dem Waschbecken hing. Er ließ seinen Blick über die Fischteiche schweifen, deren Oberflächen in der Frühlingssonne silbern glänzten. In den vom munter plätschernden Finkenbach gespeisten Wasserbecken tummelten sich Forellen, Saiblinge und Karpfen. Ein paar Teichhühner, die in den hinteren, für die Angelgäste nicht zugänglichen Uferbereichen ihre Nester angelegt hatten, zogen ihre Runden auf dem Wasser. In ein paar Wochen würden die ersten Küken schlüpfen. Eine Amsel machte mit dem typischen Reviergesang auf sich aufmerksam. Ansonsten war alles ruhig.

Peter Steinmann musterte seine Frau. Sie sah in den letzten Wochen blass und abgekämpft aus. Ihre braunen Mandelaugen, in die er sich als Erstes verliebt hatte, hatten ihren Glanz und ihren Optimismus verloren. Oft wirkte sie fahrig, war nicht wie früher hundertprozentig bei der Sache. Dabei ging die Saison für ihr Bistro und den erst im vergangenen Jahr eröffneten Wohnmobilstellplatz erst zu Ostern richtig los.

»Nein, kein Problem, wenn du dir ein paar Stunden freinimmst«, sagte er mit einem ermunternden Lächeln. »Ich komme schon allein klar.«

»Gut.« Tina Steinmann fischte ein Gummiband aus der Hosentasche hervor und fasste ihr schulterlanges dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Ich bin mit Charlie verabredet.«

»Geht ihr shoppen?«

»Nein, wandern.«

Peter Steinmann stutzte. »Ihr beide?«

»Charlie hat mich gerade angerufen. Sie will unbedingt was für ihre Fitness tun. Und mir …«, Tina blickte auf ihre stämmigen Beine, »tut ein bisschen Bewegung auch gut.«

Peter schloss seine Frau in die Arme und gab ihr einen langen Kuss. »Zieh du mit Charlie los, und ich kümmere mich um die Fische. Und nach der Auslieferung des Fischbuffets machen wir uns einen gemütlichen Abend. Ich stell schon mal eine Flasche Sekt in den Kühlschrank.«

Tina verzog den Mund zu einem Lächeln, doch ihre Augen blieben ernst. »Ich freu mich darauf!«, behauptete sie. Sie schnappte sich ihre Jacke und ließ den Motor des Geländewagens an.

Von der 30-minütigen Fahrt über die Raubacher Höhe hinunter bis nach Wald-Michelbach und vom Kreisverkehr auf der Kreidacher Höhe bis nach Siedelsbrunn bekam Tina Steinmann kaum etwas mit. Sie war tief in Gedanken versunken. Das anonyme Schreiben, das vor drei Wochen im Bistro gelandet war, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie hatte gehofft, dass sie mit ihrem fünfjährigen Aufenthalt in Australien, wo sie auf verschiedenen Ranches als Köchin gearbeitet hatte, alles hinter sich gelassen hätte. Mit der Vergangenheit abgeschlossen hätte. Der Brief bewies, dass dies nicht so war.

Tina, die wieder auf ihrer Unterlippe kaute, schmeckte Blut. Diejenigen, die sie damals mit dem Stoff versorgt hatten, hatten nichts vergessen. Oder vergeben. Sie würde für das, was sie getan hatte, bezahlen müssen. Tinas größte Sorge war, dass Peter davon erfahren würde. Er wusste nichts von diesem Lebensabschnitt, der so anders verlaufen war, als Tina es sich nach dem Abitur vorgestellt hatte.

Die kaufmännische Ausbildung, die sie auf Drängen ihrer Eltern absolviert hatte, war für sie ein Desaster gewesen. Tina war kein Zahlenmensch, hatte sich durch Mathe und Physik in der Schule stets durchgemogelt. In der Ausbildung war ihre Dyskalkulie mit aller Macht zutage gekommen. Ständig hatten ihre Vorgesetzten auf ihr herumgehackt, während sich ihre Kollegen über sie lustig machten. Um dem Druck standzuhalten, hatte Tina eine dumme wie gefährliche Entscheidung getroffen. Die letztendlich dazu geführt hatte, dass sie quasi über Nacht ihre Zelte im Odenwald abbrechen musste und auf den Kontinent geflüchtet war, der ihr damals am weitesten von ihrer Heimat entfernt vorkam. Bei ihrer Rückkehr hatte Tina nicht im Traum daran gedacht, dass die alten Geschichten bis in die Gegenwart überdauern würden. Der Brief hatte sie eines Besseren belehrt. Tina hatte nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Doch nach außen musste sie, wenigstens fürs Erste, den Schein wahren. So tun, als ob alles bestens wäre.

Als Tina den alten Subaru vom Atzeldoalhof auf dem Wanderparkplatz unterhalb des buddhistischen Klosters »Buddhas Weg« erblickte, ließ sie von der malträtierten Unterlippe ab und setzte ein Lächeln auf. Vielleicht würde es Charlie schaffen, sie für ein paar Stunden auf andere Gedanken zu bringen. Tina brachte ihren Geländewagen neben dem Subaru zum Stehen.

Charlie umarmte die Freundin aus Schultagen stürmisch. Sie hatte sie nach ihrer Rückkehr in den Odenwald vor einem Jahr wiedergetroffen und wäre beinahe in die Wohnung der Patentante von Tinas Mann Peter eingezogen. Doch dann hatte Charlie sich entschieden, auf dem Atzeldoalhof zu bleiben. Mit Tina traf sie sich seither regelmäßig. »Danke, dass du gekommen bist! Ohne dich würde ich bestimmt wieder kneifen.«

Tina warf einen Blick auf Charlies blauen Rucksack, an dem außen eine Wasserflasche befestigt war. »Du meinst das wirklich ernst?«

Charlie steckte sich eine Strähne ihres rotblonden Haars hinter das rechte Ohr. »Nach der Passform meiner Klamotten zu urteilen, habe ich nur die Wahl: entweder ab sofort Nulldiät oder mehr Bewegung, um die Kalorien abzuarbeiten.«

Tina musterte Charlies adrett in der Jeans sitzenden Po und verglich ihn insgeheim mit ihrer Hinterpartie. »Na, deine Probleme möcht ich haben!«

Charlie seufzte. »Ich kann Gertie doch nicht dauernd brüskieren! Die ist vorhin schon aus allen Wolken gefallen, als ich nach Knäckebrot gefragt habe. Aber wenn sie mich weiter so mästet, muss ich mir demnächst eine komplett neue Garderobe zulegen. Dazu habe ich weder das Geld noch die Zeit. Und außerdem hasse ich es, halb nackt in diesen engen Umkleidekabinen zu stehen, wo dauernd eine übereifrige Verkäuferin den Vorhang aufreißt.«

Tina grinste. »Versuch’s doch mal mit Zalando!«

Charlie schnaubte. »Um das Gelieferte vor der versammelten Herrenriege des Atzeldoalhofes zur Schau zu stellen? Never ever!«

»Tja«, Tina zuckte mit den Schultern. »Dann müssen wir uns wohl auf die Socken machen. Ich hatte insgeheim gehofft, dass ich dich dazu überreden könnte, es uns im Teehaus bei leckerem Cappuccino und Kuchen gutgehen zu lassen.«

Charlie blickte hinauf zum Gebäudekomplex der vormaligen Fachklinik am Hardberg, die Anfang 2010 von einer buddhistischen Klostergemeinschaft übernommen worden war. Die ehemaligen Klinikzimmer beherbergten seitdem nicht nur die Klostergemeinschaft aus Mönchen und Nonnen, sondern auch Gäste, die die im Seminarhaus angebotenen Workshops und Kurse besuchten. Das frühere Schwimmbad war zum Teehaus umgebaut worden. Charlie kam sichtlich ins Schwanken. »Ich war noch nie dort.«

»Der selbst gebackene Kuchen ist eine Wucht«, erwiderte Tina. Dann runzelte sie die Stirn. »Ich glaub aber, dass sie erst nachmittags aufmachen. Für die Teestube sind wir zu früh dran.«

»Schade.« Charlie schulterte ihren Rucksack.

»Ja.« Tina schaute sehnsüchtig zum Kloster hinauf. »Ein bisschen was im Magen würde mir guttun. Ich bin heute gar nicht dazu gekommen, etwas zu frühstücken. Erst habe ich Peter beim Schlachten geholfen und dann kam dein Anruf.«

»Oh Mann, das tut mir leid.« Charlie war aufrichtig zerknirscht. »Außer dem Wasser und einer Packung Kaugummi habe ich nichts eingepackt.« Plötzlich hellte sich ihr Gesichtsausdruck auf. »Hey, der Kiosk am Sportplatz hat bestimmt geöffnet! Von hier aus sind es nur ein paar Schritte.«

»Ja, aber dort hat es vor ein paar Wochen gebrannt. Stand in der Zeitung. Ein defektes Kabel hat hohen Sachschaden verursacht.«

»Das ist jetzt echt blöd.« Charlie zog einen Flunsch. »Ich möchte nicht schuld sein, dass du mir am Berg wegen Unterzuckerung aus den Latschen kippst.«

»Ach was, ich komme schon klar. Ist Intervallfasten nicht eh total angesagt?«

»Wie du meinst.« Charlie setzte sich in Bewegung.

Tina hastete hinter der Freundin her. Dann stoppte sie abrupt. »Warte mal! Mir ist gerade eingefallen, dass für die Zeit der Renovierungsarbeiten am Kiosk ein Imbisswagen aufgestellt wurde. Lass uns schauen, ob wir dort wenigstens ein paar Müsliriegel bekommen!«

»Was darf es denn sein, meine Damen?« Der Mann hinter der Verkaufstheke des Imbisswagens schenkte den beiden Freundinnen ein strahlendes Lächeln.

»Haben Sie Müsliriegel?« Charlie musterte die herzhaft-deftigen Auslagen der Kühltheke und die Bierschankanlage.

Das Lächeln des Mannes wurde noch eine Spur breiter, wodurch sich an den Mundwinkeln Grübchen bildeten. »Stehen Sie mehr auf gesundes Körnerfutter oder darf es was Leckeres sein? Ich habe Riegel mit Kokosflocken, Schoko-Trüffelkern und weißen Schokotropfen. Die schmelzen Ihnen auf der Zunge. Ein Gedicht!«

»Vier Stück davon«, sagte Tina wie aus der Pistole geschossen.

Charlie seufzte innerlich, blieb aber standhaft. »Ich hätte gern eine Packung Studentenfutter.«

Der Mann, dem Charlies Rucksack nicht entgangen war, nickte. »Eine gute Wahl für unterwegs. Die Trockenfrüchte und Nüsse verschaffen Ihnen den notwendigen Energieschub, ohne zu belasten.«

Charlie nahm die Packung entgegen und verstaute sie im Rucksack.

»Darf ich Ihnen sonst noch zu Diensten sein?«, fragte der Betreiber des Imbisswagens. Mit der Hand strich er sich den dunkelbraunen Pony zurück, der ihm immer wieder in die Augen fiel. Für einen Mann seines Alters hatte er erstaunlich volles Haar, dachte Charlie.

»Ich weiß nicht …« Tina kämpfte gegen ihren inneren Schweinehund.

Was dem Mann hinter der Verkaufstheke nicht entging. »Warum setzen Sie sich nicht an einen der Tische? Die Sonne scheint heute so herrlich! Ich bringe ihnen in Nullkommanichts eine Tasse Kaffee und eine meiner Spezialitäten: mit knusprigem Frühstücksspeck umhülltes Rührei. Die Eier dafür kommen von den glücklichen Hühnern meiner Nachbarin. Fleisch kaufe ich nur in Bioqualität. Und die Wildkräuter zum Würzen habe ich heute früh auf dem Weg hierher frisch gepflückt.«

Auf Tinas Gesicht machte sich ein verträumtes Lächeln breit.

Auch Charlie fand, dass die blau lackierten Bistrotische und -stühle sehr einladend aussahen. Die Keramiktöpfchen mit Lavendelpflanzen und die kleinen Windlichter versprühten französischen Charme. »Okay, dann zweimal glückliches Rührei vom Hardberg«, willigte Charlie ein.

»Kommt sofort!«, versicherte ihnen der Mann mit der großen, ein wenig altmodisch anmutenden Brille.

»Sie haben außer Butter noch frische Sahne an die Eier getan, nicht wahr?«, fragte Tina, als der Mann ihre blitzblank leer geputzten Teller abräumte.

»Ertappt!« Der Imbissbetreiber versuchte, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. Was ihm kläglich misslang.

»Nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch!«, rief Tina aus. »Ich wollte damit sagen, dass ich ein so perfektes Rührei lange nicht mehr gegessen habe. Die meisten rühren H-Milch oder, noch schlimmer, Kondensmilch unter die Eier.«

Der Mann legte seine rechte Hand auf die Brust. »So ein Gemansche gibt es bei mir nicht. Ich koche ehrlich. Mit frischen und natürlichen Zutaten.«

Charlies Gesichtsausdruck spiegelte Verwunderung wider. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es in einem provisorischen Imbisswagen so etwas Gutes zu essen gibt.«

»Mit dem Rührei können Sie sich für einen Stern im Guide Michelin bewerben«, stimmte Tina ihr zu.

»Ach nein.« Der Mann wirkte verlegen.

»Also wenn ich Testesser für einen Gourmetführer wäre – meine Empfehlung hätten Sie.« Tina strahlte den Imbissbetreiber an.

»Das ist nett.«

»Nein, ehrlich«, widersprach ihm Tina. »Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen.«

»Darf ich?« Der Mann zog mit der linken Hand einen weiteren Stuhl an den Tisch.

Charlie fiel auf, dass das oberste Glied seines Zeigefingers fehlte. »Ein Unfall?«, fragte sie mitfühlend.

»Berufsunfall«, erwiderte der Mann mit einem schiefen Grinsen. »Nach einer langen Nacht mit den Kumpels sollte man nicht mit einem rattenscharfen Santokumesser hantieren. Auch nicht als Koch.«

»Tut mir leid«, sagte Charlie.

»Ach was, ich komm gut ohne das fehlende Stück Finger klar«, sagte der Mann. »Aber ich passe jetzt besser auf.«

»Das ist gut.« Tina nickte. »Es wäre jammerschade, wenn Sie nicht mehr kochen könnten. Wie lange werden Sie mit Ihrem Imbisswagen noch hier sein?«

»Der Kiosk soll zum Beginn der Sommerferien wieder in Betrieb gehen. Vielleicht finde ich ja in der Nähe ein schönes Plätzchen, wo ich meine mobile Küche aufstellen und Sie kulinarisch verwöhnen darf.« Der Mann zwinkerte Tina zu.

»Ich hätte nichts dagegen.«

»Bevor mein Vertrag ausläuft, sollten Sie noch mal kommen und meine Wildschweinterrine kosten.«

»Das werde ich«, versprach Tina.

»Wie wäre es nächste Woche? Mögen Sie Trüffel?«

»Hm, ich liebe Trüffel.« Tina fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe.

Der Imbissbetreiber beugte sich zu Tina hinüber. »Für Sie rühre ich extra viel Trüffel unter.«

»So ein verlockendes Angebot kann ich kaum ausschlagen.«

»Das sollten Sie auch nicht.«

»Mal sehen, was sich machen lässt.« Tina klimperte mit den Wimpern.

Charlie griff demonstrativ nach ihrem Rucksack. Sie hatte genug von dem Spektakel, das Tina und der Imbissbetreiber gerade abzogen. Die beiden flirteten hemmungslos miteinander. So kannte Charlie ihre Freundin gar nicht! Vielleicht lag es an dem Kellerbier, das sich Tina anstelle des Kaffees zum Rührei bestellt hatte. Der Alkohol war ihr zur frühen Stunde in den Kopf gestiegen.

»Ich hätte gern noch einen Kaffee«, sagte Charlie mit Nachdruck.

»Natürlich, natürlich.« Der Mann stand widerwillig auf und ging mit den Tellern in Richtung des Imbisswagens.

»Alles in Ordnung?«, fragte Charlie ihre Freundin.

»Ja, mir geht es bestens!« Tina unterdrückte ein Rülpsen.

Als der Imbissbetreiber mit dem Kaffee zurück an den Tisch kam, gab Charlie die Tasse an ihre Freundin weiter. »Ich glaube, den kannst du jetzt gebrauchen. Ich bezahle.«

Odenwaldjagd

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