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4. Kapitel

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Zehn Minuten später stapften die beiden Frauen an der Minigolfanlage und an der Grillhütte vorbei den Abhang hoch. Oberhalb des Spielplatzes kamen sie schnaufend zum Stehen.

»Himmel!« Tina beugte sich vornüber, weil Seitenstechen sie zwickte. »Seit wann sind die Berge im Odenwald so hoch?«

»Wir sind noch nicht oben«, sagte Charlie schnaufend und warf einen Blick auf den rot-weiß lackierten Turm des Senders, der sich auf dem Bergrücken des knapp 600 Meter hohen Hardbergs gegen den blauen Frühlingshimmel abzeichnete.

»Wo ist eigentlich der Hund?«, wunderte sich Tina. Normalerweise war Rauhaardackel Willy bei Ausflügen stets an Charlies Seite.

»Der liegt wahrscheinlich auf Emelies Bett und schläft den Schlaf der Gerechten«, erwiderte Charlie.

»Würde mir auch gefallen«, brummte Tina.

Charlie beäugte die Weggabelung, die vor ihnen lag, und runzelte die Stirn. »Um nach Lichtenklingen zu kommen, können wir, wie geplant, den Wallfahrtsweg entlanglaufen. Der führt uns über die Stiefelhöhe als Rundwanderweg nach etwa zwölf Kilometern wieder zum Parkplatz zurück.«

»Zwölf Kilometer?« Tina verdrehte die Augen.

»Oder wir nehmen die Abkürzung, die oberhalb von Siedelsbrunn, an der ehemaligen Skipiste vorbei, parallel zum Eiterbachtal hinunterführt. Dann sind wir in einer guten halben Stunde an der Kapellenruine.«

»Hört sich viel besser an!« Tina nickte zustimmend. »Aber sag mal! Warum willst du unbedingt nach Lichten­klingen? Warum drehen wir nicht einfach eine Runde um das Kloster und sehen uns den Skulpturengarten an?«

»Ich habe Gertie versprochen, etwas von dem Lichten­klinger Brunnenwasser mitzubringen«, gestand Charlie. »Sie hat noch immer Schmerzen im Arm. Den hat sie sich doch im Herbst beim Apfelpflücken gebrochen. Der Legende nach soll das Wasser heilende Wirkung haben.«

»Also gut, packen wir’s!« Tina atmete tief durch. »Wo geht’s lang?«

Charlie schaute auf ihr Handy, wo sie Google Maps aktiviert hatte. »Hier über die Kuppe und dann schräg nach unten.«

Da der Weg stetig bergab führte, kamen sie zügig voran. Bis auf einen grün lackierten Renault Kangoo mit der weißen Aufschrift OdenwaldForst, der ihnen vom Tal aus entgegenkam, waren sie allein im Wald. Doch sie hatten keine Angst. Die Vögel zwitscherten und die Sonne wärmte ihnen den Rücken. Ein verblasstes Holzschild an einer Buche und ein grünes Infoschild an der letzten Abzweigung wiesen ihnen den Weg.

»Ich glaub, ich war seit unserem Schulausflug in der Grundschule nicht mehr hier«, meinte Tina, als die Mauerreste der einstigen Kapelle Lichtenklingen vor ihnen auftauchten.

»Ich kann mich nur daran erinnern, dass wir unten auf der Wiese am Parkplatz Bockwürstchen am Stock gegrillt haben«, musste Charlie eingestehen. »Und dass Benjamin mit der dicken Hornbrille hinterher in den Bach gekotzt hat, weil er zu viele Würstchen verdrückt hatte. Seitdem ist mir der Eiterbach noch weniger sympathisch.«

Tina schritt die flachen Stufen hinab, die zu der in Sandstein gefassten, mit einem Lauftrog versehenen Quelle führten. »Wenn ich mich recht entsinne, hat der Name des Baches nichts mit Eiter im eigentlichen Sinn zu tun. Geht er nicht auf keltische Wurzeln zurück?«

»Keine Ahnung.« Charlie ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Sie beugte sich hinunter zum Wasserstrahl, der aus einem in einer Sandsteinsäule verankerten Hahn in den Trog plätscherte. Die von Moos und Flechten besetzte Säule zierte oben ein Pinienzapfen, unterhalb waren Blütenblätter und Rosetten in den Stein gemeißelt. Das Wasser schmeckte kalt und klar.

Tina ließ ihren Blick über das sanft abfallende Tal gleiten, das im ersten Frühlingsgrün erstrahlte. Ein Bussard zog am wolkenlosen Himmel seine Runden. »Alles wirkt so friedlich hier.«

»Na, ich weiß nicht.« Charlie holte die mitgebrachten leeren Plastikflaschen aus dem Rucksack hervor und füllte sie mit Quellwasser. »Die leer stehende Försterei und die Kapellenruine haben schon eine eigene Stimmung.«

»Hast du etwa Angst vor der geheimnisvollen weißen Frau, die hier nachts spuken soll?«, neckte Tina sie.

Charlie machte einen Satz zur Seite, weil eine Waldameise ihr über den Handrücken krabbelte. Die Wasserflasche, die sie in der Hand hielt, schwappte über und ein Teil des Wassers ergoss sich auf Charlies Hose. »Mist!«, fluchte sie und starrte auf ihr feuchtes Hosenbein. »Die Frau in Weiß lässt mich kalt, aber diese Viecher hier im Wald nicht. Die können ganz gemein stechen!«

»Beißen«, korrigierte Tina. »Waldameisen beißen.«

»Klugscheißerin!«, brummte Charlie und verstaute die Wasserflaschen im Rucksack.

»Wollen wir uns die Ruine anschauen?«, schlug Tina vor.

»Wenn wir eh schon hier sind«, erwiderte Charlie mit wenig Begeisterung in der Stimme.

Sie folgte der Freundin, die hinter dem alten Forsthaus an der grau verputzten Hauswand in Richtung der Kapelle lief. Die Mauerreste des vermutlich im 11. Jahrhundert erbauten und nach der Reformation dem Verfall preisgegebenen Marienheiligtums waren dank der Renovierungsarbeiten im frühen 20. Jahrhundert gut erhalten. Der einschiffige rechteckige Sakralbau, der quadratische Chor und die Sakristei ließen erahnen, wie sich die Kapelle vor vielen, vielen Jahren den Gläubigen präsentiert hatte. Von einem mit einem Holzrahmen eingefassten, im Laufe der Jahre verblassten Farbdruck lächelte das Antlitz der Muttergottes auf die beiden Frauen hinunter. An der hoch aufragenden Außenwand des Altarraums hing eine schmale hölzerne Marienfigur. Besucher hatten Kerzen, Windlichter, Engelsfiguren, hübsch geformte Steine und andere Devotionalien in der Fensternische des Altarraums hinterlassen. Der rechteckige Altarstein war mit frischem Birken- und Haselgrün sowie Fichtenzapfen geschmückt. In einem großen Weckglas, das als Vase diente, befand sich ein Blumenarrangement aus weißen Tulpen, Ranunkeln und Schleierkraut. Eine große weiße Blockkerze thronte daneben, war aber in der milden Frühlingsbrise erloschen. Der Fuß des Altarsteins war in weißem Baumwollmusselin eingeschlagen, die Stoffenden waren zu einer Schleife geformt. Weiße Rosenblüten lagen wie große Schneeflocken um den Altarstein verstreut.

Erst jetzt bemerkte Charlie die weißen Fähnchen, die von den herunterhängenden Ästen der an die Kapellenruine angrenzenden Kiefern und Buchen flatterten. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft.

»Riechst du das auch?«, wollte Charlie von ihrer Freundin wissen und hielt die Stupsnase in die Höhe.

Tina schnupperte. »Riecht für mich nach Weihrauch. Und vielleicht nach Myrrhe und Sandelholz. So ein archaischer Geruch.«

»Werden hier noch Gottesdienste abgehalten?«, wunderte sich Charlie.

»Offiziell nicht«, erwiderte Tina. »Es gibt nur die Muttergottes-Wallfahrt im August, zu der Gläubige von Siedelsbrunn aus hierherpilgern.«

»Bisschen früh dafür«, meinte Charlie.

Tina zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich nutzen viele die Kapelle, um ein kurzes Gebet zu sprechen oder um Maria um einen Gefallen zu bitten.«

»Bitte, bitte auf der Stelle zehn Kilo weniger auf der Waage!« Das konnte sich Charlie nicht verkneifen.

»Um solche profanen Wünsche kümmert sich Maria nicht«, behauptete Tina.

Charlie ließ nochmals den Blick über den Altarraum schweifen. Obwohl die Blumen, das viele Schnittgrün, die Kerze und die Fähnchen eine friedliche Stimmung hätten erzeugen sollen, war ihr doch unwohl. Im Wald krächzte ein Kolkrabe. Charlie zuckte zusammen. Kündigte der Vogel weitere Besucher oder Wanderer an? Oder war es eine Warnung? Charlie rückte den mit den schweren Flaschen gefüllten Rucksack in eine bequemere Position und rieb sich die Unterarme, die mit Gänsehaut überzogen waren. »Komm, lass uns gehen!«, bat sie.

Die beiden Freundinnen schritten am Altarstein vorbei und traten durch die Maueröffnung. Zuerst erblickten sie nur ein Paar nackte Füße mit blutrot lackierten Zehennägeln, die hinter dem Mauerrest hervorlugten. Dann sahen sie die ganze Frau, die lang ausgestreckt in der ehemaligen Sakristei lag.

»Hallo!«, sagte Charlie leise und kam sich sofort ziemlich dämlich vor.

Die Frau blieb stumm. Sie trug ein weißes, hoch aufgeschlossenes und bis zum Hals reichendes Kleid, dessen Ärmel und Saum mit feiner Spitze besetzt waren. Die Hände mit den langen grazilen Fingern hielt sie wie zum Gebet gefaltet. Auf ihrer Brust lag eine weiße Rose. Das dunkelbraune, schulterlange Haar war mit einer Blütenkrone aus weißen Kamelien geschmückt. Die Lippen der Frau trugen die gleiche Farbe wie ihre Zehen- und Fingernägel.

»Lieber Gott!«, presste Charlie zwischen bebenden Lippen hervor.

»Ist sie tot?«, flüsterte Tina.

Charlie legte den Rucksack ab, ging in die Hocke und führte die Spitzen von Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader. Die Haut fühlte sich trocken und kalt an. »Kein Puls mehr«, murmelte sie. An der Kragenspitze bemerkte sie leichte rötliche Verfärbungen. In Charlies Fingern juckte es, den Kragen nach unten zu schieben und nach der Ursache zu suchen. Doch sie wusste, dass sie auf diese Weise wertvolle Spuren zerstören würde. Langsam kam Charlie wieder auf die Beine. Dabei berührte ihr linker Fuß unabsichtlich den Kopf der Toten. Einer der beiden weißen, glatt polierten Kieselsteine, die auf den Augen der Toten lagen, rollte zur Seite und gab den Blick frei auf eine leere Augenhöhle, die sich anklagend zum Himmel richtete. Dort zogen erste Wolken von Westen auf.

Charlie unterdrückte die aufsteigende Übelkeit, wandte sich von der Toten ab und griff nach dem Handy. Gunter Haase meldete sich beim dritten Klingelton.

»Tina und ich, wir sind hier in Lichtenklingen gerade über eine weibliche Leiche gestolpert«, informierte Charlie den Hauptkommissar.

»Das ist jetzt nicht wahr, Bobbelsche?« Gunter Haase wischte sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn. Vor Charlies Anruf hatte er den 27. Holzpflock in Folge in die steinharte Odenwälder Erde gerammt.

»Ich befürchte doch«, sagte Charlie. »Am besten, du bringst gleich das ganz große Besteck mit.«

Odenwaldjagd

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