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5. Gesang: All things must pass. Love, Devotion, Surrender.

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Ein Wolljackett mit Hahnentritt. Um 6.44 Uhr nach Nordstadt, der Pendler- und Gymnasiastenbus. Erster Tag. Ablage. Geht so. Zweiter Tag. Geht schon weniger. Dritter Tag. Geht nicht, und ich nicht mehr hin. Jede kurze Nacht ein Ruhrstadt-Traum. Zum Glück auch abends noch Badewetter, nur leider nicht für Hans. Der einzige, der in Frage kam, war ein kleiner Pummeliger; den kannte ich noch aus Konfirmandentagen. Im Becken hin und wieder an seiner Badehose gezupft. Mittels Augenkontakt alles klargemacht, also raus und Richtung Umkleideraum. Wir waren schon in der Klokabine, da sollt ich ihm erst mal ein Bier spendieren, ein Bier für eine Mark. Dann eben nicht.

Einzeltitel: All the young dudes, Ensemble: Mott the Hoople. So sinnlich, ja, man kann sagen, so schwul, wie ich's bislang nur von Bowie kannte, und so war es dann ja auch. Das Poster aus London direkt überm Bett: Netzstrümpfe, Minirock, Akustikgitarre. Wäre es das gewesen, wo er Mick Ronsons Saiten leckt... Im Grunde konnte er sonstwas lecken; ich war sechzehn, da fahren andere Moped, gehn in die Disco, schleppen Mädels an und ab, besaufen sich, und ich...

Der Abschlußball mit Live-Ensemble; die Klassenfete im Herbst '71 mit Schallplatten war um Längen besser. Eine deutsche, fast Porno-Version von "Je t'aime", und die Schüler lachten, die Eltern lachten, die Lehrer, selbst Rektor Lüders lachte, geschlagen mit einem Ford 15 M und seit kurzem noch mit der 9 A.

Meine Eltern blieben den Feten fern. Irgendwann in diesen Jahren, und das ohne besonderen Grund, fielen entsprechende Anreden weg. Auf Geburtstagskarten und Muttertagskarten schreibe ich "Liebe Mutter"; jetzt wieder Anreden einzuführen, wäre irgendwie peinlich, gekünstelt.

Berufsschule statt Realschule. Statt Postbus am Mittag Bahnbus am Abend, ausnahmslos die Sechziger-Busse mit dem besagten Heckflossenhauch. "Auch wenn Sie immer nicken, kriegen Sie eine Sechs, wenn Sie nicht..." – Der Buchführungslehrer, und gleichsam die Summe all dessen, was mir Nacht für Nacht von den Schrecken der Ruhrstädter Volksschule träumte. In – BWL? – ein recht sympathischer Sozialdemokrat. Zwei oder drei aus meiner Realschulklasse; die fanden das alles völlig normal, Lehrjahre sind keine Herrenjahre.

Vermutlich mit Beginn des neuen Schuljahrs konnte ich in Norddorf dem Arbeiterpostbusgedränge entrinnen und in einen Reiseschulbus umsteigen, wohl vornehmlich für die Oberschüler. "Bauer, dein Feind ist der Kapitalismus! KPD/etc. für Sozialismus": ein Scheunentorspruch auf dieser Strecke. "Aladdin Sane": You look at your watch, it says nine twenty-five, and you think oh God I'm still alive. Nicht unbedingt Bowies Meisterwerk, hart, für meinen Geschmack zu hart, doch gerade das den Umständen angemessen im Gegensatz zum sinnlichen "All the young dudes".

Lou Reeds "Walk on the wild side", von Bowie und Mick Ronson produziert. Das riecht noch heute nach Sommer '73, nach Bautenschutzmitteln und Estrichasphalt. Der wurde in schwarzen Kesseln zu den Kunden transportiert; wenn die Kleinlaster mit diesen Anhängern dran mein Klapprad überholten, sahen sie wie rückwärts fahrende Dampfloks aus, und ich fragte mich stets, was das wohl sei; im Ringlokschuppen auf dem Weg zum Bahnhof zumindest bis '74 noch rückwärts eingestellte Tenderloks.

Die Transitstrecke wurde Anfang September gesperrt für den "zivilen Durchgangsverkehr", an der Schranke anfangs ein Wachmann. Als sie diesen wieder abgezogen hatten, bin ich mit meinem Vater dann doch noch mal ins nun verbotene Pilzparadies. Eine Militärstreife hielt uns an; mein Vater grüßte soldatisch korrekt mit seinem letzten Dienstgrad Oberleutnant der Kriegsmarine, was der Streife sichtlich imponierte. Den "Platz" verlassen mußten wir trotzdem.

- "Goodbye yellow brick road, back to the howling old owl in the woods, hunting the horny back toad"… eine Eule ist mir in den Wendbergen leider kein einziges Mal begegnet, was wiederum gut für die Kröten war, und "horny" war ich selber. Und doch: This boy is too young to be singing the blues. Und, da wir grad bei den Kröten waren, auch keine für Elton Johns neue Doppel-LP, Geld kam ja schließlich erst Ende des Monats, 275 DM brutto im ersten Lehrjahr, und auch nicht Paul Simons zweite Solo-LP; die brachte im Norddorfer Reiseschulbus ein Oberschüler seinen Schulfreunden mit. – Oberschüler. Die haben Kultur, die haben Niveau, die duschen vermutlich sogar jeden Morgen, man sah es schon an der Brille des Gymnasiasten mit der Paul-Simon-LP: keines jetzt dieser modernen Gestelle mit dem Piloten-Doppelbügel; silbern zwar, doch mit einem Bügel. Seit langem schon stach mir ein solches ins Auge; ich ließ mir vom Augenarzt Gläser verschreiben und kaufte mir das begehrte Stück, soweit ich noch weiß, um die 40 Mark, die Gläser leicht getönt. Paul Simon hätte mich warnen können: "I don't know a dream that's not been shattered or driven to its knees". Schon nach wenigen Wochen, vielleicht schon nach Tagen, wirkte es nur noch billig, ja, blechern, auch hier kein Vergleich zu den edlen Gestellen der Norddorfer Reisebus-Elite. – Doch ob nun mit oder ohne Brille, mit zwei oder nur mit einem Bügel: "you can't be forever blessed"; das stand im Herbst '73 mit oder ohne Paul Simon fest. Und so suchte ich nicht mal den Blickkontakt; was sollten die für Interesse haben an einem simplen Kaufmannslehrling, zudem noch mit diesem Gestell?...

Eine alte Gubener Freundin meiner Mutter, die ich dort '63 noch kennenlernen durfte, hatte mir zum achten Geburtstag ein Tagebuch geschenkt, ein Tagebuch mit Schloß und Schlüssel. Ein Junge hat seine Geheimnisse, und vor allem: er darf sie haben. Meine waren so geheim, daß ich irgendwann die Ränder mit Uhu bestrich.

Kann sein, daß der Herbstmarkt auch '73 noch über mehrere Tage ging. Das entscheidende Datum ist der Donnerstag, kurzum, der 4. Oktober. – Bowie. Let's spend the night together. Dazu(?) "onaniert", am Herbstmarktabend, und laut Urtagebuch "sehr erhitzt" danach. Den oktoberkühlen Gesundheitstrunk, Möhre plus Rote Bete, in wenigen Zügen hinuntergestürzt. Sogleich eine leichte Übelkeit, begleitet von leichtem Schüttelfrost. Und doch, so schnell, wie's gekommen war, ging's auch wieder vorüber, und ich gegen acht auf den Markt.

- "Ich genoß einen Abend flüchtigen Glücks und voller schöner Illusionen. Es gab, wie im Vorjahr, wieder eine Schlägerei. Es war alles sehr primitiv." Es wurde übel mit der Übelkeit. Ich mußte mich abkühlen, ruhiger werden, ging rüber in den Park. Doch es wurde nicht besser, im Gegenteil, es steigerte sich zu einer Panikattacke mit starkem Zittern und Atemnot, samt der Übelkeit also zu nicht weniger als den typischen Vorboten eines Herzinfarkts, dem Gleichwert, ja, vor allem doch für die "Onanie": erhöhter Puls durch Sport oder körperliche Arbeit, das war ohne Frage gesund, das brachte den gesamten Kreislauf im Schwung, doch Herzschlag 120 oder höher im Liegen und bei eben diesem Tun, das konnte ja nur schädlich sein, von den sündigen, weil vorzugsweise homosexuellen Gedanken hierbei erst gar nicht zu reden. Und so "gelobte (ich) dem Herrn, mich zu bessern. Heute kam mir die GROSSE ERLEUCHTUNG, daß alles Irdische vergänglich und schlecht ist, und das nur das Geistige zum Heil führt. Ab jetzt begann mein großer Kampf gegen das Böse, den ich aber meistens verlor."

Ich beruhigte mich nach dem Gelöbnis rasch und ging zurück zum Markt. Der, der mich anfangs zum Schulbus begleitete, griff mir mit einem seiner Brüder lachend am Rande der Autoscooter von hinten zwischen die Beine. Im Normalfall nur ein Bubenstreich und folglich keine Aufforderung; das aber nicht überprüft zu haben... ich tadelte sie und scheuchte sie fort.

Der Jom-Kippur-Krieg. Kommt also doch schon jetzt die Wende, das Ende dieser alten Welt? Die befand sich wohl tatsächlich an der Schwelle zum Atomkrieg, das aber nicht zum ersten Mal. "Ich mußte das Warten lernen."

- Oder eigentlich nur, die Schriften Freytags mit der gebotenen Sorgfalt zu lesen: Das Ende der alten, sündigen Welt ist nicht Unter- , sondern Übergang; zwar werden sich in den letzten Tagen Kriege und Katastrophen häufen, doch wird diese Drangsal die Menschenfreunde immer populärer machen, und schließlich wird ihr Weltallgesetz in vielen Ländern zum Staatsgesetz. Dann aber ist das Königreich Gottes auf Erden in greifbare Nähe gerückt; die "Raf" sah das alles, so denke ich mal, vom Prinzip her nicht wesentlich anders.

- Die "Kinder Gottes" mit ihren "Holy Holes"... auch in Nordstadt verteilten sie ihre Traktate, doch eine wirkliche Alternative... nein, das war eine Sekte, allein schon wegen der Sexgeschichten. Ein religiöser Hippie, ohne Sex, ohne Drogen, doch nach Möglichkeit ohne die Kurzhaarfrisur von Mahavishnu John McLaughlin... vielleicht sollte man sich nach Sikkim begeben, dort auf das Ende der Welt zu warten. Und doch war ich von der Verträglichkeit (verwestlichter) östlicher Religion mit der Menschheitsbotschaft des Sendboten Freytag nicht wirklich überzeugt, obgleich ich auf der anderen Seite dessen Worte im Andachtsbuch "Himmelstau" nicht selten gar "schockierend" fand. Doch wie ich mich auch entscheiden sollte – es konnte so oder so nichts dran ändern, "daß die alte Zeit vorbei". – Und Nostalgie ja ohnehin der Trend im Herbst '73, wenngleich auch der meinen, wie die Klugschwätzer sagen, "diametral entgegengesetzt"...

- Der Sturm: kein Vergleich zum Vorjahrsorkan, und die "Welt" fegte der nun schon gar nicht hinweg. "Ich meditierte bei Bier und Uriah Heep bei Schummerbeleuchtung." – Eine Flasche, mit Mühen. Ich studierte den "Island"-LP-Katalog, auch musikalisch ernster zu werden. Ernsthafter noch als John McLaughlin konnten aber höchstens noch King Crimson sein, die Band mit dem neuen Island-Album "Lerchenzungen in Aspik"...

Dezember '73, die Ölkrise. Die Zeiten hätten sich geändert, sagte mir der Juniorchef, Lehrlinge finde er überall, ich könne jederzeit gehen. In meinen finstersten Gedanken schlich ich mich ins Chefbüro, am Tischfeuerzeug den Flammenregler bis zum Anschlag hochzuschrauben, dem Tischfeuerzeug aus Jaspisstein.

Wieder nervöse Herzbeschwerden; im Wartezimmer des Nordstädter Arztes Schriften der Zeugen Jehovas und "Das Beste aus Reader's Digest", im Doppel womöglich billiger. Zeuge war der Arzt wohl kaum, trug er doch Koteletten. "Club of Rome", die "Grenzen des Wachstums" zugunsten des "Wachtturms", das ganze Akademikervolk bekam das ja gar nicht mit. Auch das linke Spektrum jetzt sektenhafter; meine K-Gruppe wurde die Kirche.

Im Wartezimmer auch die "Neue Revue", Ahnherrin aller Law-&-Titten-Magazine. Ein Leitartikel von Kurt Biedenkopf und somit ein weiterer Beweis für die Gottlosigkeit der CDU. Ein gutes Ergebnis beim "Mensa"-IQ-Test im Wartezimmer-"Reader's-Digest"-Heft. Nur daß eine eckige BMW-Doppelniere allen Ernstes ästhetischer sei als die damals noch übliche runde... wäre ich ein Ästhet gewesen, hätt es wohl fast zum "Genie" gereicht.

In Nordstadt eine Kleinbildkamera gekauft. Ich beneidete den ehemaligen Mitschüler aus der Parallelklasse, der seine Kaufmannslehre in diesem Fotogeschäft absolvierte; schon als Kind habe ich Fotoprospekte geliebt und kannte bald schon die wichtigsten Marken. Warum meine Eltern nur diesen Agfa-Aluminium-Plastik-Rollfilmapparat ohne alles außer Sucher, Auslöser und Filmtransporter besaßen, obgleich doch meine Mutter vor dem Krieg in einem Fotolabor gearbeitet hatte... gewiß, besser an der Einrichtung als am Essen gespart, aber... egal. – Sonntag für Sonntag wünschte man sich bei jedem nahenden Mofageräusch, wäre es doch nur Hans; ein stilles, indirektes Gebet, als direktes Gebet so lästerlich wie im Krieg eine Segnung der Waffen.

Bücher für die Berufsschule; ich sammelte das Geld ein und machte die Bestellung. Proben in der Kirche für ein Weihnachtsanspiel mit nicht geringer Sozialkritik. Bei einer Schneeballschlacht das Portemonnaie verloren samt Büchergeld und Monatskarte; mir blieb also gar nichts anderes übrig, als am nächsten Abend krank zu werden. Außerdem hatte ich mein Lehrlingsberichtsheft immer noch nicht, wie längst angemahnt, auf den aktuellen Stand gebracht. Und so lag man dann, "im Grunde gesund", im Bett und hörte Ziggy Stardust und hoffte auf nichts so sehr wie aufs Ende des fragilen nahöstlichen Waffenstillstands.

Ein altgedienter kirchlicher Mitarbeiter brachte mir das Portemonnaie zurück. Helle Aufregung und tadelnde Worte. Wenigstens nun wirklich krank.

Zehn Tage Urlaub. Silvesterbowle. "Gegen zwei Uhr nachts ging ich – leicht angeheitert – ins Bett. Ich war darüber sehr enttäuscht, und ich schämte mich. Ich bat den Herrn um Vergebung und las noch etwas in der 'Göttlichen Offenbarung'." – Die weit größere Offenbarung: Du nimmst dich wahr, du weißt um dich selbst. Und: wenn du dich mit 16 so wahrnehmen kannst, wie solltest du dich als Erwachsener dann noch irgendwie anders wahrnehmen können?...

Eine Vorbereitungsfreizeit für künftige "Helfer" in Hahnenklee-Bockswiese, wer's nicht weiß, ein Kurort im Harz. Die erste Nacht ein Notlager, ein Sofa in einem Gruppenraum, wieder mal Atemnot, wohl die Höhenlage, was aber dann erst in Sikkim?... – "Eines Nachmittags, besser, in der Mittagspause, trieb ich es mit Hans auf dem Bett. Nachher fühlte ich mich saumäßig." Zumal die ganze sündige Zeit die Bibel auf unserer Bockswiese lag. Ich kann aber nicht wer weiß was berühren und mit diesen Händen die Bibel dann, zudem noch Kircheneigentum, so reinlich Hans auch war, ja, fast schon übertrieben reinlich, gleichsam menschenfreundlich reinlich, und das ja auf der Realschule schon. Daheim gab's nur die Elberfelder, zudem in der Zeugen-Jehovas-Fassung, und als ich mir im Frühjahr eine Lutherbibel kaufte, wußte ich nur zu genau, daß Bibellese auf eigene Faust auch der Kirche als eher bedenklich galt.

- Der arme Hans: hinfort mit ihm, und das mit vollem Bauch. Ich hatte gut reden, nur noch angefüllt mit dem Unlusthormon für "danach". Ein Gelübde: bis Ostern ein Neubeginn. "Sehr töricht", sagt das Urtagebuch; zum Termin, nicht zum Verscheuchen.

- Ein Neubeginn: Mein Jugendzimmer frisch tapeziert, die gerade Wand mit dunkler Steintapete und der Schrägenbereich mit einem Täfelungsmuster. Ich klebte mir auf die Steintapete ein Poster mit finnischer Seenlandschaft, daneben ein Postkartenfoto Freytags und noch ein – "Bravo"? – Miniposter vom neuen Mahavishnu Orchestra mit menschenfreundlicher Streicherbesetzung. Zwei Langspielplatten im Januar: "Teaser and the firecat" und als Kontrastprogramm "Birds of fire". 44 Mark. Im Februar "Love, Devotion, Surrender" von John McLaughlin und Carlos Santana. Herr Conrad, der mir stets gewogene Buchhalter, hörte sich die Platte in der Mittagspause an; ich fürchte, er meinte das ehrlich, daß sie ihm relativ interessant.

Jazz im ZDF-Sonntagskonzert, und ganz gewiß kein Dixieland, und dann endlich das Mahavishnu Orchestra, die alte "Birds of fire"-Besetzung, und bestimmt eine halbe Stunde lang. Davor irgendeine Freejazz-Kapelle; mein Vater versuchte redlichst, beidem etwas Positives abzugewinnen. Meine Mutter war für die Handvoll harmonischer Klavierakkorde zu Beginn eines "Visions of the Emerald Beyond"-Tracks, ich spielte die ganze McLaughlin-LP eines Sonntagsnachmittags auf dem Kirschholztisch im Eßzimmer ab, so dankbar wie einst mein Musiklehrer bei den "Thick as a brick"-Streicherakkorden.

- Und wenn schon nicht McLaughlins Musikalität, dann wenigstens seine Frisur. Mittags nun stets zur Stadtbücherei, dort "Seher, Grübler, Enthusiasten" gefunden und umgehend ausgeliehen. Der Artikel über die Menschenfreunde: interessant, aber keine Erschütterung.

- Die Jugendabende: montags von 19 bis 21 Uhr, damals noch vom Pastor geleitet. Die neuen geistlichen Lieder im kirchlichen Teil der "Mundorgel". "Die Gute Nachricht. Das Neue Testament im heutigen Deutsch".

- Das Gemeindehaus neben der Kirche: ein geräumiges Einfamilienhaus aus dem 19. Jahrhundert, Fachwerk, Backstein, Granit. Norddeutsch. Lutherisch. Ein feste Burg. Ein Hauptsaal mit Nebenraum und Teeküche. Im Nebenraum ein Materialschrank, Noten, Gesangbücher, Mundorgeln, Bibeln, ein Tisch und eine Sechziger-Sitzgruppe, Treffpunkt der jugendlichen Mitarbeiter, der "Helfer" nach Abschluß der Jugendstunde.

Bis auf Richard, den Banker, alles Gymnasiasten. Ich schwatzte vom Hinduismus, von Krishna, von John McLaughlin und George Harrison, und da ich noch immer der Meinung war, letztendlich nur die Wahl zu haben, ja, zwischen Hofnarr und Prügelknabe, dienten meine Erkenntnisse jetzt zuvörderst mal der Erheiterung, abgesehn von den Menschenfreunden, die ich erst gar nicht erwähnte. Und ist ja auch egal; ein Kaufmannslehrling in der kirchlichen Jugend darf sich bestenfalls sozial engagieren. Ich muß mir da wirklich keine Vorwürfe machen; mein bloßes Interesse an solchen Fragen stempelte mich zum Schwätzer ab.

- Tausende junger Männer hörten John McLaughlin und kannten besagten Klappentext, ohne sich deshalb gleich sonstwas nun hier aufzubürden oder abzuklemmen...

Der Norden entdeckte den Karneval. Ich aber war jetzt ein Menschenfreund und kaufte mir das Doppelalbum "Tales from Topographic Oceans" der Artrock-Gruppe "Yes". Seite eins und Seite zwei liefen mal komplett im "Fünf-Uhr-Club", ungewöhnlich für eine Sendung, die Rock und Blues den Vorzug gab, über Lehrlingsrechte informierte und über die Arbeit der Gewerkschaftsjugend.

3. März. Berufsschultag. Bis halb zehn durch Norddorf geirrt und dann mit dem Bahnbus nach Nordstadt. Bis halb zwölf zwei Cola in der Bahnhofsgaststätte, erfüllt von der Angst, gesehen zu werden von solchen, die mich dort besser nicht sehen sollten.

- Besser zurück nach Norddorf. Von einem Ortsschild zum anderen und mehrmals um die Realschule rum, dann endlich auf zum Rathausparkplatz, wie üblich an Berufsschultagen mit dem Nachbarn zur Linken nach Hause zu fahren, bis zur Verwaltungsreform Direktor der alten Wendener Samtgemeinde. Er lobte meine Berufswahl; Buchhalter, sprach er mir aufmunternd zu, das sei doch das Schönste, was es gibt. Ich kannte zumindest drei andere Sachen, die mir bei weitem schöner warn: Pilze suchen zum einen, gute Musik zum anderen. – Im Büro ein Entschuldigungsschreiben getippt und die Unterschrift meines Vaters, gleichsam ein altdeutsches Kunstwerk, so gut ich es konnte, gefälscht. "Ich erzählte in der Schule, mir sei übel gewesen." Und: war das denn etwa gelogen? War denn nicht jeder einzelne jetzt dieser Kaufmannstage zum... ?

Das Urtagebuch beklagt, mich törichterweise gegen den Wechsel aufs Landwirtschaftsgymnasium entschieden zu haben. Seitens der Schule kein Problem; mein Vater hatte sich vor Ort informiert.

Ein Philips-Plattenspieler mit 15 Watt und abnehmbaren Stereo-Kofferboxen für 298 Mark. Daheim verhaltene Kritik, nun, bei diesem Preis nicht ganz unberechtigt. Hin und wieder warf meine Mutter einen kritischen Blick auf meine Langspielplatten; bei "Demons and Wizards" befürchtete sie Okkultes, wer weiß was für Riten beim Yes-Titel "Ritual", und die Coverillustration zu "Woman is the nigger of the world" auf John Lennons "Shaved Fish"-Sampler erschien ihr schlichtweg pornographisch.

Ein paar Tage krankgeschrieben, eine Sehnenentzündung im Nackenbereich. Der Knabe, der mir schon '70 nicht nur ausgesprochen schön, sondern auch ausgesprochen aggressiv mir gegenüber war (vom Jugendkreis abgesehen, gab es damals bei etlichen Dorfgymnasiasten diese aggressive Arroganz), schlug grundlos im Schulbus auf mich ein. "Georgie, wehr dich doch!", schimpfte der Schulbusfahrer ins Mikrofon, doch ich ließ es geschehen, wollte ich doch als Menschenfreund nun endlich mal die Erfahrung machen, wie das so ist, sich einmal nicht aus den üblichen Gründen nicht zu wehren...

Ende März ein Klassentreffen in der elterlichen Kneipe eines Mitschülers. An der Bushaltestelle Lisa-Maria; Plauderei zwischen alten Bekannten. Aller frommen Erleuchtung zum Trotz mochte ich der Schulzeit noch zugestehen, "daß diese alten Tage einstmals ein sehr guter Eintopf mit sehr verschiedenen Zutaten waren, die jedoch, einmal wieder aufgekocht, nicht mehr schmeckten." – Und so war's ja leider wirklich; gegen zehn die erste Grüppchenbildung.

Religiöse und nichtreligiöse Phasen. Die nichtreligiösen Phasen begannen üblicherweise mit dem, was die religiösen Phasen auf wenige Tage begrenzte. Kreislaufstörung auf Kreislaufstörung. Ein Brief an Bruder Mayen, die Adresse versehentlich falsch; Gott sei Dank kam der Brief nicht zurück. Laut Tagebuch auch ein Geburtstagsglückwunsch, absurd, da Menschenfreunde, wie schon erwähnt, Geburtstage nun mal nicht feiern. – Ein Brief an John McLaughlin mit einem Traktat der Menschenfreunde; ich nannte ihm deren US-Adresse, North Bergen, ein Vorort New Yorks im Bundesstaat New Jersey. Der Brief ging an sein Management, das stand ja auf dem "Birds of Fire"-Cover, auch wenn mir "Management" nicht gerade menschenfreundlich und folglich ein wenig suspekt erschien; fürs Rückporto eine Ein-Dollar-Note plus internationale Antwortscheine.

- New York. Ich besorgte mir im Reisebüro einen Visumantrag samt Flugplan und präsentierte beides einer Mitschülerin, die mir zufällig dort begegnete, aus Realschul- und nun Berufsschultagen; die erklärte mich für verrückt. Wir sahen uns Jahre später dann des öfteren in meiner Stammdiskothek, und ich rühmte mich, dem Dauerwerben ihrer offenherzigen Discofreundin selbst '80 noch widerstanden zu haben; ich zögerte in vergleichbarer Lage heute nicht einen Moment.

In der Nordstädter Stadtkirche ein Vortragsabend eines bekannten Volksmissionars; der predigte dort eine Sündenvergebung, die Buße und Umkehr sinnlos macht: "Dann meinte er jedoch, Gott habe sich ja in Jesus verwandelt und wüßte nun, wie es ist, ein Mensch zu sein. Man könne ihm nun alle unsere Sünden vorwerfen und weiterhin so leben wie bisher, uns sei ja nun vergeben." – Das war eindeutig gegen die Menschenfreunde, ja, selbst noch gegen George Harrison: "The Lord loves the one that loves the Lord, and the law says, if you don't give, then you don't get loving." Mit Rhythmusgruppe und Slide-Guitar klang das wirklich gut, nur das – Krishna? – Bild auf der Textbeilage ein wenig zu Zeugen-Jehovas-mäßig, oder, im profanen Kontext, wie man's aus "Reader's Digest" kennt.

"Jetzt war ich vollends von der Christenheit enttäuscht." George Harrison hatte gut reden, der persiflierte auf dem Cover von "Living in the Material World" das Abendmahl; Mähne und Revolvergürtel, Landhaus und Mercedes 600. Was wußte der von einem Kaufmannslehrling gut achtzig Kilometer südlich des "Star-Clubs", der schon längst nicht mehr glaubte, für mehr als zur Sünde, zum Laster der Wollust tauglich zu sein?...

An Himmelfahrt schwül und gewittrig, genau das richtige Wetter für "This town ain't big enough for both of us" von den "Sparks". Für einen Besuch von Hans war das Wetter egal und Tag und Stunde immer recht. – "His mouth is big enough for both of us", sprach das Glied zum Ejakulat, und Aids noch in weiter Ferne. Hans' Blick erbat dringend ein Taschentuch, ich hatte zwar nur ein arg benutztes zur Hand, doch besser als auf den dunkelgrünen Noppenteppichboden. Ging er "danach" wie im Harz wieder leer aus, oder genauer, im Gegenteil?...

- Obertitel: "Apocalypse", Ensemble: Mahavishnu Orchestra, die neue orchestrale Besetzung plus London Symphony Orchestra; so zupft's und streicht's und jubiliert's eben nur, wenn Zupfen und Streichen nur morgens um sechs und mit Blumen am Bett vom Guru erlaubt, wo dieser doch eigentlich wissen sollte, daß Blumen und Pflanzen in Schlafgemächern schlichtweg nichts verloren haben; die Menschenfreunde wußten's bestimmt.

- Und Sex bei denen nicht mal morgens um sechs. – Der Rücktritt; das Ende der Ära hingegen bereits im Herbst zuvor. Herr Conrad sah die Entwicklung mit Sorge; mir aber war, so sagte ich's ihm, Willy Brandt nur ein Teil von jener Kraft, die zwar stets das Gute will, doch leider stets das Böse schafft. – Ich verkaufte Herrn Conrad das Gros meiner Münzen, Pfennige und Groschen des Deutschen Reichs, wenigstens nicht die älteren Stücke, für die mir ja eh die Katalogdaten fehlten. War aber das nun etwa fromm, zur Bestätigung der eigenen Frömmigkeit dem Gottlosen Gottloses zu verkaufen? Hätte ich Hans meine Pornos verkauft, so ich denn welche besessen hätte?...

Seit ein paar Wochen Mitarbeiter im Kindergottesdienst. Nach dem gemeinsamen Anfang mit Liedern und Gebeten gingen die Gruppen mit ihren Helfern in verschiedene Ecken der Wendener Kirche, neugotisch, relativ groß und licht, auf einer Anhöhe in der Mitte des Dorfes; nun Heimat wie früher die Schule. Ich hatte stets die Ältesten, kurz vor dem Konfirmandenalter, und immer auf der Empore links.

Fürs leibliche Wohl sorgte weiterhin Hans, wenngleich auch nur noch sporadisch, gleichsam als rechte Hand derselben, Hans, der am liebsten mit richtigen Männern; ob das je in Erfüllung ging, hat er mir nie gesagt. Und noch heute bin ich im Zweifel, ob er tatsächlich was mit diesem wohl ein Jahr Jüngeren hatte; meine Versuche blockte der Jüngling jedenfalls unmißverständlich ab. Andererseits, und es muß ja nun mal vor '76 gewesen sein, lugte er eines Freibadtages zusammen mit ein paar anderen Jungs, vermutlich seine Brüder und deren Freunde, lachend über meine Kabinenwand; kichernd warteten sie darauf, daß die Badehose falle. Ich tat es aber trotzdem nicht; da hätten sie schon klopfen müssen. – Vielleicht ein fataler Fehler. Oder einfach nur das Türschloß auf und schauen, was passiert...

Die Kindergottesdienstmitarbeiter trafen sich jeden zweiten Samstag im Pfarrhaus und besprachen mit dem Pastor den Bibeltext, der den Kindern zu erzählen war; danach kurze Statements der Mitarbeiter zu ihrem jeweiligen Konzept. – "Konzept"? Ich erzählte den Kindern die biblische Geschichte und stellte ihnen anschließend Fragen dazu; sie waren ja schließlich die "Großen". – Einmal gab's statt eines Bibeltextes den von mir ins Deutsche übertragenen Sri-Chinmoy-Klappentext von "Love, Devotion, Surrender", "Saint Augustine has blessed us with a profound message, 'Love and then do what you like'", aber wenigstens ohne den "Soundtrack"; das hätte wohl nicht nur den Pastor verstört. Und: war's denn bei mir etwa anders? Das fand ich nun doch – und nicht nur aus konkreten musikalischen Gründen – etwas kühn, daß John McLaughlin, so jedenfalls das Rocklexikon ohne Quellenangabe, gesagt haben soll: "Gott ist der höchste Musiker. Ich bin nur das Instrument, auf dem er spielt", zumal Gott wohl kaum einen Manager braucht.

Nach der samstäglichen Bibelarbeit: "Ich badete am frühen Abend und onanierte noch. Das war mein Verderb. Nachher war ich sehr erhitzt und hatte ein furchtbares Völlegefühl." – Mein Verderb war es eigentlich nicht. – Brötchenhälften, Tatar und Gürkchen. Der Gleichwert schlägt zurück. Rasender Puls und Übelkeit, als stünde es mir auf der Stirn geschrieben, nicht schwarz auf weiß, sondern weiß auf hochrot. Kein Bissen war möglich, und so blickte ich stumm auf dem Tisch mit den Brötchen und Gürkchen herum und murmelte, nach Minuten wohl, daß es doch Sünde sei, Fleisch zu essen, und verzog mich aufs Zimmer und warf mich aufs Bett. Meine Mutter suchte das kaum mögliche Gespräch; wir kamen zur Lehre und schließlich überein, den Lehrvertrag jetzt ändern zu lassen von Industrie- auf Bürokaufmann, was nach damals geltendem Arbeitsrecht der Ausbilder akzeptieren mußte.

- Bürokaufmann. Nicht Sikkim, nicht New York, und den Bürokaufmann zeige man mir, der's auf diese oder vergleichbare Weise... – was wäre denn da "vergleichbar" schon...

Getreidefelder... schön und gut, nur war der Geruch mir noch nie so genehm; jetzt aber wurde ein Heuschnupfen draus, richtig fett und satt.

Die Fußball-WM. Der Seniorchef, seinem Junior gleichsam "diametral entgegengesetzt", erlaubte ab dem Viertelfinale die Nutzung tragbarer Fernsehgeräte. Nur gut, daß die westdeutsche Niederlage gegen die noch immer gute DDR nicht werktags, sondern samstags war, doch der Teufel gewinnt, wie stets in der Welt, auch beim Fußball letztlich die Oberhand, und die kapitalistische BRD, angeführt vom "Maoisten" Paul Breitner, gegen Holland das Finale.

Tags drauf Beginn der Sommerfreizeit; zwei Gruppen für jeweils eine Woche, ein Jugendcamp aus nachgebauten Köhlerhütten, ein Urzeitmeer mit bizarren Felsformationen nahe der luxemburgischen Grenze. Echternacher Basilika, Bitburger Brauerei. Mittagessen im Hotel, dazu ein Bier oder "Alster", was dort sogar verstanden wurde, obwohl es doch sonst überall "Radler" heißt. Ab und an in der Mittagspause zwecks Meditation zu einen Felsen bei unserem Badeplatz an der Prüm; noch immer große Hemmungen, "Krishna" zu sagen statt "Herr".

Samstag; "Helferabend". Im Gasthaus drei, vier kleine Bier; leichter Schwindel und mäßige Übelkeit. "Ich predige unermüdlich von Krishna. Leider nicht nur aus edler Gesinnung, sondern vielmehr, um mich in den Brennpunkt des Geschehens zu stellen." Hier im Land von Helmut Kohl fühlt sich Krishna gar nicht wohl. In der Musikbox deutsche Schlager und Kraftwerks "Kometenmelodie".

Die Abende am Lagerfeuerplatz mit dem großen Holzkreuz. Das neue landeskirchliche Liedgut war mir eigentlich weitaus lieber als der evangelikale Schlagersingsang, selbst bei nun wirklich einem Schlager wie dem bekannten "Danke"-Lied. Doch "Danke für meine Arbeitsstelle"? Das mitzusingen, wäre kein Dank gewesen, sondern nichts als Lästerung.

- "Evangelikal"... was wußten wir damals von "evangelikal"? Die Helfermädels hatten eine Mappe mit entsprechenden Liedern zusammengestellt, wo immer sie diese auch herhaben mochten. Wir singen von Jesus, er ist der Friedefürst, heilt dich von Sündenlast, wenn du sein Bruder wirst. – Was für eine Vorstellung damals, beim "Danke"-Lied an die Realschuljahre oder gar an Hans zu denken...

- Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein: "Meine sexuellen Sprüche waren erloschen"? – Auch damals ein bloßes Wunschdenken nur.

Die männlichen Teilnehmer hatten die Wahl zwischen einer Tränke mit Frischwasserzulauf und den Duschen im Sanitärkomplex des Hüttendorfs im Anbau eines Kiosks. Wer aber hat die Duschen wirklich täglich genutzt? "Der stinkt", hatte die Auszubildende im letzten Lehrjahr zu ihrem Kollegen gesagt. Ich wußte nicht, wohin ich sehen oder was ich sagen sollte und spielte verlegen mit den Aktenreitern der Lieferantenbuchungsblätter, mattweiß wie ein Ankunftsplan. Nun denn, die Botschaft war angekommen; fortan jeden Abend – einen Waschlappen für "oben" und einen für "unten" kannte ich ja schließlich schon aus Ruhrstädter Tagen – gründlichst gereinigt.

Auf dem Rückweg vom Mittagessen im örtlichen Hotel ein kurzer Blick zu Hans und dann ein Schwenk zum Sanitärkomplex. Einer für das "Fleisch", nicht fürs Kuscheln und nicht fürs Gespräch. Nur: hätte ich denn letzteres überhaupt gewollt bei ihm und dann auch noch wirklich gesucht?...

Einer in meinem Alter, Sohn eines Amtsbruders unseres Pastors und kurzzeitig Helfer im Kindergottesdienst, sagte mir lachend: "Das ist doch keine Sünde!", als ich von eben dieser erzählte, wenn freilich auch nichts Konkretes jetzt. Wo nahm ich dieses Vertrauen, wo nahm er seine Gewißheit her?...

Auch die Rückfahrt über Wuppertal und nicht, wie erhofft, durchs Ruhrgebiet. Übelkeit bis hinter Hannover.

Der Zypern-Konflikt. Der Nixon-Rücktritt. Doch noch das erhoffte Ende? – In einen, sagen wir, bodenständigen Freizeitteilnehmer verguckt; der hätt mich wohl windelweich geprügelt, hätte er das gewußt. Der trug auf dem Herbstmarkt ein Baumwollhemd, über dem Nabel zusammengeknotet. – Und was drunter, im Oktober? Jedenfalls fand ich ihn "hinreißend" dort. Parallel gab's noch ein Mädchen, "wir begrüßten uns sogar mit Handschlag, und wir lachten uns oft zu"; die knutschte mit einem Dorfrocker rum, eigentlich ein Verwaltungsangestellter, und gewiß zu ihrem Selbstschutz nur; dem bin ich einmal nur knapp entkommen, der war zu besoffen, um noch laufen zu können, als ihn der Fahrer dann ausgerechnet in Wenden aus dem Bus werfen mußte; der trug die Matte bis zum Arsch, doch was hieß das '74 schon, sofern es denn je was geheißen hat...

Der Pastor bei meinen Eltern, ein Gespräch zur beruflichen Zukunft. Ich saß auf meinem Zimmer, hörte "All things must pass" und dachte ausnahmsweise mal jetzt eher an das Ende der Kaufmannslehre als gleich an das Ende der Welt. Eine Ausbildung zum Erzieher bei der Hannöverschen Diakonie? Später gern, nach Abschluß der Lehre; Sie wissen ja, die Vorbildfunktion.

Das Mädel drehte später mit Hans' Freund ein paar Runden im Autoscooter, sein Arm auf ihrer Schulter. "Das war sehr traurig. Ich war so kaputt wie noch nie. Für mich war nun alles hin. Auch im Büro merkte man mir meine seelische Lage an. Eine Kollegin fragte, ob ich Liebeskummer hätte. Ich verneinte natürlich und meinte, ich dächte nur über allgemeine Probleme nach, Liebeskummer sei für mich viel zu vulgär. Ich war viel zu hochmütig, um mir einzugestehen, daß es wirklich Liebeskummer war."

"Probleme sind da, um gelöst zu werden", sagte einer vom Management (oder mit den Worten des Juniorchefs: "Das Leben ist ein Kampf!"). Nach menschenfreundlichem Menschenbild sollten im Leben eines Menschen(freundes) Probleme erst gar nicht vorhanden sein; Probleme kamen vom Teufel.

- Und sei es, daß auf der Kirchenempore ein paar Mädels plötzlich das F-Wort riefen, mitten in meine Andacht hinein. – Der Untergang des (christlichen) Abendlandes? In der Stadtbücherei Spenglers Buch entliehen; Herr Conrad war's, der mir dieses Werk mit dem freilich zu Unrecht verlockenden Titel ans endzeitliche Herz gelegt. Ab und an zum "Aussprachekreis", dem Bibelkreis für Erwachsene.

- "Warum hast du das alles so ernst genommen?" – Norddorf 1993, Geburtstagskaffee meiner Mutter. Ich erzählte dem Pastor von Baden-Baden, seit Jahren schon im Ruhestand, und letztlich das ganze Dilemma doch eine Folge der Religion; der Wendener sagte ich freilich nicht.

Der Kreislauf mal wieder. Kalzium, Magnesium, Kalium; das nehm ich bisweilen noch heute. In Wenden eine Woche der "Inneren Mission". Meine Mutter fand Gefallen am Aussprachekreis und war nach wenigen Monaten schon im Kirchenchor und im Gemeindebeirat und schwärmt von diesen Jahren noch heute. Damals aber wollte sie gar den Missionspfarrer, einen Studienfreund des Pastors, missionieren; der gab ihr wenig später die "Botschaft an die Menschheit" mit einigen Randnotizen zurück.

Der Missionspfarrer wurde zum Freund der Gemeinde und leitete die Bibelstunden auf unseren späteren Eifelfahrten. Auf einer dieser Freizeiten übte er verhaltene Kritik an meinem "Make Love not War"-T-Shirt, genauer, am CND-Friedenssymbol, das er für ein zerbrochenes christliches Kreuz und folglich für antichristlich hielt, wenn freilich auch nicht im okkulten, sondern im atheistischen Sinn. Selber zwar Verweigerer, akzeptierte er dennoch die Bundeswehr und wollte sich, auf meine Anfrage hin, nicht als "evangelikal" bezeichnen, und auch der Pastor hätte keinem, der diesen Beistand wünschte, jemals die Bezeugung eines christlichen Gewissens verweigert vor dem Wohlfahrtsausschuß der Gesinnungsprüfer, und: zeigte er etwa kein Verständnis für jugendliche Kapitalismuskritik? Zum Reformationstag ein Jugendgottesdienst.

Im Büro machte mir "der Herr das Leben so angenehm wie möglich" und beließ mich fürs erste an der Buchungsmaschine. Musikalisch zog es mich eher jetzt zur Singer-Songwriter-Gilde hin, Joan Baez, schon fast eine Menschenfreundin. Der Artrock-Sektor blieb suspekt, war am Ende gar okkult; "Lizard", auf Industriecassette und diese noch nicht mal von Island jetzt, wo doch King Crimson seit Menschengedenken auch auf dem deutschen Markt unter Vertrag. Kleine romantische Themen, Schäfchenwolken, aufquellend zu Gewitterwolken, kammerorchestrale Gruselfilmmusik, die im fließenden Übergang zum Jazz ihre helle, befreiende Auflösung findet; gerade Linie, klare Form. Frischer Wind aus nordwestlichen Richtungen, heiter bis wolkig und mäßig warm, dann plötzlich wieder Gruselfilm, und das bis zum bitteren B-Seiten-Ende; Klanggebilde, die meine ersten 17 Jahre wohl ungleich besser skizzieren konnten als jedes noch so ambitionierte Kirchen- , Protest- oder Liebeslied.

Aufnahme eines Hörfunkfeatures über neue religiöse Strömungen mit dem kircheneigenen Tonbandgerät, das mir Wieland auf dem Weg ins Nordstädter "Nachtleben" vorbeigebracht hatte. Ich aber ging nicht in Diskotheken, nicht mal mit einem Pfarrerssohn, ich wollte Jugendgottesdienste mit George Harrison, mit Joan Baez und mit John McLaughlin, den lauen Wendener Kirchenchristen die Botschaft an die Menschheit zu bringen, die Botschaft vom Reich der Gerechtigkeit. – Beim Nachjugendabend statt Freytag nur Krishna, zum Abschluß dann endlich Musik, und freilich "Let us go into the House of the Lord" von "Love, Devotion, Surrender". Die Mithelfer fanden mein Gottesdienstkonzept im Grunde durchaus bedenkenswert.

- Büroadvent '74: wieder nur eine Lappalie, wieder kleinlaut davongeschlichen. It was cold and it rained so I felt like an actor, und doch, ich dachte jetzt nicht daran, wie Bowie an Ma und an Pa zu denken, weder an die Wendener Kirchengemeinde noch gar an die fernen Menschenfreunde, die hatten doch alle eh keine Ahnung, die Eltern, der Pastor, der Jugendkreis, die hatten doch alle ihre Schäfchen im Trocknen, ich aber war nur das schwarze Schaf im asphaltgeschwärzten Kaufmannsstall, und will nicht wie Bowie, der Kinder zeugt und Finger pullt und Zigaretten raucht und trotzdem – genauer, eben drum – am Leben Spaß, ja, Freude hat, noch weitere five oder sonstwas für years nun tatenlos auf das Ende warten, und Bowie ja eh nur als Kunstfigur; dann eben doch die Revolution, den Weg der "Roten Armee Fraktion", und sichtbar für alle blätterte ich auf der Nordstädter Hauptpost Telefonbücher durch, all ihre Anwälte rausgesucht, selbst den düsteren Otto Schily, der mir damals der Involvierteste schien, und die Großzügigkeit schon am Rande zur Lüge, als ich im Büro mal sagte, daß Sex ab 50 unästhetisch. RAF, das Maschinengewehr... man tippte es auf der Berufsschulmaschine. Am Samstag saß man dann eh ja wieder im Pfarrhaus in vertrauter Runde bei der Kindergottesdienst-Vorbereitung und abends in der Badewanne leergebraust und schamverklebt...

Zum Christfest ein Quelle-Radiorecorder mit eingebautem Mikrofon; das Gitter verführte zum Rüberschaben. Ich zerschnippelte meine Singlehüllen, die Logos auf die Tasten zu kleben, Vertigo, Island, Atlantic. Die angeschraubte Kippantenne war schon im Frühjahr ausgeleiert; ansonsten war's ein recht gutes Gerät und freilich auch dieses meine eigene Wahl. Später brachte mir einer bei, welche Schrauben ich manipulieren muß, nicht nur Hörer des Evangeliums, sondern auch des lokalen Polizeifunks zu sein. Gelohnt hat sich das selten.

- Wie hoffte ich damals doch insgeheim, beim Trampen mit dieser Frau mitzukommen mit dem 450 SL, nur einmal in diesem sündhaft sinnlosen Zweisitzer-Cabriolet zu sitzen, das ich mir niemals leisten würde, wie reich ich auch jemals werden dürfte. Meine bis heute einzige S-Klasse-Fahrt war gut vier Kilometer lang, ein hellblauer 250 S, getrampt, die Mutter eines Klassenkameraden, Kartoffeln im Auto und die Rückbank so durchgesessen wie die meines 123ers viele Jahre später.

- "Geht doch alle nach drüben!", rief uns der Kinobesitzer in der Dorfkneipe zu, als wir dort Probleme wälzten und ich mich nicht entblöden konnte, über besagte Phasen zu faseln; mit dem kam ich mal beim Trampen mit, und dann hat er mir in verregneter Nacht im VW-Bus schon fast einen Vortrag gehalten bezüglich der großen Kinokrise; da war er mir recht sympathisch geworden.

- Was hätte ich denen schon groß erzählt... gewiß nichts von meinem Liebeskummer, geschweige denn von Hans; soweit ich mich erinnern kann, '74 ganze elf Mal, einmal unter Taschen und Anoraks im morgendlichen Pendlerbus, und freilich ohne Abschluß; wie '73 nach Schulschluß im Schulbus, nur damals nicht so heimlich; verstohlene Blicke seitens der Mädchen, jetzt aber merkte keiner was, wer merkte denn überhaupt noch was, und eines Samstagsnachmittags gar im Heizungskeller des Kirchengebäudes, und es einmal auf seinem Zimmer versuchten auf die, wie auch wir meinten, "richtige" Art, er hatte ein Waschbecken auf dem Zimmer, doch war er fürs Eindringen viel zu verspannt, und mir tat es folglich nicht weniger weh.

- Und wo wir gerade beim Thema sind: Im Radio eine Autorenlesung, NDR 3, Spätprogramm, Autor und Sprecher: Hubert Fichte, Obertitel und Beitragstitel "Versuch über die Pubertät". – Das Leben ist ein Krampf. Eines Frühsommertags zur Abendstunde nicht weit vom Wendener Sägewerk, wo sich im hölzernen Späneturm die Fledermäuse zur Nachtjagd fanden und das Friedhofsgelände noch Buschwerk war, dort packte ich ihn bei der Männlichkeit und zog ihn wie einen Handkarren fort. Hans versuchte das auch bei mir, doch da kamen wir uns ins Gehege. Am unteren Ende der kleinen Böschung, am Rande von Brachen und Wiesen und Weiden, gegenüber die neue Friedhofskapelle und der Blick zu uns rüber ganz ungeschützt, dort traten wir Disteln und Dornen nieder und wohnten uns bei im Zeichen des Krebses; ein Abendspaziergang zum Säuferschnellweg und dann durch die Feldmark wieder zurück.

Wir trafen auf diesem Gemeindeweg, der die Weiler zwischen Norddorf und Wenden verbindet, einen ehemaligen Schulkameraden in seiner getunten Sportlimousine; ein wenig Smalltalk, ein wenig Neid. Ein Draufgänger, freilich, doch mir gegenüber schon in der Schule stets korrekt; der erzählte später... nichts gegen Hans, aber händchenhaltend wie zwei Verliebte... Jede nur denk- und durchführbare Technik und Stellung ohne Frage, nur: händchenhaltend wie zwei Verliebte, wie zwei, die einander versprochen haben, zwei, die einander versprochen sind... – Wir sollten uns mal langsam ein Mädchen suchen, sagte ich zu Hans, als wir heimwärts durch die Furchen staksten, ein Mädchen für eine Sex-Ménage, die Integration eines weiblichen Sexualelements in unsere bloße Organbeziehung als "Einstieg in den Ausstieg", als "Gleitmittel" für den Übergang. Ich hatte da keine Bestimmte vor Augen, soweit ich mich noch erinnern kann, und zur Stunde auch gar nicht so wichtig; wie gesagt, ein Übergang, hin zur Ehe von Mann und Frau, was immer auch die Menschenfreunde...

Wir waren schon gute Zeit unterwegs und hätten durchaus noch ein weiteres Mal, doch die Scham war letztlich größer. Ob Hans damals irgendwie religiös, habe ich nie in Erfahrung gebracht, über so etwas sprachen wir schlichtweg nicht; ihm wiederum war nichts bekannt, was über meine Mitarbeit in der Kirchengemeinde hinausgegangen.

Nach Weihnachten fuhren die Mitarbeiter und einige potentielle Nachwuchskräfte mit dem Nachtzug von Nordstadt nach Friedrichshafen zur Silvesterfreizeit einer Sondergemeinschaft, die kirchenrechtlich mangels Sonderlehre als Freikirche einzustufen war. Ich hatte beschlossen, mich zu verlieben, in ein Mädchen aus dem Jugendkreis; das war meine Pflicht, also ungefähr so, wie die Liebe zu einer McLaughlin-Platte. Als wir müde wurden, legten wir uns entgegengesetzt auf die zur Liegefläche ausgezogenen Kunstledersitze. Und so fand es sich also in jener Nacht, daß die Auserwählte neben mir lag, einer zu den Füßen des andern. Nicht nur sauber, sondern rein, ein Duft, so wiesenfrisch wie dezent nach unschuldsweißen Frotteesocken mit bunten Ringeln im Wadenbereich und nach wiesenfrischer Pflegecreme, blitzsauber wie Hans' Unterbauch, und doch das geheiligte Gegenteil zur Sünde mit Hans, Gott wohl gefällig...

Dunkler weiter Raum

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