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Kapitel 3

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Wer Gehen lernt und fällt, hat auch die Zeit um wieder aufzustehen.

In ihrer beeindruckenden Weite und dem offenen Horizont lag sie zu seinen Füssen. Eine unbekannte Inselwelt der Nordsee - Föhr.

"Dieses Land ist eigentlich unglaublich gross. Ich bin hier an der Nordsee. Trotzdem noch immer in Deutschland", dachte er im Rückblick auf seine zehnstündige nächtliche Fahrt. Er griff nach seinem Gepäck und der Gitarre.

"Diese Weite hier oben ist unvorstellbar und beeindruckend." Im Vergleich mit seiner schweizerischen Heimat, Appenzell und dessen enge Täler war er sich diese Weiträumigkeit nicht gewohnt. Ein eigenartiges und ungewohntes Gefühl der Freiheit strömte erneut durch seinen Körper. Weisse Wolken zogen über die Insel. Die Passagiere verliessen in einem offenen Menschenstrom die Fähre. Es herrschte keinerlei Gedränge. Die bunten Häuserzeilen zogen die Aufmerksamkeit von Julian in ihren Bann. Zufrieden mischte er sich in den Menschenstrom und marschierte in Richtung Ausgang.

Unweit entfernt lagen einige Krabbenkutter, auf denen die Fischer mit ihren Netzen beschäftigt waren. In einiger Entfernung staunte Julian über ein marginales weisses Häuschen. ‚Krabben und Fisch‘, stand auf einer kleinen Tafel. Ein alter Seebär aus Holz und Kunststoff, hielt die Tafel mit dem aktuellen Angebot in seiner Hand.

‚Hartelk welkimen üüb Feer! FÖHR – grüne Insel weisser Strand,. Ein Schild begrüsste die Ankommenden. Die grosse Uhr darüber zeigte 8.30h. Unweit stolzierte in Hafennähe ein weisser Storch entlang der Uferpromenade. Fasziniert von den Eindrücken dieser bis anhin fremden Welt, spazierte Julian gelassen durch das Fluttor in Richtung Altstadt. Das Geschrei der Möwen und Seevögel begleitete jeden seiner Schritte. An der Hafen Apotheke vorbei, schlendert er durch die Königstrasse und bis zur Grosse Strasse. Zahlreiche Menschen flanierten in den Gassen der Backsteinhäuser. Beeindruckt von den schmucken kleinen Häuschen und ihren farbenprächtigen Blumenbögen schlenderte Julian weiter. Der Mittwoch war noch jung und bis zum Treffen mit der Anwältin Behlendörp hatte er noch genügend Zeit. Am Ende der Gasse zog in einiger Entfernung ein hoher backsteinerner Uhrentum Julians Aufmerksamkeit in seinen Bann.

'Zorbas' in leuchtend blauer Schrift, griechischem Ambiente und gemütlichem Strassencafé.

"Das macht doch einen guten Eindruck." Julian setzte sich vor dem Gasthaus an einen freien Tisch. Eine bunte Farbenpracht an Blumen schmückte die Fenster des Gebäudes. An den wenigen dunkelglänzenden und ovalen Tischen standen gemütliche Korbstühle. Leuchtende, gelbe Kugeln spendeten ein angenehmes Licht. Er war definitiv angekommen, in einer völlig fremden Welt und auf einem bordeauxroten Sitzkissen.

"Ich kann es kaum glauben, dass die Vorfahren meiner Mutter tatsächlich hier auf dieser Insel heimisch waren!" Aufmerksam musterte er die Umgebung und die farbenprächtigen Häuserzeilen der Geschäftsstrasse. Unweit entfernt sass eine ältere Dame auf einer Sitzbank und kramte in ihrer Tasche. Es waren erst einige wenige Menschen unterwegs. Die Geschäfte waren dabei ihre Türen zu öffnen und die Auslagen auszubreiten.

"Warum sind die damals bloss ausgewandert in unser hügeliges Appenzell?" Nebensächlich las er die Karte auf dem Tisch und überflog die Zeilen.

"Warum gerade in die Schweiz?" Julian sinnierte weiter.

‚Es wäre wirklich äusserst interessant zu wissen, wer diese Menschen waren. Eigentlich weiss ich nicht einmal in welchem Jahr das war." Erneut befiel ihn einerseits Ärger darüber, dass er sich nicht früher für die Familiengeschichte zu interessieren begann, andererseits aber auch eine gewisse Trauer darüber, dass er seine Eltern als direkte Quelle nicht mehr danach fragen konnte. Unerwartet wurde er plötzlich von einem auffällig attraktiven Wesen aus seinen Gedanken gerissen. Ganz langsam war sie eben mit dem Fahrrad vorbei gefahren und hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

"Wow. Die nordische Amy MacDonald" Fasziniert folgte er ihr mit seinen Blicken. Hellbraune, lange Haare, grauer Pullover mit hellblauer Jeans. Weisse Wollhandsandschuhe, einer ebensolchen Mütze und Wollstulpen von den Knöchel bis zu den Knien. Eine grosse Ledertasche hatte sie sich mit einem breiten Trageriemen an ihrem Körper festgebunden. Mit einem eleganten Satz sprang sie von ihrem Rad, stellte es gegenüber dem Gasthaus in einen Fahrradständer und verschwand eilig in einem nahe gelegenen Geschäft. Aus einem Lautsprecher in seiner Nähe, rockte plötzlich ganz leise Maggie Reilly - Everytime we Touch. Mitgerissen wippte er dazu mit seinem Fuss.

"Was darf ich Ihnen bringen, bitte?" Julian wurde plötzlich aus seiner schwärmerischen Beobachtung und fantasievollen Traumwelt geholt. Es war eines seiner ersten Konzerte. Maggie Reilly und Mike Oldfield mit Moonlight Shadow. Viel Zeit ist seither vergangen.

"Oh, Entschuldigung. Ich hätte gerne einen Kaffee." Julian kramte nebenbei in seinem Portemonnaie und suchte nach dem Notizzettel mit der Nummer und der Adresse der Anwaltskanzlei.

"Hier ist er doch." Erleichtert entzifferte er seine fast schon unleserliche und in Eile geschriebene Notiz.

"Behlendörp 0049468 ...' Er zog das Telephon aus seiner Sakkotasche.

"Ich bin echt gespannt wer sie ist und was sie mir zu sagen hat."

"Bitte sehr, Ihr Kaffee." Freundlich stellte ihm die Kellnerin die Tasse auf den Tisch.

"Besten Dank, das ging ja wirklich schnell." Er konnte sich einen kurzen Flirt nicht verkneifen.

"Entschuldigung. Dürfte ich Sie vielleicht kurz etwas fragen?"

"Ja sicher." Neugierig stellte sie sich neben ihn.

"Ich suche die Anwaltskanzlei von Svenja Behlendörp. Es muss hier irgendwo in der ‚Grossen Strasse‘ sein. Ist diese Hausnummer weit entfernt von hier?" Gespannt überreichte er der Kellnerin den kleinen gelben Zettel.

"Sie wollen zur Svenja? Das ist nur ein paar Häuser entfernt." Sie ging ein paar Schritte auf die Strasse und zeigte in Richtung Glockenturm. Eine Windböe zerzauste ihre Haare. Gelassen strich sie die Strähnen aus dem Gesicht.

"Von hier aus können Sie sogar das Haus sehen." Sie reichte ihm den Zettel und machte auf einem Nebentisch etwas Ordnung.

"Die Svenja, also Frau Behlendörp war bis vor ein paar Minuten noch hier. Sie kommt fast täglich zu uns in den Kaffeepausen." Die Kellnerin begann sichtlich zu schwärmen. Offensichtlich gefiel es ihr mit ihm ein paar Worte zu tauschen.

"Es ist daher gut möglich, dass Sie Svenja so früh in der Kanzlei antreffen."

"Das will ich doch hoffen. Ich habe einen Termin." Julian nahm einen Schluck aus der Tasse.

"Sie sind aber nicht aus dem Norden - oder? Ihr Akzent kling eher nach Süddeutschland oder der Schweiz." Sie zeigte sich plötzlich neugierig.

"Nein, nein. Diese Region ist für mich ganz neu. Ich bin in einer Erbschaftsangelegenheit extra aus der Schweiz angereist."

"Ach wirklich? Aus der Schweiz?" Sie wirkte plötzlich etwas verwundert.

"In den letzten Jahren kommen vermehrt Gäste aus der Schweiz zu uns nach Föhr. Ich würde die Berge gerne einmal sehen." Nervös rückte sie den Blumenschmuck auf dem Tisch zurecht.

"Wohin zieht es sie denn auf unserer Insel? Es gibt hier viele interessante Orte."

"Nach Nieblum."

"Wie lustig. Ich bin auch aus Nieblum. Ich wusste gar nicht, dass jemand Verwandtschaft in der Schweiz hatte. Darf ich wissen, wer ihre Familie ist?"

"Das ist mir eigentlich auch noch ein Rätsel. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Offensichtlich eine alte familiäre Angelegenheit."

"Wow, das klingt ja richtig spannend, geheimnisvoll."

"Das trifft sich eigentlich gut. Sie sind auch aus Nieblum? Haben Sie einen Mangens Jansen gekannt."

"Ach. Haben Sie das Jansen Haus geerbt?" Verblüfft horchte sie auf.

"So steht es zumindest in dem Brief, den ich bekommen habe."

"So ein Zufall dass ich Sie treffe. Gut, dass sich endlich jemand um das Haus kümmert."

"Was meinen Sie mit, endlich? Ich verstehe nicht ganz! Haben Sie ihn gekannt?" Julian war etwas konsterniert.

"Ach! Entschuldigen Sie. Ich rede manchmal etwas Unsinn." Sie lächelte plötzlich etwas verlegen und hielt sich die Hand vor den Mund.

"Die Arbeit ruft. Mein Chef ist da etwas ungeduldig. Machen Sie es gut."

"Wenn Sie sich beeilen, können sie Svenja, also Frau Behlendörp sicher noch erreichen." Augenfällig wischte sie auf einmal aufgeregt den Tisch und verschwand eiligst wieder im Eingang.

"Danke auf alle Fälle für die Auskunft." Nachdenklich blickte er ihr nach.

"Das war jetzt wieder eine eigenartige Bemerkung. Das soll einer verstehen." Gedankenversunken rührte er den Rahm und den Zucker in den Kaffee und nippte erneut am Tassenrand.

"Zuerst reagiert diese Beamtin Flor vom Einwohnermeldeamt so eigenartig und jetzt macht auch die Kellnerin so mysteriöse Bemerkungen."

"Okay. Ich verstehe irgendwie schon, dass niemand ins Fettnäpfchen treten möchte. Aber Sorry, Leute. Ich habe diesen Jansen nicht mal gekannt." Aufgeregt wählte er die Nummer der Kanzlei. Erneut erklang das Summen des Ruftons an seinem Ohr. Einmal, zweimal, dreimal...!

"Anwaltskanzlei Behlendörp, Svenja Behlendörp." Er war erleichtert ihre Stimme zu hören. Mit diesem Treffen hatte er fest gerechnet. Eine Terminverschiebung käme ihm höchst ungelegen. Zumal er hier noch keine Menschenseele kannte.

"Guten Morgen, Frau Behlendörp. Hier ist Julian Sutter aus der Schweiz. Ich hoffe, Sie haben gestern meine E-Mail noch rechtzeitig erhalten?"

"Moin, Herr Sutter. Schön von Ihnen zu hören. Besten Dank für Ihre Nachricht. Ich habe sie erhalten. Sind Sie bereits auf Föhr angekommen?" Julian war erleichtert. Offensichtlich hatte alles geklappt.

"Ich bin eben vorhin mit der Fähre aus Dagebüll angekommen. Ich hoffe es ist nicht zu früh. Habe ich Sie gestört?" Die Frage war rein rhetorisch. Natürlich hoffte er darauf, die Sache so schnell und unkompliziert über die Bühne zu bringen.

"Nein, nein. Das ist in Ordnung. Ich bin bereits im Büro und habe Ihren Anruf erwartet. Hatten Sie eine gute Reise und wo sind Sie denn gerade?" Ihre Stimme klang freundlich und interessiert.

"Die Reise war etwas anstrengend. Zehn Stunden Autobahn sind nicht der Brüller. Meinen Wagen habe ich in Dagebüll im Parkcenter stehen gelassen. Offenbar bin ich bereits ganz in Ihrer Nähe im Gasthaus Zorbas."

"Beim Zorbas? Das ist ja ganz hervorragend. Dann könnten wir uns eigentlich gleich treffen, wenn das für Sie in Ordnung ist. Ich habe Ihnen übrigens in Nieblum schon mal eine nette Unterkunft gebucht. Da brauchen Sie sich nicht mehr zu kümmern."

"Das ist aber nett von Ihnen, Frau Behlendörp." Das Angebot war Okay. Diesbezüglich war er aber wählerisch. Er hasste zweckmässige Absteigen. Drei Sterne mussten mindestens gegeben sein.

"Haben Sie denn schon gefrühstückt?"

"Bis jetzt nur einen Kaffee. Auf dem Schiff habe ich Labskaus kennen gelernt. Das reicht mir vollkommen. Wenn es Ihnen recht ist, dann komme ich doch gleich einmal in Ihrer Kanzlei vorbei und wir sehen dann weiter." Keine Zeit verlieren. Falls sich das alles doch noch als Bauernfängerei erweisen sollte, wollte er so schnell wie möglich wieder die Kurve kratzen können. Zuhause warteten zwei wundervolle Ladys.

"Wie Sie möchten, Herr Sutter. Ich kann mich richten. Sie haben die Adresse?"

"Nicht nur die Adresse." Julian schmunzelte.

"Die Kellnerin hat mir auch bereits das Haus gezeigt."

"Aha, das kann ich mir bei Lennja gut vorstellen. Ich hoffe sie war etwas zurückhaltend. Sie kann sich manchmal nur schwer bremsen in ihrer Neugier." Die Anwältin feixte.

"Das liegt wohl in unserer Familie."

"Ach, Sie sind verwandt?"

"Sie ist eine meiner Cousinen - aber eine von den Lieben." Behlendörp lachte laut.

"Ich verstehe schon, was Sie meinen." Julian wunderte sich über ihren Humor. Sie wirkte nicht wie eine steife Geschäftsfrau. Obschon es sich um ein anspruchsvolles Treffen handelte und immerhin eine Erbschaft verhandelt wurde, schien sie ihm von einer beeindruckenden und humorvollen Gelassenheit zu sein.

"Dann kann ich Sie also in der nächsten halben Stunde erwarten, Herr Sutter?" Er schätzte diesen Satz.

"Ich muss hier noch schnell bezahlen und werde dann nächstens bei Ihnen aufkreuzen."

"Das freut mich. Dann also bis gleich."

"Also dann, bis gleich, Frau Behlendörp." Mit einer freundlichen Geste winkte er der Kellnerin. Diese unterhielt sich beim Eingang mit einem Kellner. Offensichtlich versuchte sie etwas verlegen ein Gemunkel über Julian zu verbergen. Mit dem Lächeln des Ertappten und den kleinen Notizblock fest umklammert, schritt sie heran.

"Sie möchten bezahlen?"

"Ja, Gerne."

"Haben Sie Frau Behlendörp erreicht?" Offensichtlich war ihre Frage eher ein Akt der Freundlichkeit.

"Ja, Es ist alles bestens. Danke nochmals für Ihren Hinweis. Ich werde sie gleich treffen." Julian legte das Geld auf den Tisch und griff nach seinem Gepäck. Er war grosszügig und liess ihr ein ordentliches Trinkgeld liegen.

"Besten Dank und auf Wiedersehen." Geschäftig eilte die Kellnerin davon. Gebannt verharrte sein Blick am Eingang des gegenüberliegenden Geschäfts. Die unbekannte Schönheit trat plötzlich aus der Tür. Mit schnellen Schritten und graziösen Bewegungen lief sie zu ihrem Fahrrad. Mit schnellen Handgriffen verstaute sie ihre Sachen an der Lenkstange in einem Korb. Julian war hingerissen von ihrer anmutigen Weiblichkeit. Das Gefühl unbeschreiblicher Zuneigung flutete alle seine Sinne. Sie war einer jener Menschen, bei dessen Begegnung sich Welten verbanden und der Wunsch nach einer kurzen Umarmung in seinem Herzen wuchs. Das Geheimnis dieser magischen Momente war ihm zeitlebens ein Rätsel. Unauffällig trat Julian auf die Strasse. Wie gerne hätte er jetzt einfach nur für einen kurzen Augenblick ihre zarte Hand berührt. Sie war noch immer mit ihrem Rad beschäftigt, hantierte an ihrer Tasche. Einmal in seinem Leben wollte er diesem faszinierenden Wesen in die Augen schauen. Ein kurzer Blick für alle Ewigkeit. Beiläufig schritt er in ihre Nähe, markierte den behäbigen Touristen und beäugte die angebotene Ware. Der organisierte Zufall war perfekt. Unsinnige Blicke auf seine Uhr, orientierende Pseudo-Umsicht durch die Gassen, simuliertes Warten, nur um etwas Zeit für sie zu schinden. Und plötzlich war er da. Jener bezaubernde Moment eines zufälligen Gegenüberstehens. Der ersehnte Anblick ihrer Augen, ihres zauberhaften Lächelns.

"Moin!" Sie stieg auf das Fahrrad, strich ihre Haare unter die Mütze, würdigte ihn eines kurzen Blickes und fuhr langsam an ihm vorbei.

‚Wow!‘ Der Boden unter seinen Füssen und die Welt um ihn herum verschwand.

"Hallo." Ein lächerliches Hallo. Mehr war ihm nicht eingefallen. Er sah sich im Boden versinken. Die Ewigkeit war nicht mehr aufzuhalten. Mit jedem Tritt in die Pedale entfernte sie sich aus seinem Leben in die vergängliche Unendlichkeit. Sekunden später entschwand sie hinter einer Biegung aus seinen Augen. Ein Summen in seiner Sakkotasche. Gespannt schaute er auf das Display, las seine eigene Nachricht. "Meine liebe Annemarie, bin soeben in Dagebüll am Hafen ..." und im Anschluss ihre Antwort.

"Das Bild ist lustig, mein Lieber. Wäre gerne dabei. Schicke dir eine feste Umarmung." Plötzlich flammten sie wieder auf, jene Gewissensbisse gegenüber den beiden Frauen. Sehr wohl waren sie ihm mehr verbunden, als er dies je zu geben im Stande war. Dennoch vermochte er den letzten Schritt der bindenden Verpflichtung nicht zu überwinden, weder für die Eine noch für die Andere. Obschon er ihnen in liebevoller Verbundenheit sehr nahe stand, würde er sie niemals mit einem gefühlvollen ‚ich liebe Dich‘ beschenken können. Er liebte sie beide auf seine Weise – lustvoll, ehrlich, pflichtfrei, unverbindlich, liebevoll aber aufrichtig und ohne das gegenseitige Versprechen einer Lebenslänglichkeit. Sie wussten worauf sie sich miteinander eingelassen hatten, in beiderseitigem Einvernehmen. Vielleicht würde er ihr niemals begegnen, der Liebe seines Lebens. Das hübsche Angesicht der unbekannten Schönen, hatte sich tief in seinem Bewusstsein eingebrannt. Schwärmend lief er auf der rötlich-grauen Plattenstrasse, hinauf zum Glockenturm. Eine rote Fahne flatterte im Wind. Interessiert las Julian am Turm die Inschrift-Tafel. 'Zur Erinnerung an den Abstimmungstag 14.März 1920'.

"Was auch immer abgestimmt wurde?!" Beeindruckt von dem imposanten Gebäude und seiner Geschichte ging er weiter. Aufmerksam hielt er Ausschau nach der gesuchten Hausnummer. ‚Anwaltskanzlei Svenja Behlendörp - Beratung und Vertretung im gesamten Erbrecht. Nachlassplanung, Testament, Erbvertrag, Erbteilung, Willensvollstreckung‘. Unverkennbar leuchtete ihm das silberglänzende Schild entgegen.

"Unglaublich!" Wieder einmal wurde ihm die Tragweite dieser aussergewöhnlichen Situation bewusst. Vor einer knappen Woche war kaum mit einer Veränderung zu rechnen in seinem Leben. Mit dem Eintreffen des ominösen Briefes, verlief plötzlich nichts mehr wie gewohnt. Er stand tatsächlich auf einer bis anhin gänzlich unbekannten Insel in der Nordsee, vor dem pompösen Schild einer Kanzlei. Der Onkel aus Amerika war in Erscheinung getreten, mit dem Erbe einer Liegenschaft und mit einem Namen, den er in seinem Leben weder jemals gehört und von dessen Existenz er nicht die geringste Ahnung hatte. Gespannt drückte Julian die Klingel, betrachtete im dunklen Glas sein Spiegelbild. Zweifellos konnte er eine gewisse Aufregung und Neugier nicht verbergen. Er, der es schätzte stets alles im Griff zu haben, so schnell die Ruhe nicht zu verlieren. Das war durchaus eine euphorische Grenzerfahrung. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die massive Tür. Auf glühenden Kohlen betrat er das Foyer. Verwundert stand er plötzlich in einer weiten, offenen und Licht durchfluteten Halle. Von aussen schien das Gebäude wesentlich kleiner. Eine indirekte und hellblaue Beleuchtung schimmerte in einem Halbkreis von der Decke. Sie legte den leuchtend weissen Raum in eine angenehme und beruhigende Atmosphäre. In dem hellbraun glänzenden Marmorboden spiegelte sich die Umgebung. Das Deckenlicht schien daraus hervor zu steigen. Eine weit geschwungene, mit Stuckaturen, goldenem Geländer und Seefahrer Motiven, reich verzierte Treppe, bildete den Mittelpunkt der Halle. Julian fühlte sich wie auf der Jugendstil Kommandobrücke eines Hochseedampfers. Mit einem freundlichen Lächeln schritt die Anwältin anmutig die Treppe herunter. In ihrem dunkelroten, eng anliegenden und knielangen Kleid, mit schwarzem und knapp geschnittenem Oberteil, erschien sie ihm wie eine Diva aus einem alten Film mit Humphrey Bogart. Die schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Sie glänzten mit den weissen Perlohrringen um die Wette in dem hellen Licht. Eine reich verzierte Vase mit chinesischen Motiven stand unterhalb der glanzpolierten Treppe. Das Blaue Licht spiegelte sich in den goldenen Rändern.

"Moin, Herr Sutter. Willkommen auf Föhr." Sie reichte ihm förmlich die Hand.

"Ich bin erfreut, Sie persönlich kennen zu lernen." Dunkel geschminkte Augen betonten ihr braungebranntes Gesicht. Die roten Lippen glänzten. Langgezogene Augenbrauen verliehen ihr den Hauch einer orientalischen Tänzerin. Eine Perlenkette zierte ihr Dekolletee.

"Guten Tag Frau Behlendörp. Die Freude ist ganz auf meiner Seite." Sie war gross und von schlanker Figur. Ihre Hand war weich und geschmeidig, die Fingernägel tiefblau und spitz geschliffen wie die Krallen einer Katze. Goldene Armringe zierten das Handgelenk. Offensichtlich war sie kein Kind der hehren Bescheidenheit – zumindest nicht auf den ersten Eindruck.

"Schön, dass Sie so schnell kommen konnten."

"Kein Problem. Das Ganze ist für mich noch immer nicht ganz fassbar. Das muss ich gestehen. Mittlerweile habe ich mich an den Gedanken gewöhnt und bin gespannt."

"Das ist verständlich. Eine solche Erbschaft ist nicht alltäglich." Sie lächelte verständnisvoll.

"Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt, Herr Sutter. Offensichtlich habe ich von den Schweizern ein falsches Bild." Die Anwältin scherzte schelmisch, flirtete ihn ein wenig an. Zweifellos war sie äusserst attraktiv und eine jener Männerträume, wie man sie aus den modernen Live-Style Filmen kannte. Dennoch war Julian nicht sonderlich von ihr angetan. Sie war die Frau für’s Auge aus dem Modekatalog, aber nicht die Frau für‘s Leben in seiner Welt.

"Sie wirken auf mich auch nicht wie eine aufgekratzte Seemannsbraut, Frau Behlendörp." Julian quittierte schlagfertig. Sie lachte.

"Lassen Sie das Gepäck einfach hier stehen. Wir sind oben in meinem Büro." Sie verwies auf das Sofa neben der Treppe.

"Ich schlage vor, wir erledigen erst einmal das Geschäftliche. Danach zeige ich Ihnen gerne die Liegenschaft und die Pension in Nieblum. Ist das für Sie in Ordnung?" Zweifellos war sie eine Geschäftsfrau - und sie trug keinen Ehering.

"Das klingt gut. Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet." Beeindruckt von ihrem geschäftlichen und dennoch unkonventionellen Empfang, stellte Julian die Tasche neben den Gitarrenkoffer. Ihre Absätze klackten auf der Treppe. Mit einem eleganten Hüftschwung ging sie ihm voraus. Er zwang sich angespannt, die Blicke auf ihr enges Kleid zu meiden, folgte ihr über die Treppe zum Büro. Sie schien sich ihrer Weiblichkeit bewusst, spielte mit ihren weiblichen Reizen. Verlegen schielte er auf die wohlgeformten Rundungen ihres Körpers. Er war weder Mönch noch Kostverächter – schmunzelte.

"Ihr Architekt hat einen richtig guten Geschmack bewiesen." Julian staunte und versuchte adäquat zu bleiben.

"Man würde es von aussen nicht vermuten, was sich hier drin verbirgt." Er liess seiner Verwunderung freien Lauf. Moderne Bauten faszinierten ihn. Das Futuristische hatte es ihm seit jeher angetan. Die Verbindung des alten Friesenhauses mit der Moderne. Neue Ideen und alte Traditionen vereinigen.

"Besten Dank für das Kompliment. Ich bin mit dem Ergebnis ebenfalls sehr zufrieden. Wir haben bei dem Umbau des Gebäudes grossen Wert auf einen modernen Stil gelegt." Die roten Stöckelschuhe klackten noch immer mit jedem Schritt. Ihr Zopf wippte hin und her.

"Wir sind erst vor einer knappen Woche fertig geworden. Sie haben Glück, dass Sie keine Baustelle mehr angetroffen haben." Sie fühlte sich geschmeichelt und schritt durch die Räumlichkeiten voraus.

"Kann ich Ihnen noch einen Kaffee, Tee oder etwas anderes anbieten, Herr Sutter?" Der Weg zum Büro war nicht kurz. Smalltalk war angesagt.

"Nein danke, Frau Behlendörp, sehr freundlich. Auf dem Schiff gab es ein kleines Frühstück und beim Zorbas bereits einen Kaffee – das reicht." Der Boden glänzte und die Wände zierten neue Kunst. Vorhänge aus luftigen Geweben hingen an den Fenstern und helle Spotlichter beleuchteten die modernen und abstrakten Bilder.

"Bringen wir die formellen Angelegenheiten hinter uns. Erledigt ist erledigt. Ausruhen kann ich mich später auch noch."

"Ganz die schweizerische Gründlichkeit. Ich denke, es wird nicht lange dauern." Sie bog in einen hellen Flur. Ein blauer Teppichboden dämpfte das Klacken ihrer Schuhe. Seemannsbilder mit alten Schiffen dominierten an den Wänden – Stilwechsel.

"Mein Büro ist gleich da vorne links. Wenn Sie mir bitte folgen." Es gab für Julian keinen Grund es nicht zu tun. Sie war eine Augenweide und ihre Duftnote nicht zu beschreiben. Wahrscheinlich etwas zwischen Blumengarten und Jugendstil. Sie drückte auf eine wuchtige Türklinke und trat in den Raum. Helles Parkett knirschte unter den Schritten. Die Verbindung zwischen dem alten Kern und der Moderne war in diesem Gebäude offensichtlich hervorragend geglückt. Das zeitgemässe Büro war von einer überraschend edlen Schlichtheit. Der helle Holzboden und die weissen Wände verbreiteten eine angenehme und lichtvolle Atmosphäre. Neben einem schwarzen Büchergestell stand in einem grossen Topf eine hohe Ficus Benjaminus Pflanze.

"Die sind gar nicht so einfach zu halten. Haben Sie damit keine Probleme?" Mit etwas Smalltalk versuchte Julian seine Beklommenheit zu kaschieren. Er fühlte sich zur Untätigkeit verdammt. Ein Gefühl, das er nicht besonders schätzte. Verlegen strich er sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Bilder von Gustav Klimt und Egon Schiele zierten die Wände. Nebst der Musik interessierte er sich für die Malerei. Gelegentlich waren unter seinem Pinsel durchaus künstlerische Werke entstanden. Ein metallener Glastisch mit sechs Beinen stand etwas abgewinkelt inmitten des eher spartanisch eingerichteten Raumes. Das Büro war ordentlich aufgeräumt. Alles war fein säuberlich geordnet an seinem Platz. Ein brauner Füllfederhalter mit goldenen Beschlägen lag neben einem weissen Laptop. Eine breite und hohe Fensterfront erhellte den Raum und eine geschmackvoll moderne Stehlampe verlieh dem Raum eine angenehme Beleuchtung.

"Bitte setzen Sie sich doch." Sie verwies ihn freundlich auf einen Stuhl am Schreibtisch und klappte am Laptop den Bildschirm hoch. Mit einem hellen Piepsen startete dieser seine Arbeit.

"Wie lange dauerte denn die Anreise aus der Schweiz?" Offensichtlich war sie es gewohnt bei kleinen Pausen ihre Geschäftspartner in den Mittelpunkt zu stellen. Ganz im Sinne eines menschlichen Mitteilungsbedürfnisses, 'lass den Menschen von sich erzählen und die leere Zeit ist gerettet'. Beiläufig begann sie mit ihrer Frage das Gespräch und legte einige Unterlagen bereit. Eigentlich verpönte er jegliche Form von Smalltalk, degoutierte kommunikative Notausgänge.

"Etwas mehr als 10 Stunden von Appenzell bis Dagebüll." Eigentlich war ihm jetzt nicht nach schnöder Plapperei zumute. Allmählich machte sich auch eine gewisse Müdigkeit bemerkbar. 'Durchhalten und durch!'. Er fasste eine klare Parole.

"Erstaunlicherweise ist die Zeit aber schneller vergangen als ich erstlich befürchtet hatte. Wichtig ist ein guter Sound und genügend CD's, dann lässt sich das schon machen."

"... und ein paar Pausen." Erwartungsvoll ordnete sie ihren Schreibtisch, auf dem es aus der Sicht von Julian kaum noch etwas zu ordnen gab. 'Clean Desk' hiess wohl das moderne Zauberwort.

"Klar, ein paar kurze Pausen lagen schon drin. Die Raststätten sind zwar nicht wirklich der Brüller. Ich war aber ehrlich gesagt ziemlich erstaunt, wie sauber und gepflegt die heutzutage sind."

"Da haben Sie recht. In diesem Bereich hat sich einiges geändert in den letzten Jahren. Sie waren noch nie zuvor an der Nordsee?" Sie blickte ihn fragend an.

'Also ob sie das nicht wüsste!' dachte Julian und blieb gelassen.

"Bis jetzt gab es noch keinen Grund für mich hierher zu reisen. Obschon das Wasser eigentlich zu meinen bevorzugten Elementen gehört. Die Berge liegen mir aber irgendwie näher." Wahrscheinlich war diese Bemerkung etwas zu hart formuliert, sinnierte er kurz.

"Obschon ich muss zugeben, dass mich die ungewohnte Ausdehnung hier sehr beeindruckt - und die Ladys natürlich." Ihre geschäftliche Steifigkeit provozierte. Eine Bemerkung zweiten Grades konnte zur Auflockerung nicht schaden.

"Gegenfrage. Waren Sie jemals in der Schweiz?"

"Sehen Sie, da muss ich jetzt passen. Bis jetzt hat es mich noch nie in die Schweizer Berge verschlagen." Sie reagierte verklüngelt.

"Ich wäre dann soweit. Haben Sie die nötigen Papiere dabei?" Offensichtlich war sie wieder in ihrem Element und der Smalltalk überwunden.

"Ich hoffe es fehlt nichts. Hier sind meine amtlichen Papiere, die Sie mir angegeben haben."

"Besten Dank." Aufmerksam nahm sie die Unterlagen entgegen.

"Und ich kann Ihnen wirklich nichts anbieten, Herr Sutter?"

"Nein danke. Das ist schon in Ordnung."

"Gut, Herr Sutter. Dann beginnen wir gleich mit den gesetzlichen Formalitäten." Sie zog ein paar Dokumente aus einer glänzenden Aktenmappe.

"Gemäss den vorliegenden Papieren, bestätige ich Ihnen die Richtigkeit Ihrer Identität. Sie sind Herr Julian Sutter aus Appenzell in der Schweiz, wie ich aus ihrem Ausweis entnehme. Dann ist diese Formalität schon mal geklärt." Zufrieden machte sie ihre Notizen und griff nach weiteren Dokumenten.

"Das hier ist der offizielle Erbschein." Sie hielt ihm das amtliche Papier entgegen.

"Den Erbschein?"

"Der Erbschein ist in Deutschland ein amtliches Zeugnis in Form einer öffentlichen Urkunde nach §417 ZPO, das für den Rechtsverkehr feststellt, wer Erbe ist und welchen Verfügungsbeschränkungen dieser unterliegt." Behlendörp antwortete in einem erschreckend trockenen Juristenjargon.

"Kann ich davon ausgehen, dass Sie grundsätzlich daran interessiert sind, das Erbe anzutreten, Herr Sutter?" Die Füllfeder wanderte bereits ohne Deckel durch ihre Finger. Offensichtlich hatte sie es eilig.

"Im Grunde genommen, ja, Frau Behlendörp", liess er sie wissen.

"Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen müsste?" Ihre Eile verunsicherte.

"Also ehrlich gesagt, Frau Behlendörp. Wenn das Anwesen hoch verschuldet ist, dann habe ich nicht die finanziellen Mittel dafür aufzukommen. Dann sieht die Sache für mich anders aus." Er stellte sie vor klare Tatsachen.

"Lastet ganz konkret eine Schuld auf dem Erbe?" Seine Frage war klar und deutlich. Er hasste die Arglistigkeit des Kleingedruckten.

"Diesbezüglich kann ich Sie beruhigen, Herr Sutter." Die Anwältin senkte verhalten ihren Kopf und blickte geschäftig auf die Dokumente.

"Es handelt sich um ein sehr altes Anwesen. Das muss ich natürlich unumwunden einräumen." Mit seiner Äusserung schien Julian auf einen wunden Punkt gestossen zu sein. Klar und deutlich hatte er ihr Vorsicht signalisiert.

"Das Gebäude ist jedoch seit langem nicht mehr mit einer Hypothek belastet. Der Erblasser hatte sogar eine gewisse Summe für den Unterhalt des Anwesens hinterlassen." Zweifellos versuchte sie ihn mit einer Verlockung zu erreichen.

"Okay. Aber was heisst alt, Frau Behlendörp?"

"Meines Wissens gegen 250 Jahre." Offensichtlich war ihr diese Antwort nicht leicht gefallen. Erwartungsvoll harrte sie seiner Reaktion.

"250 Jahre. Wow. Das heisst 18.Jahrhundert?" Damit hatte Julian nicht gerechnet. Das Haus auf dem Bild war sichtlich nicht mehr das jüngste. Dennoch war bei einem derart unerwartet alten Haus mit einigen Kosten zu rechnen. Kosten, die er vielleicht nicht würde aufbringen können.

"Genau genommen, wurde das Jansen Haus um 1772 erbaut." Behlendörp präzisierte.

"Ich nehme mal an, das Alter wird kaum etwas über den effektiven Zustand des Hauses aussagen. Es wurde wohl gelegentlich renoviert - oder?"

"Sicher. Bei diesem Alter ist das sicherlich so. Gemäss den Unterlagen wurden immer wieder kleinere Veränderungen und Neuerungen vorgenommen." Julian war erleichtert.

"Zu Ihrer Aussage von vorhin. Was bedeutet eine gewisse Summe?" Er war gespannt und sie schaute ihn mit ernster Miene an.

"Sehen Sie Herr Sutter. Das ist vielleicht das einzige Problem." Verhalten schloss sie die Mappe.

"Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, hat es einige Zeit gedauert, bis die Erbschaftsangelegenheit geklärt werden konnte. Ihr Verwandter Mangens Jansen war keine vermögende Persönlichkeit." Das war nicht weiter verwunderlich. Niemand aus seiner Verwandtschaft war jemals zu grossem Vermögen gekommen. Abgesehen wurde die Bescheidenheit stets hoch gehalten in seiner Familie. Behlendörp fuhr fort.

"Während der vergangenen Zeit, also genauer gesagt, der letzten Jahre, musste der letzte Rest des hinterlassenen Vermögens in die Liegenschaft investiert werden. Das einstige Vermögen ist im Grunde genommen so gut wie aufgebraucht." Sie hatte die Katze aus dem Sack gelassen. Etwas anderes hatte er nicht erwartet. Geldgier war noch nie seine Stärke und im Grunde genommen war ihm diese Antwort einerlei. Nichts gewonnen, nichts zerronnen.

"Jahre?"

"Jahre! Das ist korrekt. Die Suche nach einem Erben hat tatsächlich ein paar Jahre gedauert." Seine Konsternierung war offensichtlich.

"Zu unserer Entlastung muss ich jedoch erklären, dass es nicht an unserer Arbeitsweise gelegen hat. Mangens Jansen war keine einfache Angelegenheit. Sie werden sicherlich anderweitig mehr darüber in Erfahrung bringen können."

"Okay, soweit habe ich das verstanden. Können Sie mir aber versichern, dass ich mit meiner Unterschrift keinen Schuldenberg übernehme?"

"Das kann ich Ihnen durchaus versichern. Das Haus ist so gesehen in einem schuldenfreien Zustand. Zweifellos werden sie jedoch für die Unterhaltskosten aufkommen müssen, wenn es in Ihren Besitz übergeht." Sie liess keine Zweifel über die Auslagen offen. Zumindest nur die Kosten für den gewöhnlichen Unterhalt. Julian war erst einmal erleichtert.

"Es liegt natürlich an Ihnen, ob sie die Liegenschaft letztendlich wieder veräussern. Ich bin mir sicher, dass es Interessenten geben würde. Wir sind jedoch erstlich froh, die Erbfolge geklärt zu haben und den Unterhalt der Liegenschaft wieder in die Obhut einer erbberechtigten Person zu legen."

"Eine erbberechtigte Person? Das klingt interessant. Dann werden Sie mich sicherlich noch über die genaue Erbschaftslinie informieren, nehme ich an?" Das war der Moment auf den Julian gewartet hatte. Über welche familiären Verwickelungen war er in diese Situation geraten?

"Natürlich, Herr Sutter. Das kann ich Ihnen sofort genauer erläutern. Darf ich Sie aber noch um etwas Geduld bitten. Ich würde gerne mit den Formalitäten weiterfahren."

"Klar."

"Die Erteilung eines Erbscheins setzt die Erbschaftsannahme voraus", fuhr sie weiter.

"Diese haben Sie mir somit mündlich bestätigt. Darf ich das so annehmen?" Die Frage stand im Raum. Seine Antwort war entscheidend für die weiteren Schritte. Im Grunde genommen hatte sie seine Bedenken ausgeräumt. Ausser Zweifel war sie eine Geschäftsfrau. Sie wirkte dennoch vertrauenswürdig. Er hatte ein gutes Gefühl.

"Grundsätzlich, Ja. Wie Sie gesagt haben. Ich kann ja immer noch verkaufen." Julian hörte die Münzen klimpern. Zumindest war diese Option beruhigend.

"Wir waren beim Erbschein." Sie notierte seine Zusagen und fuhr weiter.

"Dieser weist gemäss §2353 die Erben und – im Falle der Erbengemeinschaft – den Anteil der Miterben am Nachlass aus. Ferner verweist er auf Beschränkungen des Erbrechts. z.B. die Anordnung der Testamentsvollstreckung §2364 BGB und die Anordnung der Vor- und Nacherbschaft §2363 Abs. 1 BGB." Sie war wieder zu der trockenen Geschäftsfrau mutiert.

"Ihr Juristenjargon klingt für mich ziemlich kompliziert. Etwas einfacher wäre mir lieber. Ich nehme an es wird schon stimmen." Julian war kein Mann von Formalitäten und der Paragraphenreiterei. Er neigte zu Sarkasmus, wenn er sich mit ihnen zu befassen hatte. Auf alle Fälle führten sie ihm immer jenen Lachanfall von Bundesrat Hans-Rudolf Merz vor Augen, als dieser im September 2010 im Bundeshaus in Bern die Frage beantworten musste, warum immer mehr fertig gewürztes Fleisch in die Schweiz importiert werde.

"Das ist natürlich so. Aus formellen Gründen bin ich verpflichtet, Sie auf gewisse juristische Zusammenhänge aufmerksam zu machen." Sie spürte seine humoreske Haltung und lächelte.

"Okay, ich verstehe. Das ist schon in Ordnung."

"In Ihrem Fall geht es um das Grundstück in Nieblum mit dem dazugehörigen Gebäude. Gesetzliche Regelungen gibt es insbesondere im Hinblick auf Grundstücke: Der Nachweis des Erbrechts gegenüber dem Grundbuchamt kann nur durch Erbschein erbracht werden §35 Abs. 1 Satz 1 Grundbuchordnung." Sie schaute ihn an. Er durch das Fenster zum Himmel.

"Die Erledigung der Formalitäten mit der Gemeinde Nieblum, wurde von uns bereits in die Wege geleitet. Wenn Sie also einverstanden sind, das Wohnhaus mit dazugehörigem Grundstück von einer Fläche von rund 3000 Quadratmeter und somit die Erbschaft anzutreten, dann bitte ich Sie hier zu unterschreiben." Sie überreichte ihm das Dokument. Nachdenklich studierte Julian das amtliche Papier.

"Ich hätte da noch eine kleine Frage, Frau Behlendörp. Wir haben das Thema vorhin schon einmal angesprochen."

"Ja bitte." Sie staunte ihn an, war sich eigentlich der Unterschrift sicher.

"Kurz vor meiner Abreise in Appenzell, erhielt ich noch dieses ominöse Schreiben von einem Dr. Jaspers Godbersen, aus Hamburg." Er hielt ihr das Kaufangebot entgegen. Sie runzelte die Stirn, nahm es staunend an sich und las die Zeilen.

"Wissen Sie vielleicht was das soll?" Gespannt wartete er auf ihre Reaktion.

"Das ist mir ehrlich gesagt unerklärlich" Konsterniert las die Anwältin die Zeilen, wurde sichtlich nachdenklicher. Offensichtlich war sie von dem Schreiben überrascht.

"Ich muss zugeben ich bin etwas überrumpelt, Herr Sutter." Aufmerksam studierte sie den Briefkopf und den Umschlag.

"Hamburg." Sie räusperte sich verlegen.

"Eigentlich wurde in dieser Angelegenheit nichts öffentlich publiziert. Zumindest nicht von unserer Kanzlei. Es ist natürlich möglich, dass im Zuge unserer langwierigen Ermittlungen, gewisse Informationen durchgesickert sind." Das Schreiben hatte sie offensichtlich beunruhigt.

"Natürlich wurden aus dem familiären Umfeld von Mangens Jansen einige in Frage kommende Personen kontaktiert. Ein Herr Godbersen war aber ganz sicher nicht dabei." Die Sache war ihr zweifellos peinlich. Zumal sie die Kontrolle über gewisse Vorgänge verloren hatte. Sie bemühte sich professionell dieses Missgeschick zu verbergen.

"Nun denn!" Julian nahm den Brief wieder an sich, steckte ihn zurück in die Sakkotasche.

"Für mich ist das nicht weiter tragisch. Ich war natürlich etwas verwundert. Eigentlich habe ich selber daran gedacht, das Erbe zu verkaufen. Ich meine, die Schweiz liegt nicht gerade an der Nordsee. Das ist kein Geheimnis. Ein Verkauf liegt für mich nahe."

"Es liegt letztendlich an Ihnen, Herr Sutter, was Sie mit der Erbschaft machen. Sie sind die einzige erbberechtigte Person. Sobald Sie juristisch das Erbe angenommen haben, liegt alles Weitere in Ihrem eigenen Ermessen." Sie schien noch immer von dem Brief absorbiert, reagierte inadäquat, faltete nervös die Hände zusammen und spielte mit den Fingern.

"Könnten Sie mir bitte noch kurz die Nachforschungen bezüglich der Erbfolge erläutern? Irgendwie möchte ich vor meiner Unterschrift genauer erfahren, wie ich zu dieser Ehre der Erbschaft gekommen bin."

"Ja, natürlich, wie Sie wünschen." Sie begann fahrig in den Papieren zu wühlen.

"Also die Erbfolge." Sie zog ein Dokument mit einem goldglänzenden Briefkopf aus ihrer Mappe.

"Das hier sind die Ergebnisse unserer sehr langen Recherchen." Sie reichte ihm das Papier. Wissbegierig vertiefte sich Julian in den Stammbaum seiner komplizierten familiären Verbindungen. Niemals zuvor hatte er eine solche Gelegenheit.

"Wirklich sehr Interessant." Erfolglos versuchte er irgendwelche bekannte Personen zu finden. Er schmunzelte, war etwas enttäuscht. Die Namen waren ihm so gut wie unbekannt.

"Könnten Sie mir die Zusammenhänge etwas genauer erläutern? Irgendwie habe ich überhaupt keinen Überblick." Freundlich bat er die Anwältin um etwas Hilfe. In seinen Augen herrschte auf dem Papier das reine Chaos. Unleserliche Namen und Jahreszahlen verwirrten ihn.

"Natürlich, gerne!" Sie beugte sich näher über den Tisch und legte ihren Zeigefinger auf die Unterlagen.

"Also nochmals von vorne. Wenn ich Ihren Brief richtig verstanden habe, war der Erblasser ein Herr Mangens Jansen?"

"So ist es. Der Erblasser war Mangens Jansen." Behlendörp begann die Dokumente fein säuberlich zu ordnen und zu erklären.

"Ich muss zugeben, Ihre Familiengeschichte ist nicht ganz einfach. Es gab einige Unklarheiten zu klären. Der Erblasser, Mangens Jansen selbst, blieb kinderlos." Behlendörps Zeigefinger wanderte über das Papier, zeigte auf Namen und Jahreszahlen.

"Er hatte jedoch eine Schwester. Diese hiess Molid Bandixen. Sie lag somit in der direkten Erbfolge. Leider verstarb sie früh. Sie war mit einem Päder Hellquist verheiratet. Das sehen Sie hier." Sie hielt noch immer den Finger auf das Dokument und fuhr weiter mit ihren Erläuterungen.

"Aus dieser Heirat entsprang eine Tochter, genannt Pöpke Hellquist. Sie war mit einem Urben Hofmann verheiratet, woraus wiederum ein Sohn entsprang, Rauert Hofmann. Dieser heiratete eine Seike Volkerts. Aus dieser Verbindung ging nebst anderen Geschwistern eine Tochter, genannt Eike Hofmann hervor, welche wiederum einen Ooners Lorenzen heiratete."

"Das klingt alles sehr interessant. Es sind alles Namen, die ich noch niemals zuvor in meiner Verwandtschaft gehört habe." Mit dieser Namensflut wusste er nichts anzufangen. Nach wie vor suchte er nach der konkreten Verbindung zu seiner Person.

"Entschuldigen Sie die Unterbrechung." Julian hielt sich die Hand vor den Mund. Ihre Theorie war ermüdend. Er gähnte verstohlen.

"Wo waren wir stehen geblieben? Bei der Hochzeit von Ooners Lorenzen mit Eike Hofmann." Sie fuhr gelassen fort.

"Aus dieser Ehe entsprangen ein Sohn, namens Maads Lorenzen, welcher sich mit Antje Krüss vermählte. Deren Tochter Anna Lorenzen verband sich wiederum mit einem Sönk Löfstedt. Diese beiden waren Ihre Grosseltern mütterlicherseits." Endlich wurde die Sache für Julian greifbar. Die Grosseltern waren eine erkennbare Grösse in der ganzen Angelegenheit.

"Das ist korrekt. Jetzt bekommt das Ganze für mich etwas Licht." Julian bestätigte aufmerksam und las interessiert die Namen auf dem Papier.

"Aus dieser Ehe entsprang ihre Mutter, Lucia Löfstedt, die sich wiederum mit Aurel Sutter, Ihrem Vater aus Appenzell verheiratete."

"Das klingt wirklich ziemlich verworren. Ich frage mich aber, warum sich bis heute keine weiteren Erben finden lassen? Die Ahnenreihe ist doch ganz ansehnlich."

"Da haben Sie natürlich Recht, Herr Sutter. In der Regel waren die Familien kinderreich. Nicht so bei Ihren Vorfahren. Das hat auch mich sehr verwundert." Sie teilte sein Erstaunen.

"Gibt es dafür eine Erklärung?"

"Die gibt es tatsächlich. Im 19. Jahrhundert kam es auf Föhr zu einer grossen Auswanderungswelle in die USA. Im Zuge dieser Entwicklung sind viele Auswanderer verschollen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass wir uns gemäss dem Wunsch des Auftraggebers, längere Zeit eingehend mit Ihrer Ahnenreihe beschäftigt haben. Offensichtlich sind in Ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits nie grosse Familien hervorgegangen. Vielfach sogar lediglich Einzelkinder."

"Das wäre eine Erklärung. Aber was meinen Sie mit Auftraggeber?" Julian reagierte verwundert. Ihre Bemerkung war in seinem Bewusstsein geblieben. Mangens Jansen war gestorben, Nachfahren verschollen oder unauffindbar - mit seiner Ausnahme. Wer konnte also als Auftragsgeber fungieren?

"Oh, Entschuldigung! Sagte ich eben Auftraggeber?"

"Ja, das haben Sie."

"Ich meinte natürlich, im Sinne des Erblassers."

"Okay." Julian blieb misstrauisch, dennoch entschuldigend. In gewisser Weise hatte sich für ihn die Sachlage geklärt. Die Familiengeschichte seiner Mutter war immer ein dunkles Geheimnis. Es wurde nie darüber gesprochen. Das waren die ersten Fakten die er darüber zu Ohren bekam. Auf alle Fälle hatten sie ihn nachvollziehbar in den Besitz einer ansehnlichen Erbschaft gebracht.

"Darf ich Sie nun um Ihre Unterschrift bitten, Herr Sutter." Erneut reichte sie ihm lächelnd und erwartungsvoll die Füllfeder. Vertrauensvoll verliess er sich auf ihre Aussagen. Trotz ihrer Erläuterungen blieben für ihn die genauen Zusammenhänge erstlich einmal eine familiäre Theorie. Abgesehen davon machte sich allmählich die Müdigkeit bemerkbar. Die nächtliche Dauerfahrt war wohl doch nicht so spurlos an ihm vorüber gegangen wie angenommen. Er war allmählich froh, die ganze Angelegenheit und den Formularkrieg hinter sich zu bringen. Zuversichtlich griff er nach der Feder und setzte beruhigt seine Unterschrift. Blaue Tinte auf weisses Papier.

"Herzlichen Dank, Herr Sutter. Somit sind Sie nun glücklicher Besitzer einer Liegenschaft in Nieblum auf Föhr." Zufrieden schloss sie die Akten und erhob sich erleichtert von ihrem Stuhl.

"Kann ich Ihnen noch immer keinen Kaffee anbieten?"

"Einen Kaffee würde ich jetzt nicht ausschlagen - gerne." Julian erhob sich von dem bequemen Stuhl, streckte diskret seine Glieder und folgte der Anwältin an eine stilvoll eingerichtete Bar. Sie hantierte an der Kaffeemaschine, überreichte ihm die warme Tasse und verliess kurz den Raum. Kurz darauf legte sie einen alten gusseisernen Schlüssel auf die Theke.

"Dieser Schlüssel gehört nun Ihnen. Er ist Teil der Erbmasse. Leider weiss niemand in welches Schloss er passt. Das ist ein kleines Mysterium. Ich habe gemäss einem alten und kurzen Schreiben des Erblassers den Auftrag, diesen einem neuen Besitzer oder Besitzerin zu überreichen. Vielleicht haben Sie die Zeit und Gelegenheit das passende Schloss zu finden." Sie lächelte geheimnisvoll. Verblüfft griff er nach dem alten Schlüssel. Dieser war klein und alles andere als modern. Seine Farbe war matt und das Metall wies leichte Rostspuren auf. Für seine Grösse war er erstaunlich schwer.

"Und man weiss nicht wohin er gehört?"

"Nein. Das weiss man nicht. Seit er sich in unserem Besitz befindet, wurde nie danach geforscht. Das war auch nicht unsere Aufgabe. Gemäss dem Erblasser sollte er wie erklärt, an den Erben des Hauses übergeben werden. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht darüber sagen."

"Geheimnisvoll.!" Julian nahm einen Schluck aus der Tasse.

"Das ist es." Sie sass ihm aufrecht gegenüber. Gerader Rücken, gestreckter Hals. Lächelte ihn an. Sie mochte starke Männer.

"Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie jetzt nach Nieblum zur Liegenschaft und in Ihre Unterkunft begleiten. Sie wollen sich sicherlich etwas ausruhen."

"Das wäre sehr nett von Ihnen - danke." Julian nahm einen letzten Schluck und schob die leere Tasse beiseite.

"Warum eigentlich in eine Pension? Ist die Liegenschaft nicht bewohnbar? Ich nehme an, es ist noch eine Einrichtung von Jansen vorhanden?"

"Ihre Frage ist durchaus verständlich, Herr Sutter." Die Frage war ihr unangenehm. Unverkennbar suchte sie einen kurzen Moment nach einer passenden Antwort.

"Das Haus ist sehr wohl bewohnbar. Ich war mir jedoch ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob es zur Unterschrift kommt. Nicht jede Erbschaft wird angenommen. Daher habe ich Ihnen, wie versprochen vorsorglich ein Zimmer reserviert. Eine Stornierung ist aber kein Problem."

"Dann schlage ich vor, Sie zeigen mir als erstes das Haus. Vielleicht bleibe ich gleich dort. Ich habe keine Fünf Sterne Ansprüche. Abgesehen davon haben Sie mich auf ein 250 Jahre altes Haus vorbereitet. Ich habe keine Millionenvilla erwartet."

"Wie sie wünschen." Sie kramte in einer Schreibtisch-Schublade und zog einen glänzenden Schlüsselbund hervor.

"Den werden wir benötigen. Er gehört zum Haus." Feierlich legte sie ihn Julian in die Hand.

"Aber von dem weiss man zumindest, zu welchem Herz der gehört?" Julian scherzte. Für einen kurzen Flirt war immer die richtige Gelegenheit. Sie wirkte wieder etwas aufgeschlossener.

"Ganz bestimmt, zur Haustür."

"Besten Dank. Ich bin wirklich sehr gespannt."

"Dann lassen Sie uns gehen. Mein Wagen steht nicht weit von hier beim Heymanns Parkplatz."

"Super." Julian folgte der Anwältin aus dem Büro. Das laute Klappern ihrer Stöckelschuhe schallte kurz darauf wieder durch das edle Foyer. Mit einem kräftigen Schwung hatte sich Julian das Gepäck auf den Rücken geworfen und den Gitarrenkoffer fest im Griff. Per Knopfdruck öffnete sich mit einem leisen Summen die Haustür. Schweigend folgte Julian seiner ortskundigen Führung durch die mittlerweile belebte Strasse. Staunend blickte er sich um und studierte aufmerksam die Geschäfte. Zwei oder drei Wochen wollte er an diesem Ort verbringen. Es wäre sicherlich ratsam bereits einige Läden zu kennen. Wartend standen sie an der Hauptstrasse. Der Verkehr war nicht wenig. Unerwartet kreuzte die unbekannte Schöne auf dem Fahrrad ihren Weg. Ihre schneeweisse Mütze und die Stulpen blitzten in der Sonne. Zu seinem Erstaunen winkte sie mit einem kurzen Lächeln seiner Begleiterin.

"Offensichtlich sind Sie auf der Insel bekannt, Frau Behlendörp." Er schmunzelte. Nicht ohne die verborgene Absicht, vielleicht auf diesem, unscheinbaren Wege etwas über die unbekannte Schöne zu erfahren."

"Das kann man sicher so sagen. Das bringt mein Beruf mit sich" Sie winkte lächelnd zurück. Kurz darauf war die Unbekannte bereits wieder hinter einer Biegung verschwunden.

"Unsere Kanzlei existiert auf Föhr bereits seit Generationen. Es gibt kaum jemand auf der Insel, dessen Erbangelegenheiten nicht irgendwann von unserer Kanzlei geregelt wurden. Natürlich haben sich in neuerer Zeit auch andere Kanzleien niedergelassen. Das wäre für uns mittlerweile gar nicht mehr alleine machbar", erklärte sie sichtlich mit Stolz.

"Studienkollegen, sozusagen."

"Ganz genau." Unweit startete ein älterer Mann ein aussergewöhnliches Vehikel. Ein selbst gebautes Gerät zwischen einem Fahrrad und einem Motorroller. Knatternd und mit qualmendem Motor fuhr er davon.

"Wir sind gleich beim Parkplatz", liess ihn Behlendörp wissen und kramte in ihrer Tasche nach dem Auto-Schlüssel.

"Interessante Strassennamen." Julian studierte die Beschilderungen.

"Boldixumerstrasse, klingt irgendwie nach Asterix und Obelix." Er scherzte und lachte.

"Ja, da haben Sie recht. Manche Strassen haben wirklich interessante Namen", bestätigte sie.

"Dort drüben ist mein Parkplatz." Zielstrebig marschierte sie zu einem goldfarbenen Wagen.

"Sie mögen SUVs?" Julian zeigte sich erstaunt. Diese Sport Utility Vehicle galten nicht unbedingt als Lieblinge des zarten Geschlechts.

"Im Winter ist es ganz angenehm, einen Allrad zu haben", reagierte sie freundlich.

‚Hyundai IX35. Ich glaub‘s nicht. Die fährt die gleiche Karre‘, dachte er verblüfft über diese Fügung. Er verstaute sein Gepäck und setzte sich auf den Beifahrersitz.

"Ich fahre genau denselben. Als Beifahrer ist das eine ganz neue Erfahrung."

"Das ist wirklich ein Zufall. Sind Sie zufrieden?" Smalltalk war wieder angesagt. Zumindest war das Thema in Ordnung.

"Voll und ganz zufrieden. Ist es weit bis Nieblum?" Er zog am Sicherheitsgurt und schnallte sich fest.

"Nein, überhaupt nicht. Es sind nur knapp vier Kilometer." Sie lächelte und sicherte sich mit dem Gurt.

"Zu Fuss oder mit dem Fahrrad!" Sie war bei guter Laune.

"Ach wirklich! - Aussergewöhnlich", quittierte er grinsend.

"Also knapp 7 Minuten", dachte er und blickte aus dem Fenster.

"Föhr ist nicht sehr gross. Unsere Insel ist knapp 12 Kilometer lang und etwa 8 Kilometer breit." Zufrieden begann sie sich als Reiseleiterin.

"Unsere höchste Erhebung mit 13 Metern ist Geest. Das liegt zwischen Nieblum und Midlum. Da sind Sie in der Schweiz wohl etwas anderes gewohnt." Sie lachte verschmitzt über diese Situationskomik und griff nach einer Broschüre.

"Das ist unser offizieller Inselführer. Sie werden ihn sicher gebrauchen können."

"Besten Dank, das werde ich sicher." Interessiert nahm er die Broschüre entgegen, steckte sie in seine Tasche.

"Also wenn ich ehrlich bin, dann klingen für mich als Schweizer 13 Meter wie ein Scherz." Er hatte fast schon ein schlechtes Gewissen über diese Bemerkung. Sie war leider eine Tatsache. Irgendwie verspürte er ein schmerzliches Mitgefühl für die Bewohner dieser Insel. Ihre Begeisterung für diese Meter vermochte er nicht zu teilen. Für sie waren aber 13 Meter tatsächlich verdammt hoch. Eine rettende Höhe bei Fluten und Sturm.

"Verstehen Sie das bitte nicht falsch, Frau Behlendörp. Wir haben 48 Viertausender in der Schweiz. Man kann das wahrscheinlich nicht vergleichen. Hier sind 13 Meter sicherlich extrem hoch. Dafür ist bei uns alles sehr eng." Er versuchte die Sache diplomatisch zu regeln.

"Wow, das wusste ich nicht. 48 Viertausender. Das ist wirklich erstaunlich." Sie startete den Motor und fuhr aus der Parklücke.

"Am besten, Sie fahren von hier auf die L214." Sie lenkte den Wagen auf die Strasse.

"Auf unserer Insel sieht alles etwas grösser aus als es ist. Mit dem Wetter haben wir heute Glück. Fast Wolkenlos!" Sie blickte sich um – freie Fahrt.

"Föhr ist wie gesagt nicht sehr gross. Mit dem Wagen können Sie eigentlich jeden Ort sehr schnell erreichen. Es fährt auch ein Inselbus." Sie begann mit einer kurzen aber schwärmerischen Erklärung.

"Wir haben zwölf Dörfer." Sekunden später bremste sie an einer Strassenkreuzung.

"Am besten Sie mieten sich die nächsten Tage ein Fahrrad und erkunden die Umgebung. Ich glaube es gibt etwa 14 Fahrradvermietungen." Aufmerksam wartete sie auf das grüne Licht der Ampel.

"An dieser Kreuzung fahren Sie einfach geradeaus weiter. Eigentlich kann man sich auf der Insel überhaupt nicht verfahren. Egal wo Sie landen. Irgendwann kommen Sie wieder zurück nach Wyk." Sie schmunzelte schelmisch, gab Gas und überquerte die Strassenkreuzung.

"Hier ist bereits die Stadtgrenze." Kaum war eine Minute seit der Kreuzung im Ort vergangen, zeigte sie auf die offenen Felder.

"Es scheint viel Landwirtschaft zu geben."

"Das ist so Herr Sutter. Föhr ist seit jeher eine sehr fruchtbare Bauerninsel. Es existieren noch ungefähr 75 Vollerwerbsbetriebe, mit durchschnittlich 70 Hektar Land. Von den 6200 Hektar unserer Insel, werden 1500 als Ackerland und etwa 4700 als Grünland für Weiden verwendet."

"Da spricht aber die Expertin - wow. Ich staune." Interessiert schweiften seine Augen durch die Landschaft.

"Das täuscht! So unglaublich es klingt, aber es leben tatsächlich etwa 11.000 Rinder auf der Insel."

"Unglaublich. Ich gebe zu, dass ich Föhr etwas unterschätzt habe. Meine Informationen und Bilder sind lediglich aus dem Internet."

"Das da vorne ist bereits Nieblum. Kurz vor dem Dorfeingang beginnt die Jens-Jacob-Eschels Strasse. Das ist sozusagen die Hauptstrasse von Nieblum."

"Jacob Eschels? Irgendwo habe ich den Namen schon mal gehört oder gelesen."

"Das ist gut möglich." Sie schaute ihn von der Seite an, lächelte.

"Eschels wurde 1757 in Nieblum geboren. Er ist so eine Art Inselberühmtheit, ging als Walfänger zur See und wurde Kapitän. Berühmt wurde er eigentlich erst durch seine Memoiren, 'Lebensbeschreibungen eines alten Seemanns', die er Mitte des 19.Jahrhunderts für seine Kinder und Enkel hinterlassen hat." Allmählich kam die Ortschaft näher.

"Sein Geburtshaus steht übrigens noch immer in Nieblum, direkt neben dem Friesendom, bzw. der St. Johannis Kirche. Es ist in Privatbesitz und leider nicht öffentlich zugänglich."

"Wahrscheinlich habe ich darüber im Internet gelesen. Ich erinnere mich an die Geschichte. Die Seefahrt und die Nordsee waren ehrlich gesagt bis anhin für mich kaum ein Thema." Dieses Defizit war ihm jetzt fast schon etwas peinlich. Wer hätte gedacht, dass dies in seinem Leben von so grosser Wichtigkeit werden sollte.

"Wir sind gleich da." Sie verwies ihn auf das Strassenschild; Nieblum, Kreis: Nordfriesland.

"Ab hier beginnt die Pflastersteinstrasse durch den Ort. Am besten prägen Sie sich von hier an den Weg ein, Herr Sutter. Es ist aber eigentlich ganz einfach." Sie bremste und folgte langsam dem Strassenverlauf. Interessiert bestaunte Julian die schmucken Backsteinhäuser. Vereinzelt waren sie mit Reetdächern gedeckt. Klappernd machte sich das Kopfsteinpflaster unter den Reifen bemerkbar. Gemächlich steuerte Behlendörp durch die enge Dorfstrasse. Café Kohstall, Altes Friesisches Teehaus, Café Cappuccino, Frischemarkt Hückstädt, Restaurant zum Schlachter. Aufmerksam merkte er sich die Gebäude, versuchte sich die Namen einzuprägen auf der von Bäumen gesäumten Durchgangsstrasse.

"Beim Restaurant Lohdeel, dort vorne geht es links ab." Sie bog in die schmale Strasse. Heidweg, las Julian auf einem grünen Strassenschild.

"Natürlich gibt es auch einen anderen Weg zum Haus. Dort hinten über die Rundföhrstrasse, den Uasteraanjstich und über den Zwischenweg." Sie zeigte zwischen die Häuser.

Ich bin mir sicher, Sie werden das im Laufe der Zeit alles selber herausfinden, wenn Sie sich etwas mehr auskennen auf der Insel."

"Ein netter kleiner Weiher. Ein schönes Bild mit den weissen Strandkörben auf der Wiese dort drüben." Julian versuchte sich den Weg einzuprägen.

"Wow - aber endlos viel Federvieh."

"Wir nennen die Ecke ‚an der Meere." Sie steuerte das Fahrzeug auf der schmalen Strasse vorbei an kleinen Häuserzeilen. Das Buschwerk wurde dichter und führte durch einen kleinen Wald.

"Café Osterheide, klingt nett." Julian studierte bei der kurzen Vorbeifahrt die Menü Tafel.

"Ich habe Ihnen hier vorsorglich ein Zimmer reserviert. Falls Sie es denn wirklich brauchen."

"Danke. Ich werde mich dann entscheiden wenn wir dort sind. Ist es eigentlich noch weit?" Offensichtlich war der Dorfrand erreicht. Die letzten Häuser lagen hinter ihnen und die Fahrt ging wieder auf das offene Feld hinaus in Richtung Meer.

"Nein, wir sind gleich da. Das Haus liegt zwischen Goting Kliff und Nieblum. Wenn Sie von hier aus rechts in Richtung des Wäldchens blicken, können Sie es vielleicht schon erkennen. Es liegt etwas verborgen. Zumindest das Dach ragt aus den Bäumen." Sie verlangsamte die Fahrt und zeigte in die genannte Richtung.

"Ach ja? Ich bin wirklich gespannt. Ehrlich gesagt kann ich nichts erkennen." Aufmerksam schweiften seine Blicke in die Ferne. Abgesehen von den vielen Bäumen sah er kein Haus.

"Ich lasse mich überraschen."

"Es liegt tatsächlich etwas verborgen zwischen den Bäumen dort drüben. Aber wir sind sowieso gleich da." Sie gab wieder etwas Gas.

"Da vorne links bei der Lichtung steht das Nieblumer Leuchtfeuer." Erneut verlangsamte sie kurz die Fahrt.

"Interessant. Abgesehen natürlich auf Bildern habe ich noch nie einen echten Leuchtturm gesehen. Eine Freundin aus der Schweiz hat mir kürzlich die Funktionsweise mit den Lichtintervallen erklärt. Das ist ja wirklich hoch interessant." Julian bestaunte das kleine abgezäunte Gebäude mit dem Leuchtfeuer. Tatsächlich durchfuhren ihn bei dem Anblick seltsame Gefühle. Das war kein gewöhnliches Bauwerk. Für die Seefahrt waren sie von unbeschreiblich wichtiger Bedeutung. Unglaublich was dieses unscheinbare Gebäude hinter dem Zaun für eine Aufgabe hatte. Schiffen die Position zu melden und sie vor den Gefahren des Meeres zu warnen oder den sicheren Weg zu weisen. Umgehend erinnerte ihn der Turm an die alten Seefahrerfilme in denen sie an stürmischen Küsten Rettung brachten.

"Die Erhebung da vorne ist ein alter Deich. Dahinter haben Sie einen wunderbaren Ausblick auf die Nordsee."

"Aha, ich dachte schon, wir kommen ins Gebirge." Julian lachte. Langsam überquerten sie die Deichkuppe und folgten weiterhin dem Strassenverlauf. Diese machte hinter dem Deich eine scharfe Kurve.

"Sind wir hier schon am Strand?" Vor dem Wagen türmte sich eine Düne auf.

"Ähm, sozusagen - Ja! Das hier links ist eine Surfschule." Sie lenkte das Fahrzeug erneut über eine langgezogene und schmale Waldstrasse." Irgendwie schien das Anwesen doch ziemlich abgelegen zu liegen. Julian war mittlerweile echt gespannt was ihn erwarten würde. Etwas mehr Dorfnähe wäre ihm doch angenehmer gewesen.

"Offensichtlich liegt das Haus aber ziemlich abseits." Die Strasse war nicht mehr asphaltiert und in einen einfachen Feldweg übergegangen, führte geradewegs in einen unweit gelegenen Wald.

"Sie haben aber nicht vor, mich zu entführen, Frau Behlendörp?" Julian scherzte und wanderte mit seinen Blicken durch die Umgebung. Vereinzelte Radfahrer mit Badesachen kreuzten ihren Weg.

"Sie brauchen sich vor mir nicht zu fürchten. Ich bin nur eine alte Hexe." Sie flachste zurück.

"Oh, es geht zurück in die Zivilisation." Die Strasse war plötzlich wieder asphaltiert. Er lächelte zuversichtlich. Zwischenzeitlich hatte er jegliche Erwartungen und Vorstellungen beiseite geschoben. War offen für alles was nun kommen würde. Unerwartet führte die Strasse zu einer Abzweigung. Lächelnd steuerte die Anwältin das Fahrzeug auf einen mit Gras bewachsenen Feldweg.

"Ja - super. Allmählich wird mir klar, warum Sie einen Allradwagen fahren, Frau Behlendörp." Neugierig hielt Julian Ausschau nach dem Haus. Sie waren offensichtlich in einem Halbkreis gefahren. Der Leuchtturm lag nun durch die Lichtung in einiger Entfernung genau gegenüber. Langsam fuhr sie den Wagen zwischen Bäumen und Gebüschen in eine überraschend breite, ziemlich verwachsene Einfahrt. Plötzlich lag es direkt vor ihnen. Unscheinbar stand es da. Genauso, wie auf der Photographie. Weiss glänzten seine Mauern im Licht der Sonne. Umgeben von Blumenbüschen, zahlreichen Sträuchern und hohen Bäumen stand es am Rand einer kleinen Lichtung. Ein gepflegter Rasen umrahmte das Anwesen, als ob es auf einer Insel stehen würde.

"Wow! Das hätte ich jetzt aber wirklich nicht erwartet nach dieser Anfahrt." Julian war über den unerwarteten Anblick des schmucken Häuschens entzückt. Entgegen seiner Erwartungen war dem Gebäude das Alter nicht anzusehen. Auf den ersten Eindruck war es sehr gepflegt und schien in einem tadellosen Zustand zu sein. Für einen Augenblick rückte die eigentliche Absicht eines Verkaufs in den Hintergrund. Er spürte eine unerklärliche und eigenartige Verbundenheit mit diesem Ort. Gerade so als hätte dieses Haus auf seine Ankunft gewartet und in stiller Freude darüber seine schönsten Seiten präsentiert. Das Weiss der Mauern glänzte makellos in der Sonne wie der Schleier einer Hochzeitsbraut. Dunkelrote Rosenbüsche zierten seine Hausfassade. Im Garten blühten allerlei farbenprächtige Blumen und Kräuter. Eine verwitterte Holzbank stand in der Nähe unter einem alten Baum. Alles wirkte gepflegt und ordentlich.

"So, da wären wir." Behlendörp stoppte inmitten des Hofes das Fahrzeug. Heller Kies bedeckte den Boden. Mit staunenden Augen entstieg Julian dem Wagen. Sprachlos blickte er sich um, holte das Gepäck und seine Gitarre aus dem Kofferraum und stellte es neben den Wagen.

'Das ist wirklich unglaublich. Ich habe das alles einfach so geerbt? Ich komme mir vor wie in einem falschen Film", schoss es ihm durch den Kopf. Beeindruckt schritt er über die kleinen Wege durch den Garten, liess die Umgebung auf sich einwirken. Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte und Ameisen folgten ihrem Pfad. Der Wind rauschte durch die Büsche und strich in Wellen über die Wiese.

"Lassen Sie sich Zeit." Geduldig lehnte sich die Anwältin an ihren Wagen und wühlte in ihrer Tasche. Das war einer der Momente, in dem sie sich in jedem Film eine Zigarette angesteckt hätte. Sie zückte jedoch nach einer kleinen Dose, klappte den Spiegeldeckel, strich sich durch die Wimpern und pinselte in ihrem Gesicht.

Fassungslos lief Julian über die weiche Wiese neben dem Haus. Ein ansehnlicher Rosenbusch wuchs von beiden Seiten über den Hauseingang. Kleine leuchtend rote Blüten boten einen imposanten Kontrast zum strahlenden Weiss des Mauerwerkes. Über dem Eingang thronte in glänzend goldenen Lettern die Jahreszahl 1772. Ein roter Backsteinkamin ragte aus dem dunkel gefärbten Reetdach am Giebel des Hauses. Eine kleine, runde Dachluke neben dem hoch gesetzten Treppenhaus ragte unscheinbar hervor. Drei Fenster mit blau gestrichenen Fensterrahmen links neben dem Eingangsbereich und zwei rechts davon versprachen eine relativ helle Behausung. Ein schmucker Kräutergarten verbreitete einen angenehmen Duft von verschiedenen Gewürzen. Für einen kurzen Augenblick vergass er die Tatsache, dass er über tausend Kilometer entfernt war von Zuhause. Dieses kleine Haus war der Inbegriff seiner Träume an Bescheidenheit, doch es stand am falschen Ort. Das hier war nicht die Schweiz. Eine einzigartig vertraute Atmosphäre lag über diesem Landhaus. Unvorstellbar, dass es in der Geschichte seiner Familie eine Rolle gespielt haben soll, auch wenn er noch keinerlei Vorstellungen darüber hatte, wer diese Menschen waren. Zwischen einem gefühlsmässigen Wohlbehagen und einer eigenartigen Schwermut hin und her gerissen, lief Julian über die Wiese. Ein stattliches Herrenhaus aus dunkelroten Backsteinmauern lag in einiger Entfernung. Es war von mächtigen Bäumen und Buschwerk umgeben.

"Es gibt offensichtlich Nachbarn." Er schmunzelte.

"Das Haus gehört Familie Olufsen. Sie werden die beiden Frauen bald kennen lernen."

"Zwei Frauen?"

"Ingken und ihre Grossmutter, Marieke Olufsen." Die Anwältin schritt neben ihn, verstaute ihr Puderdöschen.

"Warum sind Sie sich so sicher, dass ich sie kennen lerne?" Julian war in nachbarschaftlichen Angelegenheiten eher zurückhaltend. Nachbarschaftspflege war ihm eher suspekt, hatte etwas Klischeehaftes.

"Die Familie ist eng mit dem Jansen Haus verbunden. Der hervorragende Zustand des Hauses und der gepflegte Garten sind ihr Werk."

"Ach, wirklich?!" Julian war erstaunt.

"Wieso denn das?"

"Das ist eine alte Geschichte, Herr Sutter." Behlendörp wurde wieder merklich zurückhaltender mit ihren Informationen.

"Was heisst, alte Geschichte? Können Sie mir das etwas näher erläutern bitte?"

"Es gibt eine alte familiäre Bindung und Verpflichtung zwischen den beiden Familien. Ich bin mir sicher, dass Sie das nächstens ganz genau erfahren werden." Sie lächelte geheimnisvoll, entzog sich aber offensichtlich einer weiteren Diskussion. Einmal mehr befiel ihn das eigenartige Gefühl des Mysteriösen in dieser Angelegenheit.

"Was heisst Bindung? Sind wir am Ende noch verwandt?"

"Nein, nein. Es ist keine familiäre Verbindung in diesem Sinne. Den Schlüssel habe ich Ihnen ja bereits überreicht. Wollen Sie sich kurz umsehen?" Sie lenkte erneut gekonnt vom Thema ab.

"Dann könnte ich in der Pension Bescheid geben, ob Sie hier im Haus bleiben oder das Zimmer nehmen." Er liess ihre Bemerkung stehen. Kommt Zeit, kommt Rat.

"Natürlich, Frau Behlendörp. Ich bin schon sehr gespannt." Julian kramte den Schlüsselbund aus seiner Jackentasche, steckte ihn ins Schloss. Mit einem Klacken öffnete sich die blau weisse Türe. Angespannt trat Julian über die Schwelle. Der würzige Geruch der Vergangenheit schmeichelte seiner Nase. Es roch nach blumigen Kräutern und altem Holz. Der Boden knarrte. Die Sonne warf ihre hellen Strahlen durch die Fenster im Treppenhaus. Staub schwebte in der Luft. Die Holztreppe glänzte. Egal was ihn hier erwarten würde. Der Entschluss zu bleiben war schnell gefällt.

"Ich denke, Sie können die Reservierung rückgängig machen, Frau Behlendörp. Ich bleibe definitiv hier." Entschlossen stellte er das Gepäck und seine Gitarre neben dem Eingang auf einen Stuhl.

"Sie sind aber wirklich schnell entschlossen, Herr Sutter. Das obere Stockwerk haben Sie ja noch gar nicht besichtigt."

"Mir reicht das, was ich gesehen habe. Es ist doch richtig gemütlich hier. Ich hätte ehrlich gesagt Schlimmeres erwartet."

"Das freut mich sehr. Dann lasse ich Sie jetzt alleine mit ihrem neuen Haus. Der Rest liegt jetzt an Ihnen." Sie reichte ihm die Hand, hielt ihm ihre Visitenkarte zu. Ihre wuchtigen Fingerringe dominierten den Händedruck.

"Hier ist meine Handy-Nummer. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie noch irgendwelche formelle Fragen zur Erbschaft haben. Ansonsten wünsche ich Ihnen eine angenehme und erholsame Zeit auf Föhr." Sie ging zur Haustüre.

"Besten Dank für Ihre Hilfe, Frau Behlendörp. Es war schon sie kennen gelernt zu haben." Sie war ihm durchaus sympathisch geworden, hatte in seinen Augen die Aura der kühlen Geschäftsfrau verloren.

"Ich lasse jetzt einfach mal alles auf mich zukommen. Zumindest bin ich jetzt mal drei Wochen hier. Es wird sich zeigen, was ich alles erledigen kann. Jetzt werde ich wohl erst einmal in aller Ruhe die Insel erkundigen."

"Ach ja, bevor ich es vergessen. Ich werde Familie Olufsen über Ihre Ankunft orientieren. Ist das für Sie in Ordnung?"

"Auf jeden Fall. Besten Dank."

"Also dann, machen Sie es gut, Herr Sutter. Es war mir ebenfalls eine Freude, Sie kennen zu lernen. Und geniessen Sie unsere Insel." Mit elegantem Schritt verschwand sie durch die Tür.

"Ach ja, Entschuldigung." Sie schaute durch den Türspalt.

"Falls Sie tatsächlich verkaufen, melden Sie sich doch bitte bei mir."

"Auf jeden Fall, Frau Behlendörp. Ein guter Grund Sie wieder zu sehen." Einen kurzen Flirt zum Abschied konnte er sich nicht entgehen lassen. Sie schaute lächelnd zu Boden, drehte sich um und entschwand aus seinen Augen.

'Offensichtlich bin ich in einer völlig anderen Welt gelandet'. Ergriffen von seiner eigenen Familiengeschichte betrat er ehrfurchtsvoll die gemütliche Friesenstube. Überwältigt von den Geschehen und den neuen Eindrücke der letzten Tage, setzte er sich auf ein bordeauxrotes Sofa. Es war weich wie moosiger Waldboden und sog ihn förmlich in sich hinein. Der Stoff fühlte sich an wie Samt. Farbenprächtige Pfauen zierten die Armlehnen.

"Ich glaub‘s nicht!." Eine uralte Schweizer Fahne hing über dem Sofa an der Wand. Das leuchtend klare Rot war bereits matt und glanzlos zu einem vergilbten Braun geworden, das Weiss des Kreuzes zu einem verschmierten Gelb. Der Stoff war brüchig und ausgefranst. Durch das Fenster knirschte der Kies unter Autoreifen. Mit einem leisen Brummen des Motors fuhr die Anwältin langsam durch die schmale Ausfahrt. Seine Blicke folgten durch das verzogene Glas dem glänzenden Wagen. Gleichsam einer Reise durch die Zeit, schweiften seine aufmerksamen Augen durch das Wohnzimmer. Ein mehrarmiger und kunstvoll verzierter Messingleuchter hing inmitten des Zimmers über einem währschaften Holztisch mit weisser Tischdecke. Es waren keine elektrische Kabel zu sehen. Beim Eingang fehlten die üblichen Lichtschalter. Fünf hellbraune Stühle mit weichen Sitzpolstern und geschwungenen Armlehnen umrahmten ihn. Über dem Ofen leuchteten mehrere blaue Kacheln mit kunstvollen Blumenmustern. Zwischen zwei Fenstern stand eine hölzerne Vitrine. Verschiedene Gegenstände aus der Seefahrt waren darin ausgestellt. Das von Hand gemalte Bild eines älteren Seemanns mit braunem Umhang, einer typischen Regenmütze und einem blauen Hemd, hing dicht daneben an der Wand. Es war mittlerweile etwas in Schieflage geraten. Der weisse Bart und das von Arbeit, Wind und Wetter gegerbte Gesicht, verlieh dem pfeifenrauchenden und alten Seebär eine eindrückliche Anmut. Auf einer dunklen Kommode mit mehreren Schubladen standen silberne Töpfe und altertümliche Gefässe. Auf dem dunklen Holzboden glänzten die abgetretenen und polierten Holzriemen. Die hölzerne Decke wurde von zwei mächtigen Balken getragen. Ein eigentümlicher Geruch von Lavendel und altem Holz lag in der Luft.

"Wer mögen sie wohl gewesen sein? Wer waren jene Menschen, die hier während Jahrzehnten gelebt haben? Menschen, denen er zeitlebens niemals begegnet war und mit denen er dennoch in einer bis anhin unbekannten familiären Verbindungen stand. Tatsächlich befand er sich an einem Ort, aus dem ein Teil seiner Familie hervorgegangen war und dem auch er in gewisser Weise seine Existenz verdankte. In welcher Form und Konstellation auch immer. Nachdenklich erhob er sich aus dem weichen Sofa - es quietschte und knarrte unter seinem Gewicht. Neugierig trat er hinaus auf den Flur, stiess vorsichtig an die Tür zur Küche. Ein bescheidener und einfacher Holztisch in der Mitte. Rote quadratische Steinplatten bedeckten den Boden. Längst hatten sie ihren Glanz verloren, waren matt und von endlosen Schritten ausgetreten. Spalten und Risse bildeten seltsame Musterungen. Ein schöner Geschirrkasten mit einer offenen Ablagefläche befand sich an der Wand. Drei einfache Stühle mit einer aus Stoff bezogenen Rückenlehne mit Blumenmustern umkreisten den Tisch. Mehrere weisse Porzellanteller und sechs Tassen waren darauf säuberlich geordnet. Ein weisser Holzherd mit glänzenden und metallenen Rändern, eingebaut an einer eingeschwärzten Seitenwand. Umsichtig musterte Julian das Inventar. Er suchte aufmerksam nach Geschirr, Pfannen und Besteck. Zu seinem Erstaunen war alles Nötige vorhanden und fein säuberlich in den Schubladen geordnet. Alles schien erst kürzlich gereinigt worden zu sein. Gerade so, als ob das Haus bis vor kurzem noch bewohnt war. Eigentlich hatte er es versäumt, Behlendörp nach dem Todestag von Mangens Jansen zu fragen. Es soll mindestens ein Jahr gedauert haben, bis er als rechtmässiger Erbe festgestellt wurde. Diese Familie Olufsen musste sich also während mindestens einem Jahr intensiv um das Haus gekümmert haben. Es lag kein Stäubchen herum und selbst die vorhandenen Gläser glänzten, als ob sie erst kürzlich hierher gestellt worden waren. Es gab einen guten Grund ihnen dafür seinen Dank auszusprechen. Staunend ging er auf den Flur. Das alte Parkett unter seinen Füssen knarrte. Vorsichtig trat er auf die schiefe Treppe und ging langsam hinauf in die obere Etage. Jede einzelne der Stufen ächzte unter seinen Schritten. Bilder von Segelschiffen und blühenden Wiesen zierten die Wände. Spielende Kinder auf Leinwand und Holz mitunter seit Jahrhunderten in Farbe festgehalten. Schiffe kämpften sich in schönen Rahmen durch die Wellen stürmischer Meere. Riesige Mehrmaster, kleine Segler und Seemänner in Wetterbekleidung waren abgebildet. Neugierig und gespannt schritt er durch einen engen Flur und in einen weiteren Raum. In einer Ecke stand ein grosses und gusseisernes Doppelbett, wie man es von Photographien aus alten Zeiten kannte. Unter einer breiten Fensterbank lag ein abgegriffener Seemannskoffer auf dem dunkelroten Bretterboden. Zwei Nachttische säumten zu beiden Seiten die Bettstatt. Zu seinem Erstaunen stand auf einem der beiden eine unzeitgemässe, elektrische Lampe mit stoffbezogenem Schirm. Die Frage nach einem Stromanschluss hatte er sich bis anhin gar nicht gestellt. Tatsächlich hatte er einen solchen bis anhin nicht bezweifelt. Eigentlich bis jetzt aber keine deutlichen Hinweise darauf gesehen. Dieses Defizit schreckte ihn auf. Vielleicht hätte er mit seinem Entschluss das Zimmer in der Pension zu stornieren doch besser etwas zuwarten sollen. Bei aller Bescheidenheit. Kein fliessend warmes Wasser war durchaus kein Problem. Die Sommer auf den Schweizer Alpen boten ihm selten diesen Komfort. Hauptsache ein Brunnen vor der Hütte. Dennoch war er ein Kind der modernen Zivilisation. Kein elektrischer Strom würde daher selbst seine Bescheidenheit auf eine grosse Probe stellen. Handy, Musik - nichts ging ohne diese neuzeitliche Magie. Die roten Holzriemen knarrten bei jedem seiner Schritte. Mehrere schmale und farbenprächtige Läufer lagen am Boden. Die Bettwäsche war offensichtlich frisch und von einem leuchtenden Weiss. Gerade so, als ob auch sie erst kürzlich erneuert worden wäre.

"Moin, Hallo, Herr Sutter! Sind Sie da?", wurde Julian plötzlich von einer sympathischen, weiblichen Stimme aufgeschreckt. Neugierig schritt er zum Treppenhaus und blickte hinunter.

"Hallo, ich bin hier oben." Gespannt wartete er auf eine Antwort. Wer in aller Welt würde bereits nach ihm suchen, kaum dass er selber erst angekommen war?

"Moin, Herr Sutter. Ich bin Ingken Olufsen. Entschuldigen Sie bitte meine Störung." Sie blickte zu ihm empor. Ein Blitzschlag fuhr durch seinen Körper. Der Puls fuhr in die Höhe und für einen Augenblick vergass das Herz zu schlagen. Selten in seinem Leben war er derart konsterniert und sprachlos.

"Wow! Unglaublich! Wenn das keine perfekte Fügung ist. Die bezaubernde Schönheit aus der Stadt" , schoss es ihm mit einem wundervolles Gefühl und einer freudigen Überraschung durch die Gedanken. Sie stand leibhaftig vor ihm. Die unbekannte Lady aus Wyk. Mit strahlenden blauen Augen schaute sie zu ihm herauf. Hellbraune Haare, weisse Mütze, weisse Stulpen und weisser Schal, hellblaue Jeans, grauer Pullover und in den Händen einen wuchtigen Koffer. Mit einem Lächeln stand sie an der Treppe und war offensichtlich ebenfalls erstaunt über diese unerwartete Begegnung. Sie liess sich nichts anmerken.

"Das ist doch ein netter Zufall." Freudig und gleichsam verlegen, eilte er zu ihr hinunter.

"Entschuldigen Sie, Herr Sutter, wenn ich einfach so herein stürme." Sie reichte ihm die Hand.

"Ich habe mehrmals angeklopft. Sie haben mich wohl nicht gehört." Nichts war schöner und entschuldbarer als diese Störung, nichts wunderbarer als die Berührung ihrer geschmeidigen Hand. Leider gab es keinen Grund sie länger als nötig zu halten.

"Wir wurden eben von Svenja Behlendörp über Ihre Ankunft informiert." Sie stellte den schweren Koffer auf den Boden.

"Oh, entschuldigen Sie. Ich bin Ingken Olufsen. Ich wohne mit meiner Grossmutter dort drüben. Wir sind jetzt sozusagen Nachbarn." Sie zeigte auf den Herrenhof hinter den Bäumen.

"Frau Behlendörp hat mich bereits informiert, dass ich Sie wohl nächstens kennen lerne. Ihr Besuch ist alles andere als eine Störung, Frau Olufsen. Gehen wir doch in die Küche." Julian war nervös und verlegen. Diese Begegnung war alles andere als erwartet.

"Zufälle sind doch eine tolle Sache. Sie haben mir bereits vorhin in Wyk fast den Atem gestohlen." Er konnte sich nicht zurückhalten, mit seinem Scharm zu spielen.

"Wir sind uns doch gerade eben in Wyk begegnet. Sie waren mit dem Fahrrad unterwegs und sind beim Griechen – wie heisst der nochmal …"

"Zorbas."

"Genau, Zorbas. Dort sind Sie an mir vorbei gefahren."

"Ach wirklich. Da bin ich aber froh, dass Sie überlebt haben." Sie lachte und griff wieder nach dem Koffer.

"Die Insel ist klein. Dann waren Sie das vorhin, mit Svenja auf dem Parkplatz?" Sie folgte ihm in die Küche.

"Ja, das war ich. Sie hat mich eben hier abgeladen. Ich bin erst heute Morgen auf der Insel angekommen." Julian war verlegen. Smalltalk war angesagt. Hauptsache sie blieb noch eine Weile hier.

"Fühlen Sie sich doch bitte wie zuhause." Der Satz war irgendwie deplatziert. Er zog einen Stuhl vom Küchentisch, kniff die Augen zusammen und schlug sich innerlich die Nase platt.

"Ich nehme an, Sie kennen sich hier besser aus als ich. Frau Behlendörp hat mich bereits darüber informiert, dass sich Ihre Familie einige Zeit um das Anwesen gekümmert hätte."

"Einige Zeit? Ja, so könnte man das auch nennen." Ingken schmunzelte bescheiden.

'Hoffentlich quassle ich jetzt nicht einfach irgendwelchen Mist daher", schoss es ihm durch die Gedanken. Nervös zappelte er umher. Es gab nichts mit dem er sich hätte beschäftigen können.

"Diese Chance kommt so schnell nicht wieder – also nutze sie." Verbissen bemühte er sich die Unbekannte für eine Weile im Haus zu behalten, in ein Gespräch zu verwickeln. Offensichtlich war auch sie von seinem Wesen angetan. Verlegen setzte sie sich auf den Stuhl, blickte umher, als sässe sie zum ersten Mal in ihrem Leben an diesem Ort.

"Wow, sie ist wirklich perfekt" kam er gedanklich ins Schwärmen.

"Ich würde was drum geben, sie einfach kurz zu umarmen." Julian vermochte kaum mehr seine verstohlenen Blicke von ihr abzuwenden. Ihre stechenden Augen faszinierten.

"Leider kann ich Ihnen überhaupt nichts anbieten, Frau Olufsen. Nicht einmal eine Tasse Tee. Ich bin erst eine halbe Stunde hier. Ich war eben dabei, mir das Haus näher anzusehen. Die ganze Situation mit dieser Erbschaft ist für mich noch gar nicht fassbar."

"Das ist wirklich in Ordnung. Ich wollte Sie auch gar nicht stören. Eigentlich muss ich auch gleich wieder weiter."

"Er ist wirklich ganz nett, dieser Schweizer. Ich hatte eher einen knorrigen, alten Knaben erwartet" dachte sie und klammerte sich krampfhaft an dem alten Koffer fest.

"Also dann, ich bin Julian." Er nahm all seinen Mut zusammen und reichte ihr noch einmal seine Hand. Der perfekte Grund war geboren.

"Genau, ich bin Ingken. Sie haben Recht! Warum so förmlich? Wir sind hier auf der Insel eher unkompliziert. Die Leute mögen keinen Standesdünkel – Likedeeler eben." Sie war froh und erleichtert mit ihren Vorurteilen gegenüber dem Schweizer zu brechen. Er hatte sie beeindruckt.

"Like – was?" Julian hatte das Wort nicht verstanden. Ein guter Grund mehr, das Gespräch aufrecht zu halten. Selten im Leben kam eine Unklarheit so gelegen.

"Ach, das ist eine andere Geschichte." Ingken reagierte mit einer verlegenen Handbewegung.

"Du musst gleich wieder weiter. Das ist echt schade. Was führt Dich denn eigentlich zu mir?"

"Ach, ja. Also warum ich hier bin." Sie räusperte sich, warf ihre Blicke auf den Koffer, dessen Griff sie noch immer krampfhaft umklammerte.

"Also, eigentlich wollte ich dir nur schnell diesen alten Koffer vorbei bringen. Er gehört zum Haus. Ich habe von meinem Grossvater den Auftrag bekommen, ihn dir zu überreichen." Sie drückte ihm den hölzernen Griff in die Hand.

"Einen Koffer? Danke. Ich lasse mich gerne überraschen." Verwundert nahm er den ledernen Kasten entgegen.

"In den letzten Tagen sind bereits einige unerwartete Überraschungen auf mich zugekommen." Er stellte das alte Gepäckstück auf den Boden.

"Der hat aber ein ganz ordentliches Gewicht." Julian schmunzelte.

"Das hat er tatsächlich." Sie stimmte ihm mit einer Geste zu, wippte mit dem Kopf.

"Was ist denn drin?" Julian interessierte sich eigentlich mehr für ihre Antwort als für den Inhalt.

"Das weiss niemand. Er ist noch nie geöffnet worden", antwortete sie geheimnisvoll.

"Noch nie geöffnet?" Obschon sie ihn mehr interessierte als der Koffer, war diese Antwort unerwartet mysteriös.

"Was heisst das genau? Das klingt jetzt ein bisschen mysteriös."

"Ich kann dir nicht sagen was genau drinnen ist. Unsere Familie weiss es auch nicht."

"Allmählich bin ich mir solche kleinen Geheimnisse gewohnt. Das hat schon mit dem Brief über die Erbschaft angefangen. Auf eine Überraschung mehr oder weniger kommt es mir jetzt auch nicht mehr an." Interessiert betrachtete er den Lederkoffer. War gespannt was er darin finden würde.

"Es gibt nur ein Problem damit." Sie zog die Schultern hoch und presste die Lippen zusammen.

"Du wirst das Schloss irgendwie aufbrechen müssen. Leider existiert kein Schlüssel. Wir haben keine Ahnung wo er abgeblieben ist." Sie erhob sich vom Stuhl.

"Ich muss jetzt allmählich weiter." Langsam lief sie zum Hauseingang und griff nach der Türklinke.

"Wie auch immer. Grüss ihn freundlich von mir, und danke ihm für den Koffer."

"Er ist leider schon verstorben", antwortete sie mit bedrückter Stimme.

"Der Koffer lag seit jeher bei uns auf dem Dachboden. Mein verstorbener Grossvater hat ihn gehütet wie seinen Augapfel. Ich musste ihm auf seinem Sterbebett hoch und heilig versprechen, den Koffer ungeöffnet einem vertrauenswürdigen Erben zu übergeben."

"Das klingt ja richtig geheimnisvoll. Aber warum einem vertrauensvollen? Bin ich doch nicht der Einzige zur Auswahl oder gab es auch irgendwelche trügerische?" Julian schmunzelte.

"Ach, entschuldige. Das war nicht so gemeint" Sie lachte.

"Das war von mir nur so daher geredet." Sie rang sichtlich nach einer Entschuldigung. Offensichtlich versteckte sich hinter ihrer Antwort mehr als sie zu sagen gewillt war. Julian spürte ihre Zurückhaltung, vermied es aber sie diesbezüglich weiter zu bedrängen. Es würde sich sicherlich eine passende Gelegenheit ergeben.

"Dann will ich Dich jetzt nicht länger davon abhalten, das Haus zu erkunden. Du bist übrigens jederzeit herzlich willkommen bei uns drüben, lässt dir meine Grossmutter ausrichten. Lass uns wissen, wenn wir dir behilflich sein können."

"Das ist nett von euch - danke. Ich werde gerne auf das Angebot zurückkommen, sobald ich hier etwas Fuss gefasst und mir einen fahrbaren Untersatz besorgt habe." Mit schnellen Schritten ging sie zu ihrem Fahrrad, warf sich den Schal um den Hals.

"Tu das! Sieh mal in den kleinen Schuppen. Also dann, bis bald. Schön Dich kennen zu lernen." Mit einem sportlichen Sprung schwang sie sich auf das Fahrrad und fuhr winkend davon. Fasziniert schaute er ihr hinterher. Die braunen Haare wehten unter ihrer Mütze. Hinter den Bäumen an der Einfahrt war sie schnell aus seinem Blickfeld verschwunden. Auf der Wiese gegenüber flüchteten die blökenden Schafe davon. Mit einem sonderbaren Wohlgefühl und pochendem Herz über diese unerwartete Begegnung ging er zurück ins Haus. Diese Frau war einzigartig. Ihr Wesen und ihre Art hatten ihn sonderbar berührt. In ihrer Stimme lag die Anmut der nordischen Rauheit und war dennoch von einer unbeschreiblich weiblichen Sanftheit, wie er sie niemals zuvor gehört hatte. Ihre breiten Backenknochen verliehen dem Gesicht die Anmut von Stärke und Zartheit und ihre stechenden und dunklen Augen durchbohrten sein Herz wie die Pfeile Amors.

"Bei aller Selbstbestimmung. Manchmal muss man das Leben einfach spielen lassen." Es konnte nicht besser gehen. Kaum auf der Insel angekommen, hatte sich alles bereits in sehr positiver Form entwickelt. Zufrieden ging er zurück ins Haus, schloss hinter sich die Tür und betrat die Küche. Geheimnisvoll stand der Koffer auf dem Boden. Er packte das schwere Stück und trug es hinüber ins Wohnzimmer. Aufmerksam betrachtete er ihn von allen Seiten, suchte nach irgendwelchen Inschriften oder ungewöhnlichen Hinweisen, die ihm in irgend einer Form nützlich sein konnten. Das Mystische und Mysteriöse hatte von ihm Besitz ergriffen und drängte danach entdeckt zu werden. Der Lederkasten war nicht besonders gross. Offensichtlich aber von beträchtlichem Alter. An den Ecken und Kanten waren hölzerne Leisten zur Verstärkung angebracht. Mächtige Scharniere zierten den Boden und den Deckel. Ein schweres Schloss hielt zwei massive Metallbügel zusammen. Aufgeregt hantierte er daran herum.

"Es ist wohl nicht so einfach, dich zu knacken." Nachdenklich strich er sich übers Kinn, suchte angestrengt nach einer Lösung. Er hatte nicht die Absicht dieses Objekt seiner Begierde einfach zu zerstören und aufzubrechen. Es musste einen vernünftigen Weg geben, den ledernen und abgegriffenen Koffer unbeschädigt zu öffnen.

"Irgendwie ist der Gedanke verrückt. Sie sagte, dass der Koffer niemals zuvor geöffnet und nur dem Erben übergeben werden durfte. Dieser Mangens Jansen hat mich doch überhaupt nicht gekannt. Warum macht er dann ein Geheimnis aus einem Koffer?" Ein Hilfsmittel musste her. Aufmerksam begann er das Haus nach irgendwelchen brauchbaren Werkzeugen zu durchsuchen, durchkämmte die wenigen Räume. Es liess sich nichts Brauchbares finden. Im Haus lag eine eigenartige Stille. Julian war mit sich selbst und mit seinen Gedanken alleine. Gedankenversunken untersuchte er alte Kästen und Kommoden, Schubladen und Fächer. Mittlerweile schien sich einiges geklärt zu haben. Dennoch blieben noch immer einige Fragen und Reaktionen offen. Zeitlebens war er wachen Bewusstseins und offenen Sinnes durch das Leben gegangen, war sensitiv geblieben und hatte ein gutes Gespür für die Verhaltensweisen der Menschen entwickelt. Entgegen aller Beschwichtigungen lag noch immer etwas ungeklärtes in der Luft. Die eigenartige Reaktion der Beamtin auf dem Einwohnermeldeamt verharrte noch immer in seinem Hinterkopf. Die Bemerkung der Kellnerin in Wyk war auch nicht einfach aus der Luft gegriffen und sicherlich mehr als nur ein versehentliches Verplappern. In jedem Scherz steckt eine kleine Wahrheit. Die Wahrheit. Da war sie wieder und gierte nach Grossvaters Weisheiten. In jeder Wahrheit findet sich ein kleiner Fehler, in jedem kleinen Fehler eine grosse Wahrheit. Behlendörp vermochte bei ihm jegliche Zweifel diplomatisch und professionell aus dem Weg zu räumen. Mit derselben Sicherheit hatte sie ihm jedoch die Antworten auf ungestellte Fragen vorenthalten. Unerwartet fiel ihm das Gepäck ins Blickfeld.

"Vielleicht gibt’s eine neue Nachricht von Zuhause?" Zu seiner eigenen Schande hatte er seit ungewohnt längerer Zeit seine SMS nicht mehr überprüft. Möglicherweise warteten Annemarie und Monika längst auf ein Lebenszeichen. Mit schlechtem Gewissen griff er eiligst nach dem braunen Sakko. Ein leises metallisches Klirren aus der Seitentasche.

"Verdammt, das ist es. Die Behlendörp hat mir doch einen alten, gusseisernen Schlüssel in die Hand gedrückt." Euphorisch über seine Entdeckung wühlte er in seine Tasche, zog das Metall hervor und eilte erwartungsvoll zum Koffer.

"Scheisse, der Schlüssel passt." Aufgeregt steckte er das Metall in die Öffnung, drehte ihn einmal um. Klickend sprang der Bügel aus dem Schloss.

"Schon wieder! Warum wusste die Behlendörp nicht, dass der Schlüssel zu dem Koffer gehört?" Verdutzt zog Julian das Vorhängeschloss aus den metallenen Bügeln und legte es neben den Kasten. Gespannt öffnete er den Deckel. In diesem Moment fühlte er sich wie Jim Hawkins aus dem Roman 'Die Schatzinsel' von dem schottischen Schriftsteller Robert Louis Balfour Stevenson. Er hatte das Buch in seiner Kindheit förmlich verschlungen. Nun sass er selbst vor einer Schatztruhe mit unbekanntem Inhalt. Mit einem sanften Quietschen lag der Koffer offen vor seinen Augen. Ein eigenartiger und fremder Geruch breitete sich aus. Wider Erwarten roch es jedoch weder nach vermodertem Altertum noch nach schimmeliger Feuchtigkeit. Es duftete vielmehr angenehm nach getrocknetem Lavendel und feinen, fremdländischen Gewürzen. Neugierig schaute er hinein. Vorsichtig zog er an einem schützenden Seidentuch, das die Gegenstände bedeckte und nahm es beiseite. Offensichtlich war das der Koffer eines Seemanns. Fremdartige, antiquarische Gerätschaften und Instrumente waren ordentlich eingeräumt. Darunter ein kleiner Chronometer und ein bronzefarbener Sextant. Interessiert las Julian die Inschrift. 1810. Fa. Breithaupt, Cassel. Daneben war der Name 'Mangens Jansen' eingraviert. Julian war von seiner Entdeckung fasziniert. Vorsichtig entnahm er einen Zirkel, einen Kompass, verschiedene Lineale sowie mehrere Winkel. Ebenso waren in einer metallenen Schatulle verschiedene Karten, mehrere Messer, diverse Schreibutensilien sowie eine Halskette mit einem Anker versorgt. Sehr genau merkte er sich die Anordnung der Gegenstände im Koffer. Sorgsam eingewickelt in einem Segeltuch kamen eine uralte Petroleumlampe, ein Fernrohr, eine Seemannsmütze sowie ein eigenartiges Feuerzeug mit dem Schriftzug 'Döbereiner' zum Vorschein. Kunstvoll mit einem geflochtenen Band zusammengebunden lag zwischen den Gegenständen ein kleiner Lavendelstrauss. Ein brauner und weicher Lederbeutel duftete angenehm nach Tabak. In einem grösseren Beutel klimperten deutsche Taler und Groschen. Staunend liess er sie in die Hand fallen. Verblüfft las er deren Prägungen. '16 gute Groschen 1834, 2/3 Thaler 1832 sowie ‚Einen Thaler‘ 1827.

"Wow! Sieht so aus, als hätte sich dieser Mangens Jansen eine kleine Münzensammlung angelegt. Die müssten heute einen ganz beträchtlichen Wert haben." Julian schmunzelte über seinen interessanten Fund. Münzen hatte er noch nie gesammelt. Zumindest liessen sich diese womöglich gut verkaufen. Er fühlte sich ertappt. Überwältigt von der eigenen Habgier. Kaum war dieser Mangens Jansen unter der Erde, kreisten seine eigenen raffgierigen Gedanken wie hungrige Geier über dessen Erbe. Irgendwie fühlte er sich plötzlich wie an einer Leichenfledderei, pietätlos gegenüber dem unbekannten Erblasser. All diese Dinge waren ihm von diesem anvertraut worden. Sie waren Teil der Lebensgeschichte eines ehrwürdigen Menschen. Kurz darauf hatte er die verschiedensten Gegenstände neben dem Koffer ausgelegt. Gespannt griff er nach dem letzten Objekt und nahm es vorsichtig heraus. Eingewickelt in einem dicken, seidenen Tuch, entdeckte er ein Buch mit ledernem Einband. Es war ziemlich abgegriffen und vom Zahn der Zeit sichtlich gezeichnet. Schwerlich vermochte Julian auf dem abgenutzten Einband den matten Schriftzug 'Lady Lovibond' sowie die Jahreszahl 1748 zu entziffern.

"Ein altes Logbuch." Julian war begeistert. Auf dem vorderen Deckel glänzte eine Messingschnalle. Ein ledernes Band war als Verschluss mehrmals geschickt um das Buch gewickelt. Aufgeregt öffnete er das imposante Werk. Seit jeher hatten Bücher auf ihn eine gewisse Faszination. Eine Vielzahl von handschriftlichen Zahlen und Tabellen offenbarten sich seinen neugierigen Blicken. Ehrfürchtig blätterte er durch die Seiten. Die zahlreichen Einträge waren in englischer Sprache verfasst. Trotz seiner guten Sprachkenntnisse, war es ihm nicht möglich, die alte Handschrift zu lesen. Fasziniert blätterte er bis zur hintersten Seite. Ein loser und vergilbter Zettel fiel unter dem Buchdeckel hervor auf den Boden. Wissbegierig hob er ihn auf. Die Schrift unterschied sich merklich von den Einträgen des restlichen Buches. Das Datum 20. April 1835 war klar und deutlich zu erkennen. In mehreren Reihen folgten geheimnisvolle Zahlen; 1.1 / 1.11 / 2.10 / 10.52 / 2.35 / 1.5 / 2.35 / 2.35 / 1.11 / 1.35 / 1.5 / 2.2 / 2.2 / 1.11 / 4.19 / 3.25 / 2.33 / 2.46 / 1.11 / 7.18 / 10.2 / 10.1 / 3.16 / 1.5 / 1.11 / 10.2 / 1.1 / 1.11 / 2.10 / 3.16 / 1.5 / 10.18 / 2.10 / 1.11 / 10.2 / 20.2 / 10.2 / 1.11 / 2.10. Julian rätselte, war gleichsam fasziniert von diesem Mysterium.

"Was sollen diese Zahlen? Ich habe keinen blassen Schimmer!" Aufmerksam und gedankenversunken versuchte er sich aus den Zeichen einen Reim zu machen.

"Ich habe keine Ahnung, was das soll." Ratlos studierte er das Papier in seinen Fingern.

"Jansen war ein Seemann. Gut möglich, dass es sich um irgendwelche Navigationsdaten aus dem Logbuch handelt." Resigniert versuchte er auf die mysteriöse Entdeckung eine Erklärung zu finden. Ohne fremde Hilfe würde er wohl gegenwärtig keine Antwort finden. Das war ein guter Grund Ingken Olufsen um Rat zu fragen. Mit Sicherheit war sie mit den Gegebenheiten der Seefahrt eher vertraut als er. Vielleicht wusste sie etwas mit diesen Zahlen anzufangen. Er freute sich einen guten Grund für das nächsten Treffen zu haben, faltete das Papier zusammen und steckte es in die Sakkotasche. Respektvoll verstaute er die Sachen wieder zurück in den Koffer und stellte ihn neben der Vitrine im Wohnzimmer auf den Boden.

Mittlerweile war es kurz vor Mittag geworden. Seit seiner Ankunft am frühen Morgen war bereits so vieles geschehen. Die administrativen Angelegenheiten mit Behlendörp waren geregelt, das Haus bezogen und Ingken Olufsen hatte ihm den ominösen Koffer vorbei gebracht. Die anfängliche Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar. Allmählich begann ihm das Gehirn kleinere Streiche zu spielen - Sekundenschlaf.

"Verdammt, die SMS!" Mit dem Fund des Schlüssels hatte er es bis jetzt verpasst sein Handy auf irgendwelche Nachrichten zu prüfen. Einmal mehr kam das schlechte Gewissen. Umgehend warf er einen Blick auf das bunte Display - keine neuen Nachrichten. Julian war beruhigt, stellte den Wecker, um sich eine Stunde aufs Ohr zu legen. Das alte, weiche Sofa war ideal. Es hatte die richtige Länge und die beiden Armlehnen waren eine perfekte Kopfstütze. Erschöpft legte er sich hin und schaute zur Decke. Aus seinem Handy donnerten RUSH mit ihrer ‚Time Machine‘ durch Zeit und Raum. Mit ihrem 'The Big Money' verliess auch Julian den Boden der Realität und begann zu träumen.

Seemöwen schreiten in der Ferne und wurden lauter und lauter, mischten sich mit der Brandung des Meeres. Julian strich über die Taste am Display. Der Wecker verstummte. Der kurze Schlaf hatte Wunder bewirkt. Er setzte sich auf, massierte sein Gesicht, streckte seine verspannten Glieder, trat hinaus in die Küche, hielt ein Glas unter den Wasserhahn und nahm einen kräftigen Schluck des klaren Goldes. Er liebte die belebende Kraft des klaren Wassers. Die Sonne stand hoch über den Bäumen. Der Himmel war klar und wolkenlos. Kurz nach 13.00 Uhr. Zufrieden setzte er sich auf die hölzerne Sitzbank vor dem Haus und liess sich von der Sonne das Gesicht wärmen. Noch immer strich der Wind um das Haus, wehte durch die Büsche und Sträucher. Blumen und Gräser tanzten ihren Reigen. Blätter wurden davon getragen und die Äste in den Bäumen wippten hin und her. Krähen kreisten aufgeregt am Himmel und hüpften über den Hof. Auf der Playlist in seinem Handy waren Rush mittlerweile mit ihrem 'Natural Science' ebenfalls ganz leise an der Nordsee angekommen. Julian genoss das Zusammenspiel ihrer rockigen Klänge und der gegenwärtigen Freiheit seines kleinen Abenteuers. Das Haus bot noch viele Geheimnisse, die es zu ergründen gab. Die Neugier trieb Julian an.

Erwartungsvoll drückte er den Deckel zum Dachboden nach oben. Wärme schlug ihm entgegen. Vorsichtig stieg er über die Treppe hinauf und blickte sich um.

"Dachböden sind vielversprechende Schatzkammern." Gespannt betrat er den Raum und ging umher. Staub bedeckte den Boden, wirbelte umher. Auf einem schiefen Gestell lagen in drei Reihen uralte und abgegriffene Bücher. Eine dicke Staubschicht lag auf den Folianten. Robinson Crusoe, Offterdinger & Zweigle. Fasziniert begann Julian in den Werken zu blättern und ihre Titel zu lesen. ‚Vom Weltfrieden bis zur französischen Revolution‘, Karl Goedeke 1880, ‚Die Mordkapelle auf dem hohen Felsen am Vierwaldstättersee‘. Heidelberg 1830. Staunend stellte er die Werke zurück. Lesestoff für später. Eine geöffnete und leere Seemannskiste verstaubte inmitten des Raumes. Ein hölzerner Tisch und mehrere Stühle waren in einer Ecke aufeinander gestapelt. Ein heller Sonnenstrahl bohrte sich durch einen Spalt auf den hölzernen Boden. Die Bodenriemen unter Julians Schuhen knarrten mit jedem einzelnen Schritt. Eine aufgescheuchte Katze hetzte mit einem lauten Schrei an ihm vorbei und flüchtete durch eine enge Öffnung unter dem Dach hinaus ins Freie.

"Scheiss Vieh." Erschrocken fuhr Julian zusammen, fühlte sich wie in einem Film von Alfred Hitchcock. Der Wind pfiff mit eigenartigen Geräuschen durch das Reetdach und durch die Spalten und Ritzen. Das alte Gebälk knarrte. Ein mulmiges Gefühl war nicht zu bestreiten. Abgesehen von den Büchern, der Seemannskiste, dem Tisch und den Stühlen war der Dachboden weitgehend leer. Langsam trat er zurück auf die Treppe, klopfte den Staub von seinem Ärmel, schloss vorsichtig über sich den Deckel und ging hinunter ins Erdgeschoss.

Gespannt öffnete Julian die Tür und schritt in den Durchgang zu der angebauten Scheune.

"Ein Knebelscheisshaus. Ich glaub‘s nicht!" Beruhigt inspizierte er die Toilette. Ein Badezimmer hatte das alte Haus nicht zu bieten. Zumindest dieser alte Abort würde ihm das Minimum an notwendigstem Komfort bieten. Zu seinem Erstaunen stand er plötzlich in einer sehr ordentlich aufgeräumten und übersichtlichen kleinen Werkstatt. Prägende Erinnerungen an seine eigene Kindheit erwachten. In seinem Bewusstsein reihten sich zahlreiche Bilder aneinander. Die Schaukel in der Werkstatt des längst verstorbenen Grossvaters. Die kindlichen Gefühle der Freude und Ausgelassenheit jener jungen Jahre waren plötzlich wieder allgegenwärtig. Mittlerweile war er selber zu einem Mann von fast 40 Jahren herangewachsen. Die Wände des Raumes waren rundum weiss gestrichen. Grosse Fenster ermöglichten ein helles Arbeiten. Zu seiner Linken stand eine alte Hobelbank. Unmittelbar daneben eine dunkle Werkbank mit einem mächtigen Schraubstock. Zahlreiche, gut gepflegte Werkzeuge aller Art hingen ordentlich aufgereiht an den Wänden. Schraubenzieher und Zangen, Gartengeräte und Gabelschlüssel aller Grössen waren vorhanden. Eine einfache elektrische Lampe hing von der Decke. Das Kabel war sichtlich provisorisch verlegt. Auf einer Werkbank stand zu seiner Überraschung ein altes Fahrrad. Es wartete förmlich darauf, von ihm in Besitz genommen zu werden. Auf den ersten Blick war es in bestem Zustand. Julian war begeistert.

"Hejah. Super! Jetzt verstehe ich Ingkens Hinweis. Das ist genau das Richtige." Enthusiastisch eilte er zu dem Gefährt und begann es eingehend zu untersuchen. Es war museumsreif, aber in einem tadellosen Zustand. Selbst die breiten Reifen waren in bester Ordnung. Zu seinem Erstaunen waren sie auch nicht platt. Das Rad war durchaus fahrbereit. Die Gangschaltung gehörte jedoch zu seiner Bauzeit sichtlich noch nicht zur Standardausrüstung - Rücktrittbremsen waren der Verkaufsschlager. Mit Sicherheit war es bis vor kurzem noch in Gebrauch.

"Dieser Jansen war sichtlich nicht der Modernste, seine Sachen hat er aber tadellos in Schuss gehalten. Das muss man dem alten Knaben lassen." Vorsichtig hievte er das schwere Fahrrad auf den Boden, stiess es zu der blau gestrichenen Tennen Tür, drehte den Schlüssel und stand unmittelbar neben dem Haus am Rand des Gartens. Schnell waren die Bremsen kontrolliert. Sie funktionierten einwandfrei - deutsche Markenware. Julian schwang sich auf den ledernen Sattel.

"Der Oldtimer ist wirklich super." Freuden strahlend radelte Julian mit dem altbewährten Drahtesel durch den Hof. Dank seiner breiten Reifen war das Fahren auf dem Kiesweg überhaupt nicht holprig und mit der nach hinten geschwungenen Lenkstange zudem erfreulich bequem. Die Frage seiner Mobilität für die nächsten drei Wochen, hatte sich somit gelöst. Hingerissen von der alten Wertarbeit, wanderten seine prüfenden Blicke über das metallene Vehikel. Es war in einem schwarzen Lack gestrichen. Ein silberglänzender Kettenschutz stach aus dem matten Schwarz des Rahmens hervor. Eine grosse, runde Vorderlampe und der wuchtige Dynamo am Vorderrad versprachen genügend Licht für nächtliche Strassenfahrten. Julian liebte alte Dinge. Einzig, der alte, unbequem, harte Ledersattel liess etwas zu wünschen übrig. Der lange Gepäckträger bot jedoch genügend Platz, um darauf einiges zu transportieren. Eine unscheinbare, metallene Plakette unter dem Sattel gab das Geheimnis seiner Herkunft preis. Name: Phänomen, Baujahr: 1934, Marke: Gustav Hiller, Zittau. Eine kleine Ledertasche unter der Stange war ideal für allerlei Plunder. Leider fehlte die Gangschaltung und war wohl im Baujahr des Rades noch nicht erfunden worden. Im Grossen und Ganzen war das Gerät jedoch ganz nach seinem Geschmack - ‚Oldstyle‘ eben!

Sein Magen knurrte. Längst hatte Julian in seiner Aufregung die Zeit vergessen. Seit der letzten Mahlzeit auf der Fähre am Morgen war doch etwas Zeit vergangen.

"Irgendwie sollte ich doch wieder mal etwas essen." Hunger gab Migräne und das war gelinde gesagt - Scheisse. Voller Vorfreude auf die bevorstehende Fahrt, stellte er das Fahrrad auf den Ständer und eilte zurück ins Haus. Das war die beste Gelegenheit für eine erste Ausfahrt, hinüber nach Nieblum. Schnell hatte er sich das Sakko gegriffen, die Sonnenbrille, das Handy und das Portemonnaie eingesteckt.

Zufrieden mit sich selbst und mit der neuen Freiheit, trat er kräftig in die Pedale, radelte über den Kiesweg und auf dem schmalen Weg zwischen den Bäumen, hinunter in Richtung Strand. Er hatte sich vorgenommen, mit seiner neuen Errungenschaft auf demselben Weg seiner Herfahrt ins Dorf zu radeln. Auf der Wiese flüchtete die Schafherde blökend davon. In der Ferne strahlte das rot weiss bemalte Leuchtfeuer von Nieblum, zwischen den Bäumen in einem matten Rot.

"Soweit ich mich erinnere, waren im Dorf ein paar interessante kleine Restaurants." Er genoss den maritimen Duft der Blüten und Wiesen. Die Gerüche erinnerten ihn an Zuhause. An den Stellgeruch, bei seinen Eltern oder an den heimatlichen Duft der Heuernte in den Appenzeller Täler. Minuten später war bereits die Surfschule an den Dünen erreicht. Neugierig fuhr Julian weiter in Richtung Strand und über den Parkplatz. Gegenwind - Entschlossen trat er die Pedale in Richtung Dorf. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Die fehlende Gangschaltung machte sich bemerkbar. Die ersten Friesenhäuser mit den typischen Reetdächern kamen langsam näher. Der Baustil vermittelte ihm etwas Heimatliches. Er liebte das Gefühl heimatlicher Verbundenheit und die Bodenständigkeit, die fruchtbaren Böden und farbenprächtige Blumenwiesen. Vielleicht war das der Grund ihrer Auswanderung, erinnerte er sich seiner Vorfahren. Das flache Land hatte etwas Ähnliches mit der Schweiz. Es trotze den Gefahren der Natur, war dennoch lieblich und von wunderbarer Schönheit - wenn auch ohne das Gebirge, hatte weder kleinste Anhöhen noch einen Hügel. Neugierig hielt er am Dorfrand kurz inne, um an einer rosaroten Blüte der zahlreichen Wildrosenbüsche zu riechen.

"Hallo. Können Sie mir vielleicht sagen, wie diese Blumen heissen?" Die Gelegenheit war günstig. In unmittelbarer Nähe war ein Gärtner an einer Rosenhecke beschäftigt.

"Moin. Jo, klar. Sie meinen dieses Unkraut hier?" Er zeigte mit kritischen Blicken auf die Blüten.

"Genau, diese kleinen Rosen."

"Also auf Amrum drüben, nennen sie die Sträucher Amrum Röschen. Die wachsen hier überall. Sind aber nicht heimisch. Die wurden mal aus dem asiatischen Raum eingeschleppt. Wir haben sie hier ziemlich über, weil sie alles überwuchern." Es war offensichtlich, dass sich der Gärtner ein gewisses Unbehagen über die Blumen nicht verkneifen konnte.

"Wir schneiden die jeden Herbst auf Bierflaschenhöhe ab. Die wachsen immer wieder auf volle Grösse nach." Mit seiner Erklärung warf er eine Schaufel auf den kleinen Lieferwagen, als ob er die Pflanzen damit vernichten wollte. Am liebsten hätte er sie wohl hinterher geschmissen. Die Mimik des Gärtners sprach Bände.

"Okay, Amrumröschen." Julian schmunzelte und zog das Fahrrad herum.

"Besten Dank und auf Wiedersehen." Er hatte sich als unwissenden Touristen enttarnt. Lächelnd trat er kraftvoll in die Pedale. Die Blume war zu einer Freundin geworden. Zäh und im Widerstand gegen alles, was ihr an den Kragen wollte. Sie hatte ihre eigenen Regeln, war dennoch eine unabhängige Königin geblieben.

Wenig später hielt er an der Jens-Jacob-Eschel-Strasse. Zwischen den alten Friesenhäusern im Dorf hatte der Wind etwas nachgelassen. Nach einem kurzen Orientierungshalt entschloss er sich, links ab zu biegen. Bäckerei Hansen – föhrliebt! Der Slogan war originell. Alles war ihm gänzlich unbekannt, jede Hecke, jede Gasse, jede Strasse und jeder Stein.

"Beim ersten Restaurant wird eingekehrt." Umsichtig radelte er über die Pflastersteine und vorbei an der Tankstelle. ‚Gasthaus zum Schlachter‘. Hungrig stellte er das Fahrrad in den Ständer unter die Bäume. Mit knurrendem Magen lief er zur Vitrine mit den gelben Speisekarten.

"Sieht doch ganz nett aus." Im selben Augenblick wurde er von einer schrillen Stimme abgelenkt. Unverständliche Wortfetzen mischten sich hinter seinem Rücken in seine Konzentration auf die Karte. Flüsternd eilten zwei ältere Damen an ihm vorbei.

"Komme ich vom Mars, oder sitzt meine Krawatte schief?" Sie musterten ihn mit grossen Augen. Er fühlte sich eigenartig bedrängt. Er war sich seiner kräftigen und auffälligen Statur durchaus bewusst. Seine längeren, blonden Haare stiessen ebenfalls nicht immer auf Verständnis, hatten ihm schon öfters zu Unrecht den Ruf eines raubeinigen Gesellen eingebracht.

"Entschuldigen Sie, junger Mann?" Eine der beiden Damen blieb neben ihm stehen. Mit entgeisterten und grossen Augen schaute sie ihm ins Gesicht, berührte seinen Oberarm.

"Ja, natürlich. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Gespannt auf ihr Anliegen liess er das Mütterchen gewähren. Sie war edel gekleidet und um einiges älter als er im ersten Moment dachte. Ihr Gesicht war vom Alter gezeichnet und mit tiefen Furchen durchzogen. Ihre Augen leuchteten in einem klaren Blau. An ihrer Hand glänzte ein filigran verzierter Fingerring mit einem grünlichen Edelstein.

"Sind Sie nicht …?" Bevor sie jedoch die Frage beenden konnte, wurde sie von ihrer Begleiterin weg gezogen. Aufgebracht und murmelnd fuchtelte sie mit ihren Händen. Mit schnellen Schritten und einem gedämpften Disput machten sich die beiden davon. Verdutzt schaute die Alte mit einem sanften Lächeln zurück und liess sich von ihrer Begleiterin hinweg ziehen.

"Was war denn das?" Irritiert schaute er den beiden hinterher. Er meinte aus der Ferne ein paar unverständliche Wortfetzen wie; ‚Schweizer‘ oder ‚Mörderhaus‘ aufgeschnappt zu haben. Dennoch war er sich nicht sicher genug, ihnen zu folgen und sie darauf anzusprechen. Abgesehen davon hatte er Hunger.

"Die Ladys haben wohl zu viele Krimis gesehen!" Er versuchte die Situation auf humoreske Art und Weise beiseite zu legen.

"So furchterregend sehe ich doch gar nicht aus, dass sich die alten Weiber wegen mir erschrecken müssen." Amüsiert widmete er sich schmunzelnd wieder der Speisekarte im Anschlagfenster.

"Donnerstag ist Ruhetag! Aha, gut zu wissen." Konzentriert las er den Text auf dem gelben Papier hinter dem spiegelnden Glas.

"Rumpsteak-Gerichte, Hering, Matjes. Das klingt schon mal richtig fein." Entschlossen betrat er das Restaurant, blickte sich um und setzte sich kurzentschlossen im Garten hinter dem Haus an einen freien Tisch.

Die Sterne funkelten wie Smaragde am Firmament. Der erste Abend an der Nordsee. Das Rauschen des Windes war eine ständige Begleitung in den Bäumen. Julian hatte sich erstaunlich schnell daran gewöhnt. Das Mondlicht glänzte auf den Wellen. In regelmässigen Abständen, schickte das nahe Leuchtfeuer seine Signale hinaus auf das weite Meer. Am Horizont spiegelten sich die Lichter der weit entfernten Warften. Als Mann der Berge war es ihm nach wie vor ein Rätsel, wie sich die Seefahrer an diesen Lichtern orientieren. Die seemännischen Navigationskünste waren ihm in keiner Art und Weise vertraut. Seine Welt waren die Schweizer Berge, das Kasein, Süssmolke, Lab, Pepsin und Chymosin. Käseharfe und die Synärese. Das Haarhygrometer oder das Käsekessi. Steuerbord, Backbord oder Achtern gehörten für Julian ins Reich der Piratenfilme. Seemannsknoten, Rahsegel, Schoten, Barken oder Besanmast, waren ihm bisher literarisch bei der Meuterei auf der Bounty oder im Kino begegnet. Blinkende, gemächlich dahinziehende Lichter auf der Nordsee stimmten ihn nachdenklich.

"Das ist heutzutage schon sehr eigenartig. Es gibt so gut wie keine wirklich ruhenden Momente mehr. Irgendwo sind in jeder Sekunde irgendwelche Menschen in dauernder Bewegung. Okay - irgendwo auf der Welt sowieso. Aber selbst um diese Uhrzeit auf den Containerschiffen, auf Fischkuttern oder auf den Nordseeinseln dort draussen. Ein ständiges Gewimmel und Gewusel." Besinnlich folgte er dem flimmernden Farbenspiel der untergehenden Sonne und lauschte der leisen Brandung der Nordsee.

"Es ist Zeit." Müde erhob er sich aus dem Sand, klopfte sich die kleinen Körner von der Kleidung. Das schwache Licht der Surfschule, wies ihm in der Dunkelheit den kurzen Weg durch die Düne. Schemenhaft lag der helle Parkplatz vor ihm. Das alte Fahrrad ratterte auf dem Waldweg über die Kieselsteine. Rhythmisch knarrten und quietschten die Pedale. Stille hüllte ihn ein. Vereinzelte Tierlaute unterbrachen das Geräusch der knisternden Reifen. In einiger Entfernung schimmerten hinter Büschen und Bäumen die Lichter entfernter Häuser. Zumindest der Wind hatte wieder etwas nachgelassen. Unweit entfernt erstrahlte der Hof von Ingken in einem schwachen Lichterschein. Sie hielt ihn noch immer in ihrem Bann, war ihm kaum mehr aus dem Sinn gegangen. Ständig hatte er ihr wundervolles Lachen vor Augen, hörte ihre klangvolle Stimme in seinem Ohr. Nichts wäre zu dieser späten Stunde schöner, als sie mit ihr gemeinsam zu verbringen. Mit ihr am Strand zu liegen, gefühlvoll und romantisch die Sterne zu bewundern. Die Geheimnisse und Mysterien des Lebens und der Liebe zu betrachten, zu philosophieren über Fügung, Schicksal und Bestimmung und den wundersamen Weltenlauf.

"Wunschträume sind legal". Wehmütig trat er in die Pedale.

Die Matratze in dem eisernen Bettgestell war formidabel weich. Metallene Bettfedern quietschten. Eine geschmackvolle Jugendstil Lampe auf dem stilvollen Nachttisch, gab ein angenehmes, warmes Licht. Die urzeitliche Glühbirne mit dem spiralförmigen Wolframfaden war hell genug zum Lesen - 'Die Wanderhure' des Schriftstellerehepaars Iny Lorentz. Zur Ausleuchtung des gesamten Zimmers war sie eigentlich zu dunkel. Sie warf skurrile Schattenbilder an die Wand der düsteren Kammer. Julian rollte die SMS an seinem Handy-Display. Aufmerksam las er die Mitteilungen. Es wurde zuhause oft an ihn gedacht. Wie gerne sie mit ihm hierher gefahren wäre, liess Monika ihn wissen und, dass sie ihn gerade jetzt auf ihrer Couch vermisse. Er, der er doch so unerreichbar weit von ihrem Herzen lebe. In ihrem schönen Appenzell, dennoch nur gerade eine Ecke weit entfernt. Ein Sonnenuntergang von Annemarie, als schönes MMS. Er solle sich dabei an sie erinnern und sich daran entsinnen, in wessen Armen sie sich jetzt gerne an diesem wundervollen Ort befände.

"Das Leben ist ein Liebesspiel. Es hat oft gezinkte Karten." Ambivalent in den Gefühlen, schrieb er diesen Satz in sein kleines Buch und sehnte sich nach der Liebe einer anderen. Gedankenversunken wanderten seine Blicke an die verzierte Decke. Phantasievoll liess er Falken, Fische und Schattenhunde an den Wänden spielen. Er mochte die Mystik der Dunkelheit.

"Wie vielen Bewohnerinnen und Bewohner war dieses Haus für viele Jahre eine Heimat? Wie viele Generationen haben sich in diesem Raum geliebt? Wer von ihnen allen wurden wohl geboren, just in dieser Kammer? Wie viele Menschen mögen schon an diesem Ort verstorben sein? Waren sie glücklich und zufrieden oder von Hunger, Elend und Not geplagt?" Gedankenvoll steckte er die Kopfhörer ins Ohr; Paul McCartney mit den Wings - Maybe I'm Amazed.

"Wer waren alle diese Menschen? Wo mögen ihre Gräber liegen?" Fragen über Fragen raubten ihm seinen Schlaf. Draussen schlich sich erneut der Wind umher, versuchte beharrlich durch kleinste Ritzen und durch Spalten in das kleine Haus zu drängen. An allen Ecken und Enden knarrte und stöhnte das Gebälk des alten Friesenhauses. Regelmässig blinkte der schwache Schein des Leuchtfeuers durch die Bäume. Schlaflos erhob sich Julian von der Liege und ging ruhelos zum Fenster. Die sanften Erhebungen der Dünen schimmerten weit entfernt durch die Bäume. Der alte Deich zog eine klare und dunkle Silhouette am sternenklaren Horizont. Nächtliche Geräusche drangen mitunter schreiend, pfeifend und gurrend aus dem nahen Wald. Hellwach griff er nach der Gitarre, setzte sich auf den Bettrand und begann zu klimpern, Hannes Wader - Heute hier, morgen dort.

Blutstein

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