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Kipsdorf

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Stärke ist nicht die Härte unseres Handelns, sondern das Gefühl, welches man bereit ist zu zeigen.

Hans-Joachim Schmidt, Autor



Kipsdorf –Pestalozziheim (Kinderheim)

Im August 1955, fünf Monate nach meiner Geburt, kam ich ins Heim. Die genauen Umstände, die dazu führten, sind nicht mehr zu erfahren. Nur so viel: Meine Mutter war damals 17 Jahre jung, also noch nicht volljährig, als ich zur Welt kam. Und was das Mitte der 50er Jahre bedeutete, muss, so glaube ich, nicht erörtert werden. Es reichte manchmal schon, nicht verheiratet zu sein, um einer Mutter das Kind wegzunehmen und „an Kindesstatt zu geben“ – das hieß im Klartext, einer Adoption zuzuführen. Leider kam es in meinem Fall nie dazu, weil mein Erzeuger, damals 19 Jahre, dem nicht zustimmte und meine Mutter nach Mainz zu ihren Eltern zog.

Zu welcher Personengruppe mein Erzeuger zählte, bedarf ebenfalls keines Kommentars.

Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie ich sehr oft in den Heimen in Buckow als auch in Kipsdorf Besuch von einer Frau bekam. Sie war sehr lieb zu mir und brachte immer viel Süßigkeiten und Spielzeug mit. Als ich meine Erzieher fragte, ob sie meine Mutter sei, sagte man mir, NEIN.

Dazu muss man wissen, dass, wenn ich als Kind Besuch von jener Frau bekam, wir unter ständiger Beobachtung waren. Ich hatte mehr Freiheiten beim Sprecher im Knast (politisch) zu DDR-Zeiten. Wenn ich sie fragte, ob sie meine Mama sei, weinte sie immer und hielt meine Hand ganz fest. Oft hatte ich sogar den Eindruck, als wolle sie mich ganz fest an sich drücken. Bei solch einer Gelegenheit beugte sie sich über mich, brach aber immer unbeholfen ab – so mein damaliges Empfinden und meine Erinnerung. Ich war ein Kind und wusste nicht, wie ich mich zu verhalten hatte.

Nach den Besuchen bekam ich oft Stubenarrest. Ich verstand es einfach nicht.

Heute kann ich deutlich erkennen, warum.

Auch jene Frau verneinte irgendwann meine Frage. Heute glaube ich fest daran, dass es meine Mutter war, es ihr aber verboten wurde, sich zu erkennen zu geben. Man sagte ihr bestimmt, dass, wenn sie sich zu mir als meine Mutter bekennt, Schluss mit den Besuchen sei. So kam es dennoch, nach Werftpfuhl kam sie dann nicht mehr. Der Grund dafür wird im System und in den Machenschaften selbst gelegen haben.

Kipsdorf war für mich, 1963, schon das fünfte Heim, welches ich in sehr jungen Jahren durchlief. Dieses sollte auch nicht das letzte sein, es folgten drei weitere Einrichtungen und die hatten es in sich.

Auch heute noch ist Kipsdorf ein idyllischer Kurort im Erzgebirge. Es gibt den oberen und den unteren Teil von Kipsdorf. Das Heim, in das ich eingewiesen wurde, befand sich im oberen Teil, hoch oben auf einem Berg mit einer atemberaubenden Aussicht. Es ist ein Ort, in den man sich auf Anhieb verliebt. Besonders der Winter macht diesen Ort so wunderschön und liebenswert.

Viel Zeit hatte ich nicht, um mich an die Idylle dieser Ortschaft zu erfreuen. Nach gut einer Woche in diesem Heim wurde unsere Gruppe für Reinigungsarbeiten im Dorf eingeteilt. Also Arbeiten, die eigentlich der Straßenreinigung eines VEG-Betriebes obliegen. Da wurde dann durch uns Unrat von der Straße und den Gehwegen entfernt und es galt, das Laub von selbigen zu befreien. Dass ich noch nicht mit den sächsischen Begriffen klarkam, wurde mir zum Verhängnis. Alles, was wir zusammen harkten, wurde in Kisten getan und dann auf einen Hänger geschüttet. Irgendwann rief mich meine Erzieherin zu sich und befahl mir, gleich die „Stiege“ mitzubringen. Ich stand da wie ein Idiot, weil ich nicht wusste, was sie von mir verlangte, zumal ich ihr Sächsisch ohnehin nicht ganz verstand. Sie muss sich wohl in ihrer Anweisung, durch mich, übergangen gesehen haben. Als ich bei ihr ankam, natürlich ohne Stiege, hat sie mir, ohne ihr Gesicht zu verziehen oder eine Frage zu stellen, ansatzlos ihre Faust ins Gesicht geschlagen. Beide Zahnreihen, also die obere und untere, bohrten sich in die Lippen, sodass sie bis zur Unkenntlichkeit anschwollen. Ich hatte, wie man es in Freundeskreisen nennt, ein Fischmaul. Wochen hat es gedauert, bis alle Zähne wieder ihren Halt fanden.

Derartiges ist mir zuvor noch nie widerfahren, sollte aber auch nicht das letzte Mal sein. Ja, es gab einmal, um es wohlwollend zu formulieren, einen Klaps, aber diese Brutalität war neu für mich. Und das alles deswegen, weil ich nicht wusste, dass eine Stiege eine Kiste ist. Einen ähnlichen Hammer empfing ich von selbiger Erzieherin, als wir Feldarbeiten verrichten mussten. In einer kleinen Pause, unsere Erzieherin rauchte, sagte sie mir: „Bitte halte mal meine Zigarette.“ Ich nahm sie und sie zog sich ihren Schuh aus, wahrscheinlich, um ihn von einem Steinchen zu befreien. Es war Oktober und kalt, jedenfalls tat ich so, als würde ich an der Zigarette ziehen und mein warmer Atem, der in die kalte Luft entwich, ließ bei jener Dame den Schluss zu, dass ich geraucht habe. Ihr wirklich schwerer Arbeitsschuh donnerte mit einer Wucht in mein Gesicht, sodass ich von dem Stein abhob, auf den ich bis dahin noch saß.

Irgendwann hatte ich mich an diese Entgleisungen unserer Erzieher und Erzieherinnen gewöhnt, wenn ich das einmal so sagen darf. Nun war ich schon seit fast zwei Jahren hier im Pestalozziheim, welches nach einem Schweizer Pädagogen benannt worden war. Morgen fingen endlich die Weihnachtsferien an.

Die Ferien wurden immer von uns Kindern sehnsüchtig erwartet, weil viele Zöglinge in dieser Zeit zu ihren Eltern durften. Ich freute mich natürlich auch auf die Ferien, obwohl ich keine Eltern hatte, zu denen ich gekonnt hätte.

Aber jeden Tag rodeln oder Ski fahren oder auch Schneewanderungen bestärkten meine Freude. Alles war mit meterhohem Schnee bedeckt, wie jedes Jahr um diese Zeit. Es sah einfach märchenhaft aus. Obwohl ich Kälte überhaupt nicht mag. Aber Schnee mag ich, er ist so individuell.

Heute, wie auch die letzten Tage, schneite es schon den ganzen Tag große, dicke Flocken. Das Spiel der Flocken im Wind, wie sie dahinschwebten und sich niederließen, war immer ein schönes Schauspiel. Nichts schien vorherbestimmt, sie fielen dahin, wo der Wind sie hintrug, und schmolzen ineinander. Immer hatte ich dabei die tollsten Gedanken gehabt und fing an zu träumen. Mein Wunsch war es immer, wenn ich dieses Schauspiel der Flocken sah und wie sie sich mehr zufällig fanden, dass auch ich meine Mutter so fände.

Diesen Abend, nach dem Abendbrot, mussten wir unsere Wunschzettel für Weihnachten abgeben, es war der letzte Termin, wie uns von unserer Erzieherin gesagt wurde. Es reichte nicht, einfach nur zu schreiben: „Ich wünsche mir …“ Zu jedem Wunsch sollte ein Bild gemalt werden und es mussten mehrere Wünsche auf dem Zettel sein, sodass nach Möglichkeit einer erfüllt werden konnte.

Auf meinem Wunschzettel stand: „Ich wünsche mir einen Teddy oder einen Burattino.“ Dazu malte ich dann einen Teddy und eine Puppe mit einer langen Nase, die mir von einer Frau übergeben wird.

Immer hatte ich zu meinen Wunschzetteln eine Frau gemalt, aber nie hat es jemanden interessiert, wen sie darstellen soll. Nur diesen Abend fragte mich die Erzieherin, indem sie auf mein Bild zeigte: „Wer ist diese Person, Hans, bin ich das?“

„Nein, Frau Hansen, das ist meine Mutti“, antwortete ich.

Nachdem sie mir einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben hatte, nahm sie meinen Wunschzettel und ging.

Am nächsten Morgen wurden wir nicht geweckt, wie es sonst üblich war. Es war schon recht hell draußen. Als ich aus dem Fenster schaute, traute ich meinen Augen nicht: Der Schnee reichte bis ans Fensterbrett unseres Schlafraums, bis in die erste Etage hoch.

Es musste die ganze Nacht durchgeschneit haben.

Sofort zog ich mich an und rannte, ohne mich zu waschen, zur Haustür. Beim Versuch, sie zu öffnen, war ich schmerzhaft gegen die Tür gerammt. Nachdem der Schmerz gewichen war, probierte ich es aber noch einmal, sie zu öffnen – es war nicht möglich.

Über Nacht hatte sich eine Schneewehe gebildet und den Hauseingang versperrt.

Ich lief daraufhin zurück in den Schlafraum und kletterte aus einem, noch halbwegs schneefreien, Fenster. Einige folgten mir und wir liefen zum Eingang und buddelten die Tür mit den Händen frei.

Als alles vollbracht war, rannten alle anderen auch hinaus, und wir schmissen uns in den Schnee, voller Übermut. Sofort ging auch eine Schneeballschlacht los, zuerst jeder gegen jeden und dann die Jungen gegen die Mädchen. Meine Hände und Füße waren schon eiskalt, und ich fror, aber es hat trotzdem Spaß gemacht, schon weil niemand da war, der uns maßregelte.

Schnee im Erzgebirge zu dieser Jahreszeit war nicht ungewöhnlich, um so ausgelassen zu sein. Ungewöhnlich war, dass wir praktisch vom Schnee eingeschlossen und auf uns allein gestellt waren.

Kein Erzieher in Sichtweite, absolute Stille. Wir hatten sozusagen sturmfreie Bude. Keiner, der meckerte oder uns tadelte für unseren Spaß. Wenn das kein Grund war, ausgelassen zu sein, dann weiß ich auch nicht.

Bei all der Freude dachte ich an meine Freundin Marianne, sie war auch gern ausgelassen und es hätte ihr auf jeden Fall gefallen, da war ich mir sicher. Sie wohnte aber in Haus 2, dort waren die Großen, wie wir sie nannten, untergebracht.

Auch die Küche und der Speisesaal waren in diesem Haus, also eigentlich der gesamte Wirtschaftstrakt.

Meine Freundin Marianne ging in die sechste Klasse und ich in die dritte. Mit ihr unternahm ich viel gemeinsam.

Wir hatten auch Mädchen in unserer Gruppe, aber eine Freundin zu haben, war nicht so toll und schon gar nicht in der eigenen Gruppe. Man wurde zum Außenseiter und keiner wollte was mit dir zu tun haben. Aber mit Marianne war das anders, sie war ja von der großen Gruppe.

Wir waren gemeinsam, unter anderem, im Nadelarbeiten- und Kochkurs. Dort lernte ich dann Häkeln, Stricken, Stopfen und, und, und.

Den Jungs habe ich davon nichts erzählt. Das wäre bestimmt eine riesige Lachnummer geworden – ein Junge in der Schneiderstube.

Manchmal hat mich einer in der Küche gesehen und fragte dann, was ich da mache. Ich sagte immer, „ich fresse mich durch“. Das war dann in Ordnung. In den Nähkurs hätte sich keiner verirrt, da war ich sicher.

In all der Freude, die wir an diesem Morgen hatten, hallte ein lautes, bestimmendes „Alles sammeln, Schnee-Einsatz am Bahnhof“.

Na klar, nicht vergessen, sondern verdrängt, denn es war jedes Jahr so: Mehrmals in der Wintersaison die Schienen und Gleise von Schnee und Eis befreien.

Nach dem Frühstück liefen wir dann zum Bahnhof, dort hatten wir schon einen eigenen Verschlag für Schippen und andere Werkzeuge.

Diesmal aber waren wir Heimkinder nicht allein am Bahnhof, sondern auch Soldaten, die dort mithalfen. Selbst die Züge waren in hohe Schneewehen verpackt. Der Schnee reichte fast bis an die Oberleitungen heran. Dort durften wir nicht hin, es sei zu gefährlich für uns, sagte Herr Holm.

Das Freischippen der Anlage war eine regelrechte Schufterei, aber irgendwie hatte es mir doch Spaß gemacht, mit den Soldaten zusammenzuarbeiten. Bis zum Mittag war das Werk vollbracht und wir wurden dann mit einem Armee-Lkw ins Heim zurückgefahren. Es war ein Heidenspaß. Bergauf, Richtung Heim, kamen wir nicht richtig weg und der Lkw rutschte hin und her. Herr Holm wurde quirlig und ordnete an „Festhalten, alle untereinander festhalten“.

Wir wussten gar nicht, was unser Erzieher hatte, wir fanden das Schlingern des Fahrzeugs toll.

Im Heim angekommen, sagte er uns, dass das da eben sehr gefährlich gewesen sei. Wir hätten vom Weg wegrutschen können, und der Lkw hätte umkippen können. „Was glaubt ihr, was passiert wäre, wenn wir den Abgrund runtergedonnert wären, samt Lkw?“ Herr Holm war immer noch sichtlich geschafft.

Nach dem Mittagessen, noch im Speisesaal, kam unser Heimleiter, Herr Michel. Er bedankte sich bei uns für die gute und schnelle Erledigung der Arbeiten auf dem Bahnhof. Wir bekamen ein dickes Lob von unserem Heimleiter und das Versprechen, dass wir alle vom Heim nach Dresden zum Stadtbummel eingeladen würden. Dann auf einmal wurde er ernst, er richtete sich auf, ich würde sagen, er stand stramm. Stolz, mit geschwollener Brust, verkündete er: „Soeben habe ich einen Anruf vom Kommandeur der hier in der Nähe stationierten NVA erhalten, die Soldaten waren von eurem Einsatz am Bahnhof beeindruckt, und ich soll euch allen einen persönlichen Dank aussprechen. Spontan haben die Soldaten Geld gespendet, sodass jeder von euch zwei Mark für den Bummel in Dresden erhält.“

Die Freude hielt sich nicht mehr in Grenzen. Ein Bummel durch Dresden und dann noch Taschengeld. Eigentlich bekamen wir eine Mark im Monat Taschengeld, aber davon wurden immer fünfzig Pfennig nach Algier gespendet. Dort sei Krieg und die bräuchten das Geld nötiger, so sagte man uns.

Unser Dresden-Ausflug war einfach zauberhaft. Herr Wolf, ein Erzieher, holte uns um 10 Uhr ab und wir bestiegen einen Bus. Meine Freundin Marianne saß gleich neben mir. Sie sorgte für einen Platz vorne beim Fahrer.

Sie hatte zwar nicht am Einsatz direkt teilgenommen, wie so einige andere Insassen aus ihrer Gruppe, aber sie hatte in der Küche gearbeitet und für unser Wohl gesorgt, also war sie indirekt doch beteiligt. „Den Tee“, so sagte sie liebevoll, „habe ich gemacht“. So kam es, dass einige Helfer von den Größeren mit dabei waren.

Die Überraschung war dann der Weihnachtsmarkt. Tausende Lichter und alles drehte sich! Und der Duft, der in der Luft lag, war zuckersüß.

Als Erstes bin ich mit Marianne zur Schießbude gegangen. Der Budenbesitzer wollte mir zunächst keinen Knicker geben, weil ich seiner Ansicht nach zu klein war. Erst als Marianne sich für mich einsetzte, gab er nach. Zehn Schuss hatte ich auf eine Zielscheibe abgegeben. Muss gar nicht so schlecht gewesen sein, denn der Budenbesitzer bot er mir eine Menge Sachen an.

Unter all dem Krempel, den er mir anbot, sah ich ein riesiges Schokoladenherz. Dieses Schokoladenherz war mit einer Kordel zum Umhängen versehen und auf dem Herz stand, mit rotem Zuckerguss geschrieben: „Ich liebe dich.“ Genau das war es, was ich wollte. Marianne war immer spontan, immer war ihr etwas Neues eingefallen, auch wenn ich einmal keine Lust hatte, und sie gewann immer – egal, worum es ging. Aber jetzt konnte ich ihr etwas schenken, was sie beeindruckte.

Diese berühmten drei Worte habe ich ihr nie gesagt, obwohl ich so oder ähnlich fühlte. Ich bekam dieses Herz und schenkte es Marianne. Sie hat mich bald totgedrückt und auf die Wange geküsst, immer und immer wieder. Es hat mir so gut getan – sie war glücklich.

Meine Freundin und ich haben dann alles auf dem Weihnachtsmarkt bestiegen, was sich auch nur irgendwie bewegte.

Es war nicht das erste Mal, dass wir vom Heim derart belohnt wurden, wenn wir uns durch besondere Einsätze hervorgetan hatten, aber dieser Tag übertraf alles.

Ja, oft waren Arbeitseinsätze angesagt, in der Regel auf irgendeiner LPG in der Nähe unseres Heims.

Meist waren die Einsätze so gelegt worden, dass sie in unsere Ferien fielen.

Und wenn einmal nichts für uns auf einer LPG zu tun war, waren auch andere VEB-Unternehmungen gern auf Hilfsangebote der jeweiligen Heimleitungen eingegangen.

Ein Fernbleiben von irgendeiner angeordneten Arbeit war, ohne drastische Einschnitte in deine Gesundheit, nicht möglich – um es wohlwollend zu formulieren.

Das Sammeln von Kartoffelkäfern und Nachlesen der Kartoffeln waren der Hauptbestandteil solcher Arbeitseinsätze.

Das Käfersammeln, Wochen vor der Kartoffellese, fand nicht nur ich ekelig. Eigens dafür bekamen wir so etwas wie verschließbare Einweckgläser mit einem Glasdeckel an dem sich ein Gummiring befand.

Mit dem Gummiring wollte man wohl das Geräusch des Schließens der Gläser reduzieren oder verhindern, dass beim ständigen Öffnen und Schließen das Glas oder der Deckel splitterte. Immer wenn einer von uns ein Glas voll hatte, wurde dieses unter Aufsicht in einen Metallbehälter, der ebenfalls einen Deckel hatte, geschüttet, der dann regelmäßig unter Zugabe eines Brandbeschleunigers und von trockenem Stroh angezündet wurde. Der Gestank der verbrannten Käfer war widerlich. Und obwohl alles im Freien geschah, lag doch der Gestank ewig in der Luft. Nicht selten hat sich jemand von uns übergeben.

Diese Gläser müssen wohl der Hit in der DDR gewesen sein, denn egal, auf welcher LPG ich arbeitete, diese Gläser fand man überall. Auch als Behälter für Schmalz. Das schreibe ich deswegen, weil sie uns in den Pausen zum Verzehr Schmalzstullen schmierten.

Der Gedanke, dass zuvor diese Käfer darin waren, ließ mich jedes Mal würgen. Aber der Hunger überwand dieses Ekelgefühl.

Vor jedem Einsatz der Kartoffellese sagten der Erzieher oder die Erzieherin: „Die LPG gibt uns Geld für diese Arbeit. Also seid fleißig, denn dann werden Fahrräder für euch gekauft.“

Nachlesen von Kartoffeln war für uns Achtjährige eine schwere Arbeit, weil es in der Regel nicht nur nass und kalt zu den Sammlungen war, sondern auch, weil diese Kartoffeln sehr klein waren. Wegen ihrer geringen Größe wurden sie „Schweinekartoffeln“ genannt, weil diese Kartoffeln an die Tiere verfüttert wurden, wie man uns sagte.

Mich wunderte eine solche Bezeichnung schon, denn ich hatte sehr oft in der Heimküche Kartoffeln geschält und diese hatten dieselbe Größe wie die, die sie als Schweinekartoffeln bezeichneten und die wir zu essen bekamen.

Erschwerend kam hinzu, dass diese Kartoffeln nur auf „allen Vieren“ gesammelt werden konnten. In dieser Stellung robbten wir bis zu acht Stunden durch das nasse Erdreich und das tagelang.

Die Drahtkörbe, in die wir die Kartoffeln einsammelten, waren groß, und es dauerte eine Ewigkeit, bis so ein Korb gefüllt war.

„Es gibt 5 Pfennig für jeden vollen Korb, natürlich nur symbolisch. Somit wisst ihr, was so an Geld zusammenkommen kann“, spornte uns jedes Mal einer derjenigen, der uns beaufsichtigte, an.

Am Hänger, in den die Körbe entleert wurden, stand ein Mitarbeiter der LPG, der die Füllungen der Körbe kontrollierte und deren Anzahl notierte.

Manchmal wurden Körbe zusammengekippt, also aus vier Körben wurden dann drei oder manchmal auch nur zwei. Es war von uns keine böswillige Absicht, die Körbe nicht bis oben hin oder auch mit einem Berg zu füllen. Es war das Gewicht. Denn so, wie es die Leute von der LPG gern gesehen hätten, waren die Körbe für uns zu schwer, und die Kartoffeln wären zudem vom Korb gerollt, was ein weiteres Nachlesen zur Folge gehabt hätte. Nach jeder täglichen Lese wurde das Feld auf eventuell liegengebliebene Kartoffeln durchsucht und bei Bedarf am nächsten Tag nochmals nachgesammelt.

Bei all dieser Plackerei auf dem Feld kam erschwerend hinzu, dass die Hosen schwer wie Blei wurden.

Nicht nur die Nässe, sondern auch das Erdreich an den Knien ließen die Hosen ins Unermessliche rutschen.

Das Beste allerdings an diesen Einsätzen auf der LPG war die Verpflegung in den Pausen. Es gab immer Tee und Schmalzstullen, zur Abwechslung auch einmal Milchsuppe, direkt auf dem Feld. Zum Mittag wurden wir immer, auf einem Hänger sitzend, mit einem Traktor in die LPG gefahren und anschließend wieder aufs Feld zurück. Auf der LPG konnten wir unsere Sachen dann halbwegs an einem Koksofen trocknen.

Für diese Trockenzeit wurden Decken an uns verteilt. Zum Kaffeebrot gegen 15 Uhr, welches ebenfalls auf dem Feld gereicht wurde, gab es meistens Knäckebrot mit Marmelade und manchmal auch Kuchen. Zum Trinken dazu gab es immer Muckefuck, wie auch im Heim.

Muckefuck war ein Kaffee-Ersatz – also ohne Koffein. Mit viel Zucker und Milch war er auch genießbar.

Wenn die Erntesaison ihr Ende fand, waren wir alle erleichtert, dass es endlich vorbei war.

Aber im neuen Jahr fing alles wieder von vorne an.

Als Erstes wurden durch uns Kinder die Steine vom Feld gesammelt, was so ziemlich die schwerste Arbeit war. Irgendwann in der Saison wurden Setzlinge gepflanzt, später dann die Rüben verzogen und letztendlich kam dann deren Ernte. Diese Arbeiten waren auch nicht besonders erquickend, weil auch diese nur in gebückter Haltung oder eben auch nur auf „allen Vieren“ zu bewerkstelligen waren.


Übrigens benutzte die Stasi ähnliche Gläser, um Geruchsproben von mutmaßlichen Kriminellen zu konservieren.

Geschundene Seelen - Schwarze Pädagogik

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