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Neues Heim

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Werftpfuhl-Johannaheim (Spezialheim)

Aber dann kam der Tag, an dem sich alles in meinem Leben ändern sollte.

Während der schönsten Zeit, zu der Zeit, an der man sich halbwegs wohlfühlte – vor dem Weihnachtsfest –, musste ich wie so oft zum Heimleiter. Und noch in derselben Stunde, also von jetzt auf gleich, sollte ich alles zurücklassen, was mir lieb und teuer war. Nichts durfte ich mitnehmen und ein Verabschieden wurde erst gar nicht zur Diskussion gestellt. Im Prinzip wurde mir gar nicht erzählt, was mit mir passieren würde und wo es hinging. Das Auto wartete schon und dann ging alles sehr schnell.

So richtig begriffen, was da passierte, hatte ich das damals wirklich nicht. An alles Mögliche dachte ich, aber nicht, dass es die letzten Minuten sein würden in Kipsdorf.

Zuerst kam ich in ein Durchgangsheim nach Berlin Alt-Stralau, dort blieb ich dann bis nach den Weihnachtstagen.


Alt-Stralau Berlin (Durchgangsheim)

Zunächst hatte ich im Durchgangsheim meine Ruhe. Aber schon am vierten Tag bekam ich die volle Härte der sozialistischen Erziehung zu spüren. Aus mir unerklärlichen Gründen schoss eine Erzieherin auf mich zu, schleuderte mich zu Boden, griff meinen Kopf und schlug mich mit dem Gesicht auf den Boden auf. Dabei verlor ich einen Zahn. Nicht, dass ich irgendwie ärztlich behandelt oder mit sonst Mitleid zuteil wurde. Im Gegenteil, ich musste bei einem Erziehungsleiter antreten und wurde noch gemaßregelt. Von ihm erfuhr ich dann auch, dass ich in ein Spezialheim verlegt würde. Mehr war nicht!

Meine Hoffnung war, dass mir die Tritte aus Kipsdorf und die Schläge, denen ich in Alt-Stralau nun ausgesetzt war, im neuen Heim erspart blieben. Ich sollte mich irren.

Ich kam in ein Heim, wie ich später erfuhr, für Psychodiagnostik und psychologische Therapie – jenes angekündigte Spezialheim. Wahrscheinlich war das die Quittung für mein Verhalten auf die mir zuteilgewordenen Zuwendungen durch das pädagogische Personal.

In den Morgenstunden, gleich nach dem Frühstück mit Marmeladenstulle und Muckefuck, ging die Reise in mein neues Zuhause los.

In meinem neuen Heim angekommen, musste ich in der Eingangshalle warten. Sofort fiel mir ein großes Bild an der Wand auf, welches in mir Hoffnungen, dass es mir hier besser gehen wird, aufkommen ließ. Zu sehen war eine Frau, die ein Kind auf den Armen hielt.

Lange konnte ich mich an diesem Bild nicht erfreuen. Ein kräftiger Herr schrie in einem schroffen Befehlston: „Mitkommen!“

Ich zuckte zusammen und muss ihn dann angesehen haben wie ein Kind, das den bösen Kasper gesehen hatte. Jedenfalls stand ich da, wie durch denselbigen erschrocken, halb gebückt und beide Arme über dem Kopf. Jener Brüller packte mich dann unsanft am Kragen und schob mich vor sich her, erst die langen Gänge entlang, dann die Treppen hoch bis in die oberste Etage zur Wäschestube. Von ihm bekam ich meine neue Wäsche. Noch meine Sachen in den Armen haltend, schob er mich unsanft die Treppen runter bis in den Flur vor einen großen Waschraum.


Bildnis von Johanna mit Kind aus der Eingangshalle

Er befahl mir, in den Waschraum zu gehen, was ich auch tat. Mit einem Getöse folgte mir ein Stuhl, den er mit einem Tritt unter meinen Arsch stieß.

Ich konnte gar nicht anders, ich musste Platz nehmen.

„Du wartest hier, ich bin gleich zurück“, sagte er in strengem Ton und verließ den Raum. Zurück kam er mit einem elektrischen Haarschneidegerät.

„So, dann werde ich dir mal einen anständigen Haarschnitt verpassen. Bei uns trägt keiner lange Haare“, sagte er mit einem hämischen Grinsen. Er legte los und ich sah rechts und links von mir meine Haartracht fallen. Was ich anschließend im Spiegel sah, konnte ich nicht fassen. Man hatte mir eine Bombe geschnitten. Meine Haare waren immer etwas länger und zu einer schicken Tolle gekämmt, so jedenfalls liebte es Marianne.

Aber jetzt trug ich sie koppelbreit über den Ohren und der Rest wurde mir zwei Millimeter vor der Schädeldecke gekürzt. Ich sah aus wie ein HJ-Junge.

„Was ist mit dir, gefällt es dir etwa nicht, was du da siehst. Am besten, du gewöhnst dich an diese Frisur, denn die Matte kommt jeden Monat ab. Zieh dich jetzt aus. Gleich kommt jemand und sorgt dafür, dass du deinen Dreck loswirst.“

Nackt stand ich nun in dem kalten Waschraum und wartete, was jetzt so auf mich zukommt.

Und es kam auf mich zu … Ich wurde stumm, von einer kräftig geformten Frau, in einen großen Duschraum geschubst, der gleich an den Waschraum anschloss und unter die Dusche gestellt.

„Fünf Minuten!“, schrie sie, „fünf Minuten zum Duschen und keine Minute länger, dann wird das Wasser abgestellt!“

Das Wasser war nur lauwarm, um nicht zu sagen, kalt. Es hatte sich nicht einmal Dampf gebildet oder die Spiegel beschlagen lassen.

Als ich dann eingeseift war, ging das Wasser tatsächlich aus. Über und über war ich mit Seifenschaum bedeckt. Ein Waschlappen, um mich halbwegs von der Seife zu befreien, stand nicht im Angebot.

„So, abtrocknen und das Ganze zack, zack“, sagte jene massige Frau zu mir und wies auf ein Handtuch, welches ich als solches nicht gleich erkannte.

„Das ist doch kein Handtuch“, dachte ich. Mit so einem Tuch habe ich immer Geschirr in Kipsdorf abgetrocknet, nur dass dieses hier dunkel war.

„Ich bin noch total voll Seife“, fügte ich kleinlaut hinzu.

„Fünf Minuten, sagte ich doch“, war ihre lautstarke Antwort darauf.

Mein erster Gedanke war: „Nett und fett, die sieht aus wie eine Tonne.“

Bis heute weiß ich nicht, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, aber alle nannten sie Tonne, und ich beließ es auch dabei.

Aber wehe dem, der es wagte, sie „Tonne“ in ihrem Beisein zu nennen. Sofort setzte sie ihre unansehnlichen Massen in Bewegung und packte sich jenen Zögling. Dann holte sie ihr Schlüsselbund heraus und legte ihn in ihre Hand, dabei ließ sie einen Sicherheitsschlüssel hinausschauen und stieß ihn mit voller Wucht in den kleinen Körper des Probanden. Dabei kniff und schrie sie: „Was bezweckst du damit?“

Was Tonne auch gut konnte, war, an den Koteletten ziehen und das ebenfalls mit wachsender Begeisterung. Tränen und Schreie während ihrer Handlungen beeindruckten sie nicht.

Es waren nicht nur belanglose Geschichten, die sie zu derartigen Aussetzern brachten.

Tonne war eigentlich nur die Nachtwache und ihr entging nichts, fast nichts. Schuld an dem „fast nichts“ war ihr unausstehlicher Geruch. Sie roch nach einem Gemisch aus Schweiß, Urin und Kot und das musste ihr entgangen sein.

Einmal sagte ich zu ihr: „Sie müssen da in was reingetreten sein“, aber sie hob noch nicht einmal ihren Fuß, um zu sehen, ob da etwas dran sei.

Sie war es letztlich auch, die mir meinen Schlafraum und mein Bett zuwies.

Ohne Abendbrot musste ich ins Bett. Ich hatte mich auch nicht getraut, etwas zu sagen. Viel zu eingeschüchtert war ich von den ersten Eindrücken der letzten Stunden.

Das Bett war schmal und hart und die Matratze zu dünn, man konnte die wenigen Latten darunter spüren. Ach, was sag ich da, Matratze – es war nichts anderes als ein Stoffsack mit gefülltem Stroh. Laufend habe ich mir den Kopf am seitlichen Bettgestell gestoßen. Das passierte immer dann, wenn ich mit dem Kopf mein Kopfkissen suchte.

Meine Angewohnheit war es, wenn das Kissen weg war, es nicht mit der Hand zu suchen, sondern mit dem Kopf zu ertasten. So passierte es, dass ich dann mit dem Kopf auf die seitliche Bettumrandung schlug und sofort hellwach wurde. Diese Vorgehensweise habe ich nie geändert, bis heute nicht, ich bin nur etwas vorsichtiger geworden.

Die erste Nacht in Werftpfuhl wurde eine sehr lange und unangenehme Nacht. Mein Körper juckte von der nicht abgespülten und dann getrockneten Seife auf meiner Haut. Die Haarstoppeln, die ich jetzt trug, waren hart und pikten, was ebenfalls von der nicht abgespülten Seife herrührte.

Meine Gedanken waren bei Marianne, ich wusste jetzt, dass ich sie nie wiedersehen würde.

Die Erinnerungen an sie und die schöne Zeit mit ihr ließen mir das Wasser in die Augen schießen. Keine aufmunternden Worte mehr, kein Zuspruch und keine Wärme, die nur sie ausstrahlen und geben konnte, ging es mir immer wieder durch den Kopf.

Anfangs hatte ich noch geschluchzt, mich aber dafür geschämt, dass es jemand hören könnte. Ich habe dann den Kopf unter die Bettdecke gesteckt und immer wieder an sie gedacht. Lange hatte es gedauert, bis ich endlich unter Tränen einschlief.

Als ich noch kleiner war und Marianne noch in unserem Haus schlief, war ich sehr oft nachts in ihren Schlafraum gegangen und hatte mich zu ihr ins Bett gelegt. Dann haben wir uns angekuschelt und sind eingeschlafen. Später dann haben wir nur noch in der Mittagsruhe zusammen geschlafen, weil sie ins andere Haus verlegt wurde, in eine Mädchengruppe.

Alles hätte ich ertragen, um wieder mit ihr zu sein, sie fehlte mir so sehr.

Der nächste Morgen war wie jeder andere Morgen auch – wecken, waschen und das Frühstück.

An diesem Morgen spülte ich mein Haar und meinen Körper von der Seife frei. Das dauerte, und ich war der Letzte, der den Waschraum verließ. Das brachte mir gleich eine kleine Strafarbeit ein.

Nach dem Frühstück dann das tägliche Stubenreinigen.

Alles musste picobello sein. Kein Staub durfte auch nur zu erahnen sein, keine Zahnputzreste am Zahnbecher und die Betten mussten auf Kante gebaut sein. Dafür hatten wir uns Pappe zurechtgeschnitten und sie geschickt ins Bett eingebaut. Sollte irgendetwas nicht den Vorstellungen eines Erziehers genügen, wurde alles von ihm verwüstet und es musste noch einmal gemacht werden.

Hier lernte ich dann meinen neuen Erzieher kennen, Herrn Hahn.

Er war es auch, der dann die Reinigungsarbeiten begutachtete. Schnell lernte ich, zu finden gibt es immer was, wenn man es nur will und jemanden im Visier hat.

Herr Hahn war Anfang dreißig, mit Stirnglatze, demolierter Nase, etwa 1,85 Meter groß und ein ehemaliger Boxer – so seine Angaben.

Zudem war er gewalttätig, unausgeglichen, jähzornig und fühlte sich ständig von uns gestört, ein totaler Vollidiot. Heute würden wir so einen Typen Vollpfosten nennen. Sein ständiger Begleiter war Kasper.

Kasper war ein ca. 35 cm langes, 4 cm breites und ca. 2 cm dickes schwarz-weißes PVC-Schlaggerät. Natürlich ging es auch ohne Kasper, aber es tat ihm, wie er sagte, selbst weh, ohne ihn arbeiten zu müssen. Er wolle ja nicht sich bestrafen.

Während des Stubendurchgangs hatte er sich den Kleinsten geschnappt, den kleinen Rolfi. Den kleinen Rolf noch fest im Griff, schickte er mich zum Erziehungsleiter Herrn Bergmann.

Noch beim Verlassen der Station hörte ich Zahnputzbecher fallen.

Vielleicht war es ganz gut so, dass ich nicht sah, was er mit Rolf anstellte und ob er überhaupt der Grund für die Geräuschkulisse war.

Schnell rannte ich in die zweite Etage und klopfte artig an die Tür, an der „Herr Bergmann“ stand. Nach kurzer Zeit trat ich ein, wurde aber gleich unter einem fürchterlichen Brüllen des Raumes verwiesen.

So schnell hatte ich bisher noch nie in meinem Leben einen Raum verlassen. Denn sein aufgequollenes Gesicht war durch sein Schreien ein schrecklicher Anblick.

Zitternd und irritiert hörte ich anschließend kein „Herein“. Er musste geflüstert haben oder was weiß ich, dass ich seinen Wunsch, mich in seinem Büro zu sehen, überhörte.

Ein mächtiges Krachen entließ mich für einen kurzen Augenblick aus dieser so schrecklichen Situation, um mich gleich wieder in einen neuen Schock zu versetzen.

Ein Schweben umgab meinen Körper, meine Füße spürten keinen Boden mehr, der Kopf wurde ganz heiß und die Luft zum Atmen reduzierte sich auf ein Minimum.

Dann endlich merkte ich, warum, ich wurde von Herrn Bergmann unsanft am Genick gepackt und mit dem geringsten Widerstand ins Büro geschmissen. Als Resultat dieser Beförderung hatte ich eine Platzwunde an der Stirn.

Noch nach meinen Sinnen ringend, hörte ich, wie von weit her, jemand schreien: „Was fällt dir ein, unaufgefordert ins Büro zu kommen … hattest du keine Kinderstube?“

Alles drehte sich noch, und ich versuchte eine Entschuldigung zu finden, es gelang mir aber nicht.

So stand ich nun da, eingeschüchtert, von allen guten Geistern verlassen und diesem Heim schutzlos ausgeliefert.

Vielleicht raffte Herr Bergmann jetzt die Situation, in der ich mich befand, denn er wurde etwas ruhiger.

„So“, fing er an, „ich bin jetzt dein Erziehungsleiter. Mein Name ist Herr Bergmann und zuerst erkläre ich dir die Hausordnung. Es ist besonders wichtig, sich diese Punkte besonders gut einzuprägen. Einhaltung des Tagesplans, bei Nichterfüllung Maßnahmen, zu Ruhezeiten keine Gespräche mehr, bei Zuwiderhandlung Maßnahmen, beim Essen absolute Stille bewahren, bei Nichteinhaltung Maßnahmen.“

Diese Anweisungen gingen noch eine Weile so weiter.

„Wer sich an alle Tagesordnungspunkte hält, hat hier ein gutes Auskommen“, so seine letzten Worte.

Beim Verlassen seines Büros fragte er abermals mit schroffem, überlautem Ton: „Sind noch Fragen?“

Schüchtern antwortete ich: „Nein, Herr Bergmann.“

Ich wollte mir nicht ausmalen, was Maßnahmen sind, beziehungsweise, wie sie zur Anwendung kommen

Zurück in meiner Gruppe stürzten Hunderte Fragen auf mich ein.

„Woher kommst du, hast du Eltern, wie alt bist du?“, und so weiter. Dann begann ich zu erzählen, dass ich seit meinen ersten Lebensmonaten in mehreren Heimen aufwuchs, wo ich bisher gewesen und wie es mir dort ergangen war. Ich erzählte auch, dass ich elternlos bin und meine Eltern nie kennengelernt hatte.

Mit einem Schlag änderten sich die Mienen der meisten Zuhörer.

„Was ist los, warum schaut ihr so? Es macht mir nichts aus, ohne Eltern zu sein, ich kenne es halt nicht anders“, sagte ich.

Jochen Böhm, er wurde mein bester Freund, sagte: „Dann bist du hier verloren. Ich habe auch keine Eltern oder andere Verwandte wie du. Mit uns gehen die Erzieher besonders streng um.“

„Warum?“, fragte ich.

„Jeder, der Eltern und Verwandte hat, bekommt einmal im Monat Besuch und dann könnten die über die Missstände hier erfahren. Manchmal wird auch denen der Besuch nicht gestattet, weil sie blaue Flecken oder andere Verletzungen haben. Den Eltern wird dann erzählt, ihr Sohn habe sich nicht an die Regeln gehalten und deswegen Besuchsverbot erhalten. Sollte es vorkommen, dass einer seinen Eltern auch nur etwas erzählt, bekommen alle Besuchsverbot.“

„Und wir“, sagte Jochen weiter, „kommen erst gar nicht an die Besucher ran.“

Kollektivstrafen standen hier an der Tagesordnung, um dem eventuellen Zusammenhalt untereinander zuzusetzen. Bei der Anwendung von Kollektivstrafen hatte der Verursacher schlechte Karten – hier reichte manchmal schon die Androhung einer solchen Kollektivstrafe aus. Dies waren jene Momente, an die sich der jeweilige Erzieher schadlos halten konnte. Denn die Prügelstrafe erfolgte dann, im Beisein und mit Billigung der Erzieher, durch Heiminsassen. Oft genug wurden solche Strafen auch initiiert, um jemanden gezielt zu bestrafen. Da wurden schon einmal Verstöße erfunden, die dann aber plausibel begründet wurden.

Arztbesuche gab es in dem Sinne nicht. Alles wurde innerhalb der eigenen Mauern versorgt.

Nur bei Lebensgefahr eines Zöglings griff man auf Hilfe von außen zurück und das auch nur äußerst selten. Oft sogar mit zu spät eingeleiteten Maßnahmen.

Mit der Zeit hatte ich mich dann den Gepflogenheiten angepasst und versuchte, mir das Leben in dieser Einrichtung so angenehm wie möglich zu gestalten.

Geschundene Seelen - Schwarze Pädagogik

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