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Annabelle Memmerts Tod

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Annabelle ließ sich auf ihrem Rabeneick-Fahrrad den Hang zwischen den Maisfeldern hinabtreiben, um nach Selldorf zu kommen, sie lebte in Selldorf bei ihren Eltern und war dort geboren. Sie kam aus Schüttbach, einem sechs Kilometer entfernten Ort, in dem ihre gute Tante Lise lebte, die immer ein offenes Ohr für sie hatte, und mit der Annabelle sehr gerne plauderte. Tante Lise war etwas älter als Annabelles Vater, sie war ein herber Typ, strahlte aber Wärme aus, Annabelle hatte bei ihr ein Glas Wasser getrunken und sich mit ihr über ihren Vater unterhalten.

Annabelle war nunmehr auf dem Rückweg, sie trug ein mattgrünes wadenlanges Leinenkleid, ihre starken Haare waren zu Zöpfen verflochten, die im Fahrtwind taumelten. Sie hatte das feste Haar von ihrem Vater, das Haar ihrer Mutter war dunkel und schütter, Annabelle hatte ihre Mutter deswegen einige Male gehänselt, weil sich mit ihrem Haar so gar nichts anfangen ließ. Sie genoss ihr Leben, sie war gerade achtzehn Jahre alt und in der letzten Klasse des Gymnasiums in Feldstadt, der nächsten größeren Stadt in der Umgebung von Selldorf. Sie war ein begehrtes Mädchen bei den Jungen, aber Annabelle hielt sich alle vom Leib, sie wollte noch keine feste Beziehung eingehen und hatte auch noch ihre Jungfräulichkeit. Ihre Freundinnen prahlten zum Teil damit, dass sie ihre Jungfräulichkeit längst verloren hätten, Annabelle machte sich nichts daraus, sie vertraute darauf, dass der Tag für sie schon noch käme, wenn sie den Richtigen fände, mit dem sie schliefe. Außerdem verlieh ihr ihre Ungebundenheit eine nicht näher zu beschreibende Leichtigkeit, eine Beschwingtheit, um die sie viele beneideten. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, ihr Lieblingsfach am Gymnasium war Deutsch, sie verstand es, mit literarischen Texten umzugehen wie kein Zweiter und verblüffte ihren Deutschlehrer regelmäßig mit Textinterpretationen, die ihrer eigenwilligen Auslegung entstammten, die aber in sich stimmig waren und die Textzusammenhänge und die Personenbeschreibungen angemessen beleuchteten.

Annabelle war eine emsige Leserin und bediente sich laufend aus dem reichhaltig bestückten Bücherschrank ihrer Eltern, oder sie ging in die, allerdings spärlich ausgestattete Leihbücherei im Dorf, in der es nur die üblichen Kitschklassiker ab, in der man aber anspruchsvolle Literatur bestellen konnte. Auch das war an ihr untypisch für das Verhalten eines Teenagers, während sich ihre Freundinnen mit ihren Freunden vergnügten und mit ihnen nach Feldstadt in die Disco fuhren, setzte sich Annabelle hin und las. Sie hatte nie dabei das Gefühl, etwas zu versäumen, sondern im Gegenteil immer einen Gewinn an Erfahrung davonzutragen. Als Annabelle in die letzte Linkskurve des Hanges nach Selldorf einschwenkte und sie mit viel Schwung nahm, gab es mit einem Mal einen fürchterlichen Schlag, Annabelle wurde von ihrem Rad gerissen und fiel auf die Straße, ihr Genick war gebrochen, sie war sofort tot. Sie lag in einer verrenkten Haltung auf dem Asphalt, ihr Kopf war widernatürlich nach hinten überdehnt, ihr Leinenkleid war über ihre Knie gerutscht und ihre weiße Unterhose wurde von der Sonne beschienen. Als Frau Schettner in ihrem Auto nach Feldstadt unterwegs war, um dort Einkäufe zu erledigen, fand sie Annabelle in der verrenkten Haltung auf der Straße liegen, sie kannte das Mädchen gut, denn sie war eine Nachbarin von ihr. Sie sah gleich, dass Annabelle tot war und war entsetzt, sie hatte Annabelle immer gemocht, weil sie so natürlich war und so viel Heiterkeit ausgestrahlt hatte.

Frau Schettner beugte sich zu Annabelle hinunter und zog deren Kleid wieder herab, als sie sich wieder aufgerichtet hatte, sah sie den Draht, der in Kopfhöhe eines erwachsenen Radfahrers über die Straße gespannt war, vermutlich wäre sie mit dem Wagen dagegen gefahren, hätte sie nicht wegen des toten Mädchens angehalten. Sie nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte die Nummer der Polizei, es meldete sich die Polizei in Feldstadt und Frau Schettner berichtete von dem schrecklichen Unglücksfall, der sich auf der Landstraße zwischen Schüttbach und Selldorf, kurz vor der Ortseinfahrt nach Selldorf, zugetragen hatte. Anschließend rief sie bei Memmerts an, der Familie von Annabelle und beide Elternteile kamen gleich zum Unglücksort, Frau Memmert warf sich auf ihre tote Tochter und schrie, sie schrie den Namen ihres Kindes, immer wieder, doch ihre Tochter war tot. Herr Memmert weinte ebenfalls, er nahm seine Frau hoch und drückte sie an sich, unfähig, auch nur einen Ton von sich zu geben, während seine Frau mit Schreien fortfuhr, so standen sie neben ihrer Tochter, als die Polizei eintraf, die gleich den Notarztwagen mitgebracht hatte. Frau Schettner stand vor dem gespannten Draht, den Tränen nahe und sagte den Beamten:

„Fahren Sie nicht vor den Draht!“, sie gab sich als die Anruferin zu erkennen. Der Notarzt nahm sich gleich des Mädchens an, konnte aber nur dessen Tod feststellen, er sah die Beamten an und schüttelte mit dem Kopf, um ihnen das Ergebnis seiner Schnelluntersuchung zu verstehen zu geben. Der Notarzt veranlasste, dass Annabelle auf eine Bahre gelegt und in den Notarztwagen geschoben wurde. Frau Memmert, immer noch völlig außer sich, versuchte, ihre Tochter zu umklammern und so den Abtransport ihres Kindes zu verhindern, und nur mit sanfter Gewalt konnten Rettungssanitäter sie zurück in die Arme ihres Mannes führen, wo sie hemmungslos weinte, fast brach sie in sich zusammen. Die Polizeibeamten widmeten sich dem quer über die Straße gespannten Draht und fanden einen ganz einfachen glatten Draht vor, zwei Millimeter dick, wie er in dieser Form an allen Weidezäunen zu finden war. Inzwischen stand eine Reihe von Autos an der Unfallstelle und sie konnte sich erst wieder in Bewegung setzen, wenn die Polizei die Straße wieder freigegeben hätte. Die Beamten fotografierten die besondere Art der Drahtbefestigung an zwei gegenüberliegenden Birkenstämmen, es war eine Befestigungsart, wie sie von Bauern an ihren Weidezäunen praktiziert wurde.

Der Draht war zweimal um die Birke gelegt, mit dem kurzen Ende um den Zulauf gewickelt und mit einer Zange verzwirbelt. Die Polizisten entfernten den Draht wieder aus seiner Baumbefestigung und gaben den Verkehr frei. Sie hatten die KTU nicht gerufen, weil es mit Ausnahme des Drahtes und des Fahrrades, keine Spuren gab, das Fahrrad stand an eine der Birken gelehnt, Annabelles Vater hatte es dorthin gestellt.

Die Beamten sagten Annabelles Eltern:

„Ihre Tochter wird zur Gerichtsmedizin gefahren, Morgen bekommen sie Besuch von der Kriminalpolizei, die ihnen mehr Auskünfte erteilen und einige Fragen stellen wird.“ Frau Schettner war eine gutmütige und mittelalte Frau, ihr Mann war vor vier Jahren an Lungenkrebs gestorben und sie lebte seitdem von einer sehr schmalen Witwenrente, sie war gut gekleidet, weil sie doch ursprünglich in die Stadt fahren wollte. Sie kümmerte sich um Annabelles Eltern, die beide erst Anfang vierzig waren und deren einziges Kind ihre Tochter gewesen war. Sie setzte die beiden in ihren Wagen und fuhr mit ihnen zu sich, sie würde später das Fahrrad ud Memmerts Wagen holen. Alle tappten völlig im Dunkeln, was die Ermordung Annabelles anbelangte, die Polizei würde mit ihren Untersuchungen im Wohnumfeld Annabelles anfangen und danach zu ihrer Schule fahren, um ihre Klassenkameraden und ihre Lehrer zu befragen. Frau Schettner kochte bei sich Kaffee und gab Frau Memmert ein Stück Küchenrolle, damit sie ihre Tränen damit abwischen konnte. Sie forderte die Memmerts auf, auch von ihrem Kaffee zu trinken und die beiden taten sich sehr schwer damit, ihre Fassung wiederzuerlangen und an ihren Tassen zu nippen. Die Nachricht von Annabelles Tod hatte sich in Windeseile im Dorf herumgesprochen, alle sprachen den beiden Memmerts ihr Beileid aus, manche weinten mit Frau Memmert und drückten sie, sie alle hatten Annabelle gemocht, ihre offene und immer nette Art, davon war jeder angetan.

In der Nacht hatten Annabelles Eltern kein Auge zugetan, zu groß war ihre Anspannung, zu sehr waren sie in Gedanken bei ihrer geliebten Tochter. Sie stand kurz vor dem Abitur und hätte mit ihrem Notendurchschnitt sicher einen Studienplatz in Medizin bekommen, aber alles war aus, ihre Tränen lösten sich in nichts auf, es war, als hätte man ihnen wichtige Gliedmaßen amputiert, so kam ihnen der Verlust ihres einzigen Kindes vor. Am Abend war ein Polizeipsychologe zu ihnen gekommen und hatte das schwere Trauma, in dem Annabelles Eltern befangen waren, zu lindern versucht, war aber damit gescheitert, es begann für die Eltern eine lange Zeit der Trauer, und nur die Dorfgemeinschaft konnte ihnen Halt geben. Die Kriminalbeamten brachten am nächsten Tag wieder den Polizeipsychologen mit, der Annabelles Eltern zum Sprechen ermutigen sollte und vielleicht durch seine Erfahrung die Mauer aus Trauer und Verstörung aufbrechen konnte. Die KriPo stellte Fragen nach Annabelles Umfeld, ihren Freunden und Vorlieben, Frau Schettner war bei der Vernehmung zugegen und antwortete für Annabelles Eltern, wenn sie konnte. Sie erzählte:

„Annabelle hat im Dorf nur eine Freundin gehabt und das ist die Tochter eines Grundschullehrers gewesen, die Miriam heißt und am Ende des Dorfes wohnt, ansonsten leben Annabelles Freundinnen in Feldstadt, wo sie auch das Gymnasium besucht hat.“ Frau Schettner war inzwischen gefasst, ihr Gesicht war von der Anstrengung leicht gerötet und sie musste sich setzen, als sie erzählte, denn sie hatte eine beträchtliche Leibesfülle und das Stehen bereitete ihr Schwierigkeiten.

„Kommt Ihnen irgendjemand in den Sinn, der den Draht über die Straße gespannt haben könnte“, fragte die KriPo, aber Annabelles Mutter und Vater hüllten sich in Schweigen. Frau Schettner wies auf den Sohn von Bauer Steffens hin, der unter dem Down-Syndrom litt und schon einmal durch die Gegend schweifte, eigentlich aber ein ganz lieber Kerl wäre. Die KriPo notierte sich dessen Namen und seine Adresse und wollte noch am gleichen Tag zu Bauer Steffens, dessen Hof am Dorfrand lag. Als sie merkten, dass sie bei Annabelles Eltern nicht weiterkamen, brachen sie die Befragung ab, sagten aber:

„Wir kommen Morgen wieder, vielleicht ist ihnen ja bis dahin etwas Verwertbares eingefallen“, sie merkten nicht, dass ihnen nicht der Sinn danach stand, Antworten auf ihre Fragen zu finden, sie waren im Geist bei ihrer Tochter und dachten ununterbrochen an sie. Kurz vor ihrer Abfahrt sahen sich die KriPo-Beamten Annabelles Zimmer an, in der Hoffnung, dass sie dort einen Hinweis auf den möglichen Täter fänden. Sie wühlten ihren Schreibtisch durch und fanden ein Tagebuch, sie fragten Annabelles Eltern:

„Dürfen wir das zur Auswertung mit nach Feldstadt nehmen?“, Frau und Herr Memmert nickten abwesend. Die Polizisten warfen einen kurzen Blick auf die vielen Bücher, die Annabelle in ihren Regalen stehen hatte, sie besahen sich die Fotos an der Zimmerwand, fanden dort aber nur Bilder anderer Mädchen, vermutlich Annabelles Freundinnen, von denen sie sicher in der Schule etwas erfahren würden. Bevor sie zum Hof von Bauer Steffens fuhren, statteten sie dem Haus des Grundschullehrers einen Besuch ab und verlangten, Miriam sprechen zu dürfen. Miriam war zu Hause, und noch ehe die Beamten eine Frage an sie richten konnten, brach sie in Tränen aus, natürlich war die Nachricht von Annabelles Tod auch bis ans Dorfende vorgedrungen. Nachdem sich Miriam wieder gefangen hatte, stellten ihr die Beamten die üblichen Fragen und erfuhren immerhin, dass Miriam und Annabelle regelmäßig nach Feldstadt zum Schwimmen gefahren wären, dass sie gelegentlich Radtouren unternommen hätten, zum Beispiel nach Schüttbach zu Annabelles Tante oder auch schon einmal durch den benachbarten Wald. Annabelle wäre ihre allerbeste Freundin gewesen, sie kannte sie schon seit ihrer gemeinsamen Grundschulzeit.

„Ich bin wegen ihres Todes völlig fertig“, sagte Miriam.

„Wer kommt denn in Deinen Augen als Täter in Frage?“, fragten die Polizisten Miriam, aber sie zuckte nur ihren zierlichen Schultern, Miriam war ein hübsches Mädchen, schlank, mit langen schwarzen Haaren. Und bevor sie ihr weitere Fragen stellen konnten, brach sie in ein Schluchzen aus und die KriPo verabschiedete sich von ihr. Die Polizisten dankten Miriam für ihre Auskünfte und sagten ihr, dass sie ihnen damit sehr geholfen hätte, aber Miriam war in sich versunken und weinte. Sie fuhren quer durch Selldorf und verließen den Ortskern nach Norden hin, wo sie über einen Feldweg auf den Hof von Bauer Steffens gelangten. Sie kamen an Weiden mit Fleckvieh vorbei, das ihm gehörte, die Kühe hatten prall gefüllte Euter und mussten bald gemolken werden. Sie erreichten auf dem Hof ein verwohntes Haus, dessen äußere Erscheinung auf ärmliche Verhältnisse schließen ließ. Vor dem Haus trafen sie Bauer Steffens an und sahen, dass er mit der Reparatur eines Traktors beschäftigt war, er hob nur kurz seinen Kopf an und nickte den Beamten zur Begrüßung zu:

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er sie unwirsch. Er war ein großer nicht zu dicker Mann und wirkte ungepflegt, er trug zerschlissene Kleidung, so als achtete niemand darauf, wie er gekleidet war, seine Hose hatte an den Knien Löcher und sein Hemd war völlig verschossen, auf seinem unrasierten Schädel trug er eine alte grüne Kappe. Die Polizisten sagten:

„Wir sind wegen Ihres Sohnes gekommen und müssen ihm ein paar Fragen stellen, wir wissen nicht, ob Sie schon von dem Tod von Annabelle Memmert gehört haben?“

„Doch, ich habe davon gehört und bin sehr bestürzt darüber, aber was hat Benjamin damit zu tun, ist er wegen der alten Sache sein ganzes Leben lang verdächtig?“ Bei der alten Sache handelte es sich um die Ermordung von Svenja Kunze aus Selldorf vor einem Jahr, sie war eine sechzehn Jahre Schülerin und wollte mit dem Bus zur Schule fahren, sie stand allein an der Bushaltestelle am Dorfausgang und wartete auf den Bus nach Feldstadt. Benjamin hatte sie ergriffen, sie ins Maisfeld neben der Haltestelle geschleppt und ihr dabei den Mund zugehalten, er hatte ihr gleich die Kehle durchgeschnitten und sich mehrfach an ihr vergangen. Die Tat war so grausam, dass sie die Untersuchungsbeamten fast das Fürchten lehrte, Benjamin hatte Svenja mit seinem Messer die Scheide aufgeschnitten, warum, wusste niemand, er hatte ein fürchterliches Blutbad angerichtet. Svenja wurde vom Hund eines Dorfbewohners gefunden, der später an der Haltestelle wartete und es wurde relativ schnell deutlich, dass Benjamin der Täter gewesen war. Es war einfach der unglaubliche Blutrausch, den man sonst niemandem zutraute, man fand auch recht zügig das Messer, mit dem Benjamin den Mord begangen hatte und er war auch geständig. Benjamin sollte ursprünglich in einer geschlossenen Anstalt untergebracht werden, das hatte der Richter angeordnet, Gutachter bescheinigten Benjamin aber einen an sich friedfertigen Charakter, für seinen an Svenja begangenen Blutmord wäre sein nicht ausgelebter Sexualtrieb verantwortlich.

Man plädierte deshalb dafür, Benjamin einer Operation zu unterziehen, bei der im eben dieser Trieb genommen werden würde und ihn ansonsten zu Hause in Freiheit zu belassen. Man war in Selldorf zunächst entsetzt darüber, dass man den Mörder der von allen gemochten Svenja frei herumlaufen ließ, hatte aber nach Benjamins Operation ein Einsehen, man sah natürlich dessen Behinderung und fand schließlich, dass er damit gestraft genug wäre. In diesem Moment erschien Bauer Steffens Sohn mit dem viehischen und unterwürfigen, gleichwohl aber einnehmenden Lächeln aller Mongoloiden im Gesicht, das ihn sympathisch machte. Benjamin gab den Beamten die Hand und begrüßte sie, er fragte:

„Wollen Sie mir nicht in den Stall folgen und sich den Ferkelwurf der Sau ansehen?“, aber die Polizisten lehnten dankend ab und begannen mit der Befragung von Benjamin. Für einen ganz kurzen Augenblick schien sein Lächeln zu verschwinden als Kriminalhauptkommissar Kortner und sein Kollege, Kriminaloberkommissar Schneider, ihn zum Tode von Annabelle Memmert zur Rede zu stellen begannen. Benjamin fing sich aber gleich wieder und setzte sein Lächeln auf, als sie von ihm wissen wollten, wo er am Nachmittag des Vortages gewesen wäre.

„Wo soll Benjamin schon gewesen sein?“, fragte sein Vater dazwischen, „er ist natürlich zu Hause gewesen, was soll denn diese Fragerei überhaupt?“

Benjamin machte einen leicht vernachlässigten Eindruck, er trug abgewetzte Kleidung und kaputte Schuhe, an beiden schaute an der Seite der kleine Zeh heraus, was ihm aber nichts auszumachen schien, er war zufrieden, und man konnte glauben, dass er trotz seiner Behinderung glücklich war. Die Polizisten klärten Bauer Steffens über die Ermordung von Annabelle Memmert auf, aber Bauer Steffens sagte:

„Ich bin längst informiert, die Nachricht hat sich am Vortag im Nu herumgesprochen. Ich kann nur nicht verstehen, dass Sie Benjamin im Verdacht haben, er ist doch zu so einem Mord, zu dessen Durchführung einiges an taktischem Geschick gehört, gar nicht fähig.“ Der Mörder hätte doch den Draht unmittelbar vor Annabelles Eintreffen an der Stelle ihrer Ermordung spannen müssen, das hätte Benjamin nie zu Wege gebracht, er bezweifelte sogar, dass Benjamin überhaupt einen Draht hätte spannen können. Sein Gesicht verzog sich zu fragendem Schauen und er fragte KHK Kortner und KOK Schneider, als erwartete er eine spontane Antwort, die Beamten entgegneten aber nur, dass sie jeder Spur nachzugehen hätten und schließlich wäre Benjamin ja ein Mörder. Als er das hörte, wurde Bauer Steffens zornig und er war drauf und dran, die Polizisten von seinem Hof zu werfen, er beherrschte sich aber und schwieg. Benjamin lächelte, aber der Grad seiner geistigen Behinderung war so stark, dass er nicht verstehen konnte, worüber die Männer sprachen.

KHK Kortner war ein umgänglicher Mensch, was ihm jeder aus seiner Umgebung bestätigte, er kam jedenfalls mit fast allen gut aus, mit denen er zu tun hatte. Von Anbeginn an war er gerne Polizist, er war auch gerne zur Polizeischule gegangen und hatte mit seinen jungen Kollegen gelernt. Beinahe wäre ihm der Dienst bei der Polizei verwehrt geblieben, als er das Sportabzeichen nicht zu bekommen drohte, denn zum Sportabzeichen gehörte es, dass man fünfzehn Meter weit tauchte und das konnte er anfangs nicht. Er konnte schon sehr früh schwimmen, aber das Tauchen ist ihm nie beigebracht worden und er ging so lange ins Schwimmbad und übte das Tauchen, bis er die fünfzehn Meter schaffte. Das war die Zeit, als er seine Frau kennen gelernt hatte, sie heirateten sehr bald und zogen in ihr Haus in Feldstadt, noch bevor die Kinder kamen. Sie hatten zu Beginn an der Hypothek ganz schön zu stemmen und mussten sich etwas einschränken, mit den beiden Einkommen aus dem Polizeidienst und der Grundschullehrerinnentätigkeit seiner Frau ging das aber. Als die beiden Söhne auf die Welt gekommen waren, wurden die Karten neu gemischt und alles lief seinen vorherbestimmten Gang. Mit den Jahren veränderte sich KHK Kortner sehr, er verlor seine Haare bis er nur noch ein Kränzchen hatte und legte mächtig an Gewicht zu, von dem ehemaligen sportlichen Typen war am Ende nicht viel übrig geblieben, er behielt aber seine ruhige Art und seine Umgänglichkeit. Politisch war er immer ein sehr interessierter Mensch, hatte sich aber nie irgendwo engagiert. Sein Dienst war manchmal hart, aber das nahm er gern in Kauf, dafür wurde ihm Abwechslungsreichtum geboten und es wurde ihm nie langweilig.

KOK Schneider war einige Jahre jünger als sein Kollege, er stammte aus Süddeutschland und hatte sich nach Nordrhein-Westfalen versetzen lassen, er arbeitete seit zehn Jahren mit KHK Kortner in der Mordabteilung zusammen. Auch er war sehr gern Polizist und hatte die Polizeischule mit Bravour geschafft, ihm hatte aber irgendwann die süddeutsche Mentalität nicht mehr zugesagt, und so kam er nach Feldstadt, wo er seine spätere Frau kennen lernte und kurze Zeit später heiratete. Sie hatten zusammen eine Tochter, Eva-Lisa, die manchmal anstrengend sein konnte, aber sie mochten sie über alles. Sie hatten sich schnell in Feldstadt ein Reihenhaus gekauft, dessen Finanzierung keine Probleme bereitete, weil Frau Schneider von zu Hause aus Geld mit in die Ehe gebracht hatte. Im laufe der Jahre hatte auch KOK Schneider sein Äußeres verändert und war, genau wie KHK Kortner, dicker geworden und hatte Haare verloren, er scherte sich aber nicht darum und fühlte sich in seiner Haut sehr wohl. Politisch waren seine Frau und er sehr interessiert und Eva-Lisa drängte sie beide immer, sich zu engagieren und für die Armen Partei zu ergreifen. Aber ein solches Engagement ging beiden zu weit, was ihnen schon einmal üble Beschimpfungen durch ihre Tochter einbrachte.

In diesem Moment kam aus dem schäbigen Wohnhaus eine Frau in einem Kittel, von der man nicht sagen konnte, ob sie die Gattin oder die Mutter von Bauer Steffens war, so alt und verlebt sah sie aus. Ihr Kittel war, so wie er aussah, wohl seit Tagen nicht gewaschen worden, sie trug eine braune Helanca-Hose darunter, dazu hatte sie vollkommen ausgetretene Hausschuhe an den Füßen. Sie begrüßte die beiden Polizisten mit einer sehr oberflächlichen Geste und ließ sie spüren, dass sie nicht willkommen waren, was den beiden nicht entging, sie machten sich aber nichts daraus, sie waren solche unfreundlichen Begegnungen aus der langen Zeit ihrer Befragungspraxis gewohnt. Sie sagten Frau Steffens, warum sie da wären, und dass sie Benjamin ein paar Frage gestellt hätten, woraufhin sie völlig die Fassung verlor und wieder im Haus verschwand. „Hört man denn nie auf, an meinem Jungen herumzumachen?“, rief sie im Hineingehen aus. KHK Kortner und KOK Schneider beendeten ihre Befragung, sie hatten gemerkt, dass Benjamin als Täter nicht in Frage kam, der arme Junge wäre gar nicht in der Lage gewesen, einen solchen Mord auszuführen. Sie zeigten am Schluss Bauer Steffens noch ein Stück von dem Draht, den sie mitgebracht hatten, der von dem Draht stammte, der über die Straße gespannt worden war, und sie fragten ihn nach seiner Meinung dazu. Der sah sich den Draht an und meinte nur lapidar, dass es sich dabei um Draht handele, wie er überall zum Einfassen von Weiden benutzt würde, er selbst hätte davon eine Rolle in der Scheune hängen und er ging mit den Beamten dorthin, um ihnen die Rolle zu zeigen.

Neben dem Scheuneneingang rechts hing an der Wand die Drahtrolle neben Sicheln und Sensen, es war der gleiche Draht wie der, den die Beamten in ihren Händen hielten. An der Rolle war nichts Auffälliges, es gab keine frische Schnittstelle, wie sich KHK Kortner überzeugte, der Draht war an seinem Ende verrostet. Daraufhin verabschiedeten sich die beiden von Benjamin und Bauer Steffens und gaben ihnen die Hand, Benjamin lächelte unentwegt, man hätte meinen können, dass er unendlich glücklich wäre, wenn er nur nicht seine Behinderung gehabt hätte. Bauer Steffens grummelte zum Abschied ein paar unverständliche Worte in sich hinein, bevor er sich wieder an seinen Traktor machte, er nahm einen großen Schraubenschlüssel zur Hand und beugte sich über den Motorraum. KHK Kortner und KOK Schneider gingen zu ihrem Wagen und fuhren vom Hof, sie kamen an dem drallen Fleckvieh vorbei, die Kühe schauten hoch und zerkauten das Gras. Die beiden Polizisten besprachen ihr denkwürdiges Zusammentreffen mit Familie Steffens, sie waren von Benjamin ganz angetan und wunderten sich über dessen Ausgeglichenheit, die beiden grantigen Alten fanden sie sehr unfreundlich, meinten aber, dass sie mit ihrem Sohn geschlagen wären.

Sie beschlossen, nach Feldstadt zum Schwimmbad zu fahren und dort den Schwimmmeister nach Miriam und Annabelle zu fragen, vielleicht bekämen sie einen Anhaltspunkt für ihre weiteren Untersuchungen. Als sie die Stadtgrenze nach Feldstadt überfuhren, setzte Regen ein und sie sahen die Menschen über die Bürgersteige huschen und Unterstellmöglichkeiten suchen, es hatte lange nicht geregnet, und niemand hatte wohl damit gerechnet, denn Schirme sah man kaum. Das Schwimmbad lag in unmittelbarer Nähe zum Polizeipräsidium und KHK Kortner und KOK Schneider beschlossen, anschließend dort vorbeizuschauen und zu besprechen, wie weit sie im Mordfall Annabelle waren. Sie parkten vor dem Haupteingang des Schwimmbades, der ein Backsteinportal war, das Schwimmbad war schon alt. Der Kassenbereich war vollkommen umgestaltet und auch die Fliesen im Eingangsbereich waren erneuert worden, der Weg zu den Umkleidekabinen war aber der Alte geblieben, und die beiden Polizisten gingen, nachdem sie an der Kasse ihren Dienstausweis gezeigt hatten, zur Schwimmhalle. Dort musste KHK Kortner feststellen, dass es einige bauliche Veränderungen gegeben hatte, dort gab es riesige Fenster, die das Licht hereinließen, wo früher nur kleine Luken in der Wand saßen, es gab einen Dreimeter-Turm und der Beckenrand lag auf der Höhe der Wasseroberfläche. Die Kabine des Schwimmmeisters war aber an der alten Stelle geblieben und die beiden Polizisten gingen hinüber, sie hatten vorher in der Umkleide ihre Schuhe ausgezogen, erregten aber in ihrer Bekleidung die Beachtung durch die Badegäste und auch der Schwimmmeister schaute verdutzt, als sie auf seine Kabine zugelaufen kamen.

Er war ein Schwimmmeister von altem Schrot und Korn, dickbäuchig, in weißem Unterhemd und weißer kurzer Hose, um den Hals hing eine Trillerpfeife. Die beiden Beamten stellten sich vor und gaben ihm die Hand.

„In welcher Angelegenheit wollen Sie mich denn sprechen?“, fragte der Schwimmmeister und die Polizisten kamen gleich zur Sache. Dem Schwimmmeister verschlug es fast die Sprache, als er von dem Mord an Annabelle hörte, er kannte Miriam und Annabelle und konnte seine Bestürzung kaum zügeln.

„Die beiden Mädchen sind mindestens zweimal pro Woche erschienen und haben mit ihren tadellosen Figuren in ihren Badeanzügen immer für Aufsehen unter den Jungen gesorgt. Wenn sie auf das Sprungbrett gestiegen sind, hat den Jungen der Atem gestockt, so aufreizend haben die beiden Mädchen ausgesehen, und anschließend haben sie einen gestreckten Kopfsprung ins Wasser gemacht.“ KHK Kortner und KOK Schneider fragten den Schwimmmeister:

„Ist Ihnen in der letzten Zeit etwas aufgefallen, hat sich unter den Anbetern vielleicht einer besonders hervorgetan?“ Aber da musste der Schwimmmeister passen, so etwas war ihm nicht aufgefallen und wenn, könnte er sich mit Sicherheit daran erinnern. Einige Badegäste schauten, während sie schwammen, zu der Kabine des Schwimmmeisters hoch und wunderten sich über die drei Männer, die da standen und miteinander redeten. Die Polizisten fragten:

„Hat es denn unter den männlichen Badegästen welche gegeben, die immer da gewesen sind, wenn Miriam und Annabelle geschwommen haben?“ Aber dazu konnte der Schwimmmeister nichts sagen, „es gibt immer so viele Badegäste, da kann ich mir nicht jeden merken, außer sie wären mir ins Auge gestochen, so wie die beiden Mädchen aus Selldorf, aber die sind auch schon seit Jahren gekommen, ich habe mich manchmal sogar mit ihnen unterhalten und weiß deshalb, dass sie beide das Feldstädter Gymnasium besuchten.“ KHK Kortner und KOK Schneider bedankten sich bei dem Schwimmmeister und wollten gerade wieder gehen, als sie von einem Wasserschwall nassgespritzt wurden, sie sahen zum Becken und bekamen gerade noch mit, wie zwei Jugendliche abtauchten. Hätten sie nicht in voller Kleidung am Beckenrand gestanden, wären sie ins Wasser gesprungen und hätten sich die Jugendlichen vorgeknöpft, so waren ihnen aber die Hände gebunden, und sie konnten nur beobachten, wie die Jugendlichen an der anderen Beckenseite auftauchten und sich ins Fäustchen lachten. Die beiden Polizisten machten eine drohende Handbewegung, mussten aber schließlich selbst lachen, sie waren an ihren Hosenbeinen etwas nass geworden, aber das würde ja im Nu wieder trocknen.

Sie verabschiedeten sich von dem Schwimmmeister und liefen vor dem Hallenbad zu ihrem Wagen, KHK Kortner wollte zum Präsidium laufen, er musste nur die Straße überqueren und danach zweihundert Meter mach links laufen, KOK Schneider sollte den Wagen zum Präsidium bringen. Die beiden trafen sich am Eingang ihres Dienstgebäudes und liefen zu ihren Dienstzimmern, setzten sich hinter ihre Schreibtische, gossen sich einen Kaffee ein und verschränkte ihre Arme hinter ihren Köpfen.

Sie schwiegen beide und nippten an ihrem Kaffee, sie dachten nach, bis KHK Kortner sagte, dass sie so nicht weiterkämen, sie müssten ihre Untersuchung am nächsten Tag im Gymnasium fortsetzen, sie müssten auch Miriam noch einmal befragen, sie sollte ihnen etwas zu den Bekanntschaften von Annabelle sagen und auch von Freundschaften mit Jungen berichten. In diesem Augenblick betrat ihr Chef das Dienstzimmer, er war ein knochentrockener Mann und man musste ihn zu nehmen wissen, er fiel immer gleich mit der Tür ins Haus und wollte sofort wissen:

„Wie ist denn der Stand der Ermittlungen im Mordfall Annabelle im Moment, die Leute von der Presse sitzen mir im Nacken und ich könnte sie kaum noch länger vertrösten?“ KHK Kortner entgegnete:

„KOK Schneider und ich tun alles in unserer Macht Stehende, um den Fall zu einer Lösung zu bringen, wir sind aber doch noch ganz am Anfang, niemand kann ernsthaft erwarten, dass wir nach einem Tag der Recherche schon mit Ergebnissen aufwarten können!“

„Was ist denn mit diesem Benjamin, der im letzten Jahr des Mordes überführt worden ist?“, fragte der Polizeichef seine beiden Beamten. Sie antworteten:

„Wir sind bei Bauer Steffens gewesen wären und haben sowohl ihn als auch Benjamin befragt, der Junge scheidet aber aus dem Kreis der Verdächtigen aus, weil er nicht über genügend Raffinesse verfügt, einen solchen wohlgeplanten Mord zu begehen.“

„Wir gehen Morgen ins Gymnasium und erhoffen uns von der Befragung der Klassenkameraden mehr Aufschluss, auch wollen wir die Freundin von Annabelle, Miriam, noch einmal befragen, wir glauben, dass sie uns noch den einen oder Hinweis geben kann.“ Für diesen Tag machten die beiden Feierabend, sie konnten nach Hause laufen, sie wohnten benachbart zueinander, manchmal fuhren sie auch mit ihren Fahrrädern und mussten sich den Spott ihrer Kinder anhören, wenn sie sich als relativ dickleibige alte Männer sportlich zeigten. Das taten sie aber nur, wenn das Wetter es zuließ, bei schlechterem Wetter fuhren sie die beiden Haltestellen mit dem Bus und stiegen am Schwimmbad aus, früher hatten sie sich danach eine Zigarette angesteckt und sie bis zum Präsidium aufgeraucht, seit sie sich aber vor acht Jahren beide das Rauchen abgewöhnt hatten, entfiel die Zigarette nach der Busfahrt und sie liefen die zweihundert Meter zu ihrem Dienstgebäude in schnellen Schritten.

Herr Kortner war zu diesem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, er lebte mit seiner Frau und seinen zwei fast erwachsenen Kindern, die beide die Oberstufe des Gymnasiums besuchten, in einer Reihenhaussiedlung in Feldstadt. Frau Kortner war Hausfrau, sie war fünfzig und hatte früher einmal als Grundschullehrerin gearbeitet, die beiden hatten zwei Söhne, die beide nach dem Abitur ein Studium aufnehmen wollten, zur Bundeswehr mussten sie ja nicht, weil der Grundwehrdienst abgeschafft worden war, sie brauchten deshalb auch nicht zu verweigern und Zivildienst zu verrichten. Der Ältere, Peter, wollte Maschinenbau, der Jüngere, Marc, wollte Biologie studieren, beide hatten sie natürlich Annabelle gekannt, Peter war sogar einmal ganz kurz mit ihr zusammen. Herr Kortner hatte die typischen Attitüden eines zweiundfünfzigjährigen Seniors, das hieß, dass man seinen Bauch nicht übersehen konnte, dass er ein Kränzchen auf dem Kopf trug und den ganzen Tag in der gleichen Hose herumliefe, wenn ihn seine Frau nicht ab und zu aufforderte, sich umzuziehen.

Herr Schneider lebte mit seiner Frau und seiner Tochter in einer Parallelstraße, er war neunundvierzig Jahre alt und hatte die gleichen Marotten wie Herr Kortner, nur sein Haar war voller. Seine Tochter Eva-Lisa besuchte ebenfalls das Gymnasium, war aber erst in der zehnten Klasse. Die Familien trafen sich regelmäßig zu einem Glas Bier oder Wein und sie gingen auch schon einmal zum Chinesen in die Stadt, Frau Kortner und Frau Schneider gingen einmal pro Woche abends gemeinsam turnen, sie waren beide schlank und konnten sich mit ihren Figuren noch überall sehen lassen. Als KHK Kortner und KOK Schneider ihren Wagen auf dem Lehrerparkplatz des Gymnasiums geparkt hatten, bekamen sie als Erstes Ärger mit einem Kollegen der Schule, weil sie ihm seinen angestammten Parkplatz genommen hatten, ohne groß herum zu lamentieren setzte KHK Kortner seinen Wagen woanders hin und entschuldigte sich sogar bei dem Lehrer.Der fragte die beiden:

„Kann ich Ihnen helfen?“ und als KHK Kortner sagte, wer sie wären und dass sie wegen Annabelle Memmert zum Gymnasium gekommen wären, wurde der Lehrer ganz redselig:

„Ich habe Annabelle gut gekannt und bin ihr Französischlehrer gewesen, die Nachricht von ihrem Tod hat mich fast umgehauen.“ Annabelle wäre eine im gesamten Kollegium beliebte Schülerin gewesen und auch von ihre Mitschülern wurde sie sehr gemocht.

„Sie hat zu den seltenen Schülern gehört, die in allen Fächern hervorragend gestanden haben, meistens liegt ja eine Begabung in einer bestimmten Fachrichtung vor, Annabelle ist ein Multitalent gewesen.“ Er zeigte den beiden Beamten den Weg ins Schulgebäude, wo sie sich durch Heerscharen von Schülern kämpfen mussten, KHK Kortner und KOK Schneider sahen ihre Kinder, schenkten ihnen aber keine weitere Beachtung, was auch nicht gewünscht gewesen wäre und auch Miriam stand mit einigen Freundinnen im Foyer.

Die beiden nahmen gleich den für alle öffentlichen Gebäude typischen Geruch nach Bohnerwachs wahr, wie sie ihn aus dem Präsidium kannten. KHK Kortner entschuldigte sich bei Miriam, dass er ihre Unterhaltung stören müsste, aber er hätte noch ein paar Fragen an sie:

„Wann können wir uns noch einmal zusammensetzen?“ und Miriam schlug die erste große Pause vor, sie wollte dort im Foyer auf ihn warten. Inzwischen gongte es das erste Mal, für die Schüler das Zeichen, die Klassen- bzw. Kursräume aufzusuchen, alle waren sie guter Dinge, man sah bei niemandem eine saure Miene oder eine missmutige Stimmung, alle lachten und waren fröhlich.Das wäre wohl das Vorrecht der Jugend, immer fröhlich zu sein und die Welt mit guter Laune zu nehmen, leider würde sich das irgendwann legen, wenn die Lebenserfahrungen dazugekommen wären und sie die Welt mit realistischeren Augen betrachten würden, aber niemand sollte ihnen ihren Frohsinn nehmen wollen. Der Kollege vom Parkplatz hatte auf sie gewartet und geleitete sie zum Zimmer des Schulleiters, das direkt neben dem Lehrerzimmer lag und dessen Tür halb offenstand. Die beiden Beamten klopften an die Tür und öffneten sie ganz, ohne auf ein Herein gewartet zu haben, sie trafen den Schulleiter an seinem Schreibtisch, und er kam ihnen zur Tür entgegen.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er und KHK Kortner stellte seinen Kollegen und sich vor, er sagte:

„Wir haben ein paar Fragen zu Annabelle Memmert.“ Der Schulleiter, ein Herr Töpfer, bot ihnen einen Platz an, er war ein mittelgroßer Herr mit einer Stirnglatze, er wird im Alter von Herrn Kortner und Herrn Schneider gewesen sein. Er trug einen unauffälligen grauen Straßenanzug und dazu braune blankgewienerte Lederschuhe, das Hemd trug er ohne Krawatte, was man sich heutzutage auf einem Gymnasium erlauben konnte.

„Die Nachricht von Tode Anabelle Memmerts ist in der Schule eingeschlagen wir eine Bombe“, sagte Oberstudiendirektor Töpfer.

„Sie können sich nicht vorstellen, wie nahe mir sie auch persönlich gegangen ist, Annabelle ist die Vorzeigeschülerin des gesamten Gymnasiums gewesen, ihr Verlust ist kaum zu verkraften, sie ist von ihrem Naturell her offen und immer heiter gewesen, es ist eine Freude gewesen, mit ihr umzugehen. Ich selbst habe sie in Geschichte unterrichtet, ein Fach, das traditionell nicht zu den Lieblingsfächern der Schüler zählt, aber Annabelle hat sich immer eingebracht und phasenweise den Unterricht allein getragen. Haben Sie denn schon eine Spur?“, fragte OStD Töpfer die beiden Polizisten, aber sie mussten seine Frage verneinen, „wir sind ja auch erst seit eineinhalb Tagen mit dem Fall befasst.“ KHK Kortner sagte:

„Wir würden gerne mit Freundinnen oder Freunden von Annabelle sprechen, wie können wir das am besten anstellen?“, Miriam aus Selldorf träfen sie in der ersten großen Pause. OStD Töpfer meinte:

„Wir werden die entsprechenden Schüler aus dem Unterricht nehmen und zu Ihnen in ein Zimmer beordern, das ich Ihnen noch zeigen werde. Am besten ist es, wenn sie sich mit Oberstudienrätin Lorenzen unterhalten, die ist die SV-Lehrerin an der Schule und kann Ihnen die Namen solcher Schülerinnen nennen, die zu dem engeren Kreis um Annabelle gehört haben“ und er ließ gleich nachfragen, ob OSR´ Lorenzen irgendwo abkömmlich wäre. Sie unterrichtete gerade einen Grundkurs Englisch in der Jahrgangsstufe 12 und konnte deshalb geholt werden, er schickte die Schulsekretärin zu Frau Lorenzen. Frau Lorenzen bat ihren Kurs, eigenständig in der Lektüre fortzufahren, die sie gerade besprachen, die Schüler wäre ja wohl alt genug, dass sie sich darauf verlassen könnte, dass sie keine Unsinn anstellten. OStD Töpfer hatte den beiden Polizisten den Raum neben der Lehrerbibliothek zur Verfügung gestellt und Frau Lorenzen erschien dort zehn Minuten später, sie war eine gutaussehende Mittdreißigerin und man konnte sich schon vorstellen, dass die Schüler sie mochten und deshalb zu ihrer SV-Lehrerin gewählt hatten.

Sie setzte sich zu KHK Kortner und KOK Schneider, die sich vorstellten und Frau Lorenzen zu verstehen gaben, wie leid ihnen der Tod von Annabelle Memmert täte.

„Wir sind gekommen, um Sie nach ein paar Schülern und den Mädchen zu fragen, die zum näheren Bekanntenkreis von Annabelle gehört haben.“ OSR´ Lorenzen blickte trotz ihrer ernsten Miene freundlich und offen, sie war sichtlich vom Tode Annabelles berührt und sagte, dass sie helfen wollte, wo sie nur könnte und holte einen Zettel hervor, auf den sie zwölf Namen von Schülerinnen schrieb, die sie zum Freundeskreis von Annabelle rechnete.

„Alle gehören sie natürlich der Oberstufe an, wie Annabelle ja auch und es ist deshalb ein Leichtes, sie aus dem Unterricht holen und zu Ihnen bringen zu lassen.“ OSR´ Lorenzen ließ die Schulsekretärin überprüfen, in welchem Unterricht die Schülerinnen gerade saßen und bat sie darum, die einzelnen Schülerinnen über Lautsprecherdurchsage nach unten zu bitten. KHK Kortner fragte Frau Lorenzen:

„Können Sie einen Verdacht aussprechen?“, aber die Lehrerin hütete sich davor, jemanden zu verdächtigen und bat die Polizisten darum, das zu verstehen. Bis zum Beginn der ersten großen Pause waren vier Schülerinnen bei ihnen erschienen und die Beamten stellten immer die gleichen Fragen:

„Wie würdest Du Dein Verhältnis zu Annabelle beschreiben, weißt Du etwas von Freunden, die Annabelle gehabt hat und was hast Du mit ihr gemeinsam unternommen?“

OStD Töpfer hatte dafür gesorgt, dass den Polizisten Kaffee gebracht wurde, was die beiden als ein großes Entgegenkommen empfanden, sie bedankten sich bei dem Schulleiter für dessen Fürsorge. Die Mädchen, die sie befragten, waren tief bestürzt, sie berichteten, dass Annabelle die beste Freundin gewesen wäre, die sie jemals gehabt hätten, einige der Mädchen brachen in Tränen aus. In der großen Pause ging KHK Kortner in das Foyer, wo er mit Miriam verabredet war und bat sie, mit ihm in den Nebenraum der Lehrerbibliothek zu gehen, Miriam war inzwischen gefasst und in der Lage, die Fragen der Polizisten selbstbewusst zu beantworten. KHK Kortner und KOK Schneider sagten ihr, dass sie auch schon im Hallenbad gewesen wären und mit dem Schwimmmeister gesprochen hätten und Miriam meinte:

„Ich werde das Schwimmen wohl aufgeben.“ Mit der Ankündigung, noch einmal in Selldorf bei ihr zu erscheinen, entließen die Beamten Miriam wieder in den Unterricht. Während bis zum Beginn der dritten Stunde noch etwas Zeit verging, durchstöberten die beiden Polizisten die Lehrerbibliothek und da besonders den Bestand an Uraltbüchern, es gab welche aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, es hatte sich offensichtlich in der Geschichte des Gymnasiums, die mittlerweile über hundert Jahre zurückreichte, noch niemand um die Bibliothek gekümmert und dort einmal gemistet.

KHK Kortner zog ein besonders altes Exemplar aus dem Regal und pustete den Staub ab, der auf ihm lag, er empfand ein wenig Ehrfurcht vor dem alten Buch, er schaute auf das Impressum, um das Erscheinungsjahr ausfindig zu machen und hatte ein Werk aus dem Ersten Weltkrieg vor sich, in dem man sich über den Kriegsgegner Frankreich ausließ. In der Zeit bis zur zweiten großen Pause hatten die Beamten fünf Mitschülerinnen von Annabelle bei sich, wieder hatten sie die immer gleichen Fragen gestellt, sie bekamen aber nie eine Antwort, die sie weitergebracht hätte. Zu Beginn der fünften Stunde liefen sie ein wenig durch das Schulgebäude und über das Schulgelände, sie sogen ein wenig von der bildungsschwangeren Atmosphäre ein, die überall zu spüren war. Sie ertappten draußen auf dem Schulgelände in Richtung Sportplatz zwei Schüler, die sich in ein Gebüsch zum Rauchen verkrümelt hatten. Als sie sie zur Rede stellten, fragten die Schüler sie:

„Wer sind Sie denn?“ und als KHK Kortner antwortete, dass sie Kriminalbeamte wären, wurden die Schüler sehr kleinlaut, machten ihre Zigaretten aus und rannten in den Unterricht. Das Schulgebäude machte von außen einen altehrwürdigen Eindruck, es war in rötlich schimmerndem Backstein gehalten und man sah ihm seine hundert Jahre an. Die beiden Polizisten gingen hinein und setzten sich wieder in den Bibliotheks-Nebenraum, bevor sie die letzten vier Schülerinnen ausrufen ließen.

Yvonne Leichert, die vorletzte Schülerin, brachte einen interessanten Hinweis, sie erzählte, dass sie beobachtet hätte wie der Sportlehrer, Herr Kempfert, versucht hätte, Annabelle zu küssen und sie sich verschüchtert darauf eingelassen hätte, was daraus geworden wäre, könnte sie aber nicht sagen, weil sie das Techtelmechtel nicht weiter verfolgt hätte. KHK Kortner notierte sich den Namen des Sportlehrers und würde ihn später zur Rede stellen, er wollte damit aber kein Aufsehen erregen, um den Kollegen nicht zu brüskieren. Die Beamten ließen sich nach der sechsten Stunde Herrn Kempfert von der Schulsekretärin zeigen und sprachen ihn an, sie sagten, dass sie Polizisten wären und im Mordfall Annabelle ermittelten, ohne den Namen der Schülerin zu nennen, die von dessen Annäherungsversuch an Annabelle erzählt hatte, sagten sie, dass sie wüssten, dass zwischen ihm und Annabelle etwas gelaufen wäre, wie er dazu stünde. Sie befanden sich in einer ruhigen Ecke des Flures vor dem Lehrerzimmer, Herr Kempfert war Anfang dreißig und drahtig, er fuhr entrüstet auf, als die Beamten ihn mit dem Vorwurf konfrontiert hatten und wies zunächst alle Anschuldigungen von sich. Als die Polizisten aber insistierten, gab er zu, dass er einmal versucht hätte, Annabelle zu küssen, dabei wäre es aber geblieben, es hätte danach nie wieder einen Kontakt zu ihr gegeben.

Er hätte sich im Moment der Annäherung vergessen und von der Schönheit des Mädchens blenden lassen. Immerhin war er offen und ehrlich, fand KHK Kortner und als Herr Kempfert fragte, ob das irgendwelche Konsequenzen für ihn hätte, verneinte der Polizist und sagte, dass das unter ihnen bliebe, er schaute KOK Schneider an und musste grinsen. Damit hatten sie den gesamten Vormittag in der Höheren Schule verbracht, sie gingen zu OStD Töpfer und bedankten sich für dessen Entgegenkommen. Sie verließen die Schule durch das Foyer, durch das sie sie am Morgen betreten hatten und musste sich einige unflätige Bemerkungen von Mittelstufenschülern anhören, die sie aber nicht zur Kenntnis nahmen, sie fuhren zum Präsidium. Die beiden gingen gleich in die Mittagspause zur Kantine, wo sie viele Kollegen trafen, die zum Teil abgekämpft und müde aussahen, sie setzten sich zu Werner Schlottkämper an den Tisch, er war ein alter und erfahrener Kollege und sie kamen mit ihm ins Gespräch. Er hatte sich den Eintopf geholt und aß mit Appetit seine Bohnen, KHK Kortner und KOK Schneider warteten noch mit dem Essen und erzählten ihrem alten Kollegen von ihrem Fall und ihrem Besuch im Gymnasium, sie schilderten die Atmosphäre in der Schule, und wie sehr sie es genossen hätten, durch das alte Gebäude zu laufen. Bei der Befragung der Mädchen, die allesamt Annabelle Memmerts Freundinnen gewesen wären, wäre nichts herumgekommen. Kollege Schlottkämper entgegnete:

„Ich will mich ja nicht in den Fall einmischen, aber wie ich das sehe, liegt bei Annabelle Memmerts Ermordung ein Racheakt vor, sie ist nicht vergewaltigt, sondern in dem festen Willen zu Fall gebracht worden, sie zu töten, das kann nur jemand getan haben, den sie enttäuscht hat oder der sie schlicht aus dem Weg räumen wollte.“ KHK Kortner und KOK Schneider holten sich den gleichen Bohneneintopf, den Kollege Schlottkämper aß und nahmen ein alkoholfreies Weizen dazu. Sie aßen mit großem Appetit, denn sie hatten den ganzen Morgen über nichts zu sich genommen, während der regulären Dienstzeit gingen sie, wenn sie im Präsidium waren, am Spätvormittag immer auf eine Kaffee und ein Mettbrötchen in die Kantine, darauf hatten sie an diesem Morgen verzichten müssen. Kollege Schlottkämper war älter als sie beide und müsste eigentlich bald pensioniert werden, wie KHK Kortner und KOK Schneider dachten, sie trauten sich aber nicht, ihn nach seinem Alter zu fragen, um ihn nicht zu verletzen.

„Ich bin zweiundsechzig Jahre alt“, sagte er mit einem Mal, als hätte er erraten, worüber sich seine jüngeren Kollegen die Köpfe zerbrachen, „und ich gehe in drei Jahren in Pension.“ Er trug komplett ergrautes Haar, das aber noch voll war, er hatte, wie fast alle Männer in seinem Alter, einen Bierbauch und wirkte untersetzt. Sein Blick verriet eine Ausgeglichenheit, wie sie nur ein erfahrener Kollege haben konnte, dabei wirkte er nicht überheblich, stattdessen war er hilfsbereit und immer willens, Kollegen Tipps zu geben.

Sie aßen alle drei ihre Bohnen und redeten dabei nicht so viel, sie wünschten sich einen guten Appetit und ließen es sich schmecken. Das Essen in der Kantine war ganz gut und wurde immer von allen gelobt, wenn einem etwas Bestimmtes nicht zusagte, nahm man ein anderes Menü, es gab jeden Tag drei zur Auswahl. Nach dem Mittagessen gingen KHK Kortner und KOK Scheider in ihr Dienstzimmer und besprachen ihre weitere Vorgehensweise, sie wollten als Nächstes Annabelles Tante in Schüttbach besuchen und ihr ein paar Fragen stellen, vielleicht erführen sie ja dort Näheres, das sie weiterbrächte.

Sie waren nach ihrem guten Essen kaum einer Regung fähig und streckten ihre Glieder aus, KOK Schneider schrieb an einem Bericht, der ihre bisherige Vorgehensweise enthielt. Plötzlich erschien der Polizeichef im Dienstzimmer, er war ohne anzuklopfen eingetreten, wie das eben so seine Art war, er war außer sich und KHK Kortner und KOK Schneider konnten sich zunächst keinen Reim auf seine Aufgeregtheit machen. Er rückte gleich mit seiner Sprache heraus und sagte nur:

„Weibliche Frauenleiche in einem Feld zwischen Selldorf und Schüttbach, Sie sollten ihre Sachen nehmen und sofort dorthin fahren, die Ortspolizei wartet auf Sie!“

Morde und Leben - Kortner und Schneider

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