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Kregelbach

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Wenn im Wendlerbachtal Schnee gefallen war, wurde alles ganz still, Menschen, Tiere, alles, denn der Schnee hatte die willkommene Eigenschaft, eine lärmdämmende Decke über die Krachmacher zu legen, die sonst immer laute Geräusche von sich gaben. Besonders in Kregelbach, dem Ort, von dem in unserer Geschichte die Rede sein soll, hallte der Lärm immer durch die Hauptstraße, in der die Häuser eng beieinanderstanden und den Geräuschen eine Resonanzfläche boten, und auch die davor abzweigenden Nebenstraßen waren Schallverstärker.

Wenn bei Walters am Beginn der Hauptstraße einer vor die Tür trat und in Richtung Dorfzentrum jemanden rief, den er kannte, schallte der Ruf durch die gesamte Gemeinde und konnte von jedem vernommen werden, er pflanzte sich sogar die Berghänge hoch fort, die das Wendlerbachtal säumten.

Stand man oben auf dem Wolfskopf und schaute auf Kregelbach, so waren dort deutlich die Laute der Stalltiere zu vernehmen, auch das Gebell der kläffenden Hunde wurde dort hinaufgetragen und war gut zu hören. Der Wolfskopf bot einen hervorragenden Blick über das gesamte Wendlerbachtal, angefangen mit dem Durchbruch des Wendlerbaches durch die eiszeitliche Kalkformation, die dem Autofahrer nur eine sehr enge Passage gewährte, und wo die Straße sich nahe an den Berghang schmiegte bis zum ungefähr fünf Kilometer entfernten Talende, an dem der Wendlerbach an Breite zugenommen hatte, die Berge abgeflacht waren und das Tal in die Flussebene des Irm überging. Dort lag Irmstadt und es war alles anders, offener, weltzugewandter, dort spottete man über das Wendlerbachtal und seine hinterwäldlerischen Bewohner. Damit tat man ihnen sicher Unrecht, denn besonders die Kregelbacher zeigten sich der Gegenwart durchaus zugewandt, wenn auch nicht alle, so aber zumindest die Jüngeren, die auch schon einmal nach Irmstadt fuhren, zum Einkaufen oder an den Wochenenden zum Tanzen.

Früher war das nicht so ohne Weiteres möglich, weil die Straße noch nicht ausgebaut, und man noch nicht motorisiert war, damals spannten die Kregelbacher einen Wagen an, wenn sie nach Irmstadt zum Arzt mussten oder sonst etwas Dringendes in der Stadt zu erledigen hatten. Ein Besuch in der Großstadt war immer ein Tagesausflug, der schon lange im Vorfeld geplant werden musste, und der nur im Sommer zu bewerkstelligen war. Im Winter, wenn die holprige Straße auch noch mit Schnee bedeckt war, war kein Denken an eine Fahrt nach Irmstadt. Das wäre viel zu gefährlich gewesen, man hätte mit dem Wagen von der Fahrbahn abkommen und in den Wendlerbach fallen können oder die Zugtiere hätten sich auf dem unebenen Gelände verletzen können. Man hätte natürlich auf der zwölf Kilometer langen Strecke von Kregelbbach nach Irmstadt in den nächsten Ort laufen können, je nachdem, welchem Ort man sich näher fühlte, aber auch das war in dem tiefen Schnee nicht einfach, denn geräumt wurde nicht. Seit die Straße gebaut war und die Menschen Autos besaßen, war es ein Leichtes, nach Irmstadt zu gelangen, niemand von den jungen Leuten dachte an die Unannehmlichkeiten, denen sich die Menschen früher ausgesetzt sahen. Sie fuhren am Samstagabend in die Disco und gaben sich dem Vergnügen hin. Es gab auf der L 112 zwischen Kregelbach und Irmstadt viele gefährliche Kurven, die man nicht zu schnell nehmen durfte, wenn man nicht vor einem Baum landen wollte, so wie vor sechs Jahren, als Peter Rohrmoser, Daniel Schiffer, Marcel Mergentaler und Bernd Breitmeier von Irmstadt kamen und mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Landstraße nach Hause fuhren.

Alle vier hatten sie gerade ihren Führerschein gemacht und deshalb kaum Fahrerfahrung. Peter saß am Steuer und nahm die Kurven mit quietschenden Reifen, er und seine Freunde grölten und sangen im Auto. Immer wenn Peter auf eine Kurve zuschoss, bremste er kurz vorher ab und schleuderte praktisch durch sie hindurch, bis sie an die scharfe Kurve beim Holzeinschlag gerieten, wo der Wendlerbach eine kleinen Wasserfall hatte, nachdem er eine 90°-Kehre beschrieben hatte. Dort verlor Peter die Gewalt über seinen Wagen, nachdem er mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf die Kurve zugerast war und das Auto nicht mehr beherrschen konnte, er schoss geradewegs vor einen Baum, der am Straßenrand stand. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass der gesamte Motorblock aus seiner Verankerung gerissen und in die Fahrgastzelle gedrückt worden war. Daniel, Bernd und Marcel waren auf der Stelle tot, Peter überlebte den Unfall, wenn auch querschnittsgelähmt. Er saß im Rollstuhl und man konnte ihn gelegentlich durch Kregelbach fahren sehen, er fuhr schon mal zum Wolfsmüller und stellte sich neben dessen Sägewerk, das direkt neben der Mühle lag. Er schaute in die offene Sägehalle und sah, wie große Bandsägen die Baumstämme zu Brettern schnitten oder er beobachtete, wie schwere LKWs die Baumstämme anlieferten und auf dem Hof des Sägewerkes entladen wurden.

Peter war fünfundzwanzig Jahre alt und stand eigentlich in der Blüte seines Lebens, der Unfall hatte ihm alles genommen, was eine Perspektive für ihn hätte bedeuten können. Noch immer legten die Mütter der Getöteten frische Blumen an den Unfallort neben das Holzkreuz, das sie dort postiert hatten. Längst gab es Schilder auf der L 112, die auf die Gefährlichkeit der Kurven hinwiesen und die Geschwindigkeit auf der gesamten Strecke durch das Wendlerbachtal auf 60 km/h beschränkten, durch die Kurven durften sogar nur 40 km/h gefahren werden. Der Unfall damals erschütterte alle im Wendlerbachtal, auch die Bewohner von Anzhausen und von Gilsterdorf, Orte, die jeweils oberhalb bzw. unterhalb von Kregelbach lagen, aber noch bedeutend kleiner waren. Inzwischen hatte der Verkehr auf der L 112 doch beträchtlich an Intensität zugenommen, viele nutzten die Verbindung den Wendlerbach entlang, um von Irmstadt nach Waltershausen zu kommen oder umgekehrt. Die Alternative zu dieser fünfundzwanzig Kilometer langen Strecke wäre eine viel weitere Route über die Autobahn gewesen, die das Gebirge bei Kregelbach umging und die breiten Flusstäler nutzte. Für Kegelbach hieß das zunehmende Verkehrsaufkommen, dass die Dorfbewohner erstens unter stärkerem Verkehrslärm und erhöhter Luftverschmutzung zu leiden hatten und sich zweitens beim Überqueren der Hauptstraße vorsehen mussten.

Besonders die Kinder waren gefährdet, wenn sie auf dem Bürgersteig herumtollten und dabei auch schon einmal auf die Straße liefen, ohne auf den Verkehr zu achten. Es wurden deshalb die Stimmen derjenigen immer lauter, die eine Ortsumgehung eingerichtet wissen wollten, es gab längst Pläne für die Verwirklichung dieses Projektes. Sie sahen vor, dass eine Umgehung kurz vor dem Wolfsmüller nach Süden von der Hauptstraße abzweigte, sie lief über die Felder des Bauern Rohrmoser und träfe hinter dem Ort wieder auf die Hauptstraße. Der Wille beinahe aller Beteiligter war da, auch Rohrmoser würde verkaufen, allein die Genehmigungsbehörden bei Land und Kommune sperrten sich, weil sie erhebliche Kosten auf sich zukommen sahen. So würden die Kregelbacher noch eine ganze Zeit mit der Gefahrenquelle leben müssen. Sie hatten Schilder an der Straße aufgestellt, auf denen die Umgehung gefordert wurde. Wenn die Kregelbacher nicht nach Irmstadt oder Waltersausen zur Arbeit fuhren, betrieben sie Landwirtschaft, sie hielten in erster Linie Milchkühe und Schweine, wobei die Bauern Rohrmoser und Stegmüller die größten Landwirte waren. Neuerdings gab es im Ort eine Pferdezucht, die Familie Disch hatte den Schritt zur Anschaffung von zehn Reitpferden gewagt und viel Land gepachtet, auf dem sie ihre Tiere hielt.

An der Straße wies ein Schild mit der Aufschrift „Reiterferien bei Disch“ darauf hin, dass Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geboten wurde, zwei oder mehr Wochen ihrer Ferien bei Disch zu verbringen und ihre Reitkenntnisse zu vervollkommnen. Die älteste Tochter von Disch war Reitlehrerin und kümmerte sich um die Feriengäste, die die Tiere pflegen und die Ställe ausmisten mussten, aber das taten sie sehr gern. Die Alteingesessenen von Kregelbach sahen den Pferdehof von Disch mit Misstrauen.

„So etwas hatte es noch nie im Ort gegeben, warum muss denn jetzt ein Pferdehof zum Dorf gehören?“, fragten sie sich. Dischs kümmerten sich nicht um die griesgrämigen Alten und waren mit dem Pferdehof auf Anhieb sehr erfolgreich, die Eltern brachten ihre Kinder von weither und gaben sie praktisch nur bei Disch ab. Viele waren schon zum dritten Mal da, manche noch häufiger, man kannte sich, traf sich bei Disch wieder und hatte sich viel zu erzählen. Annette Disch, so der Name der Reitlehrerin, kannte inzwischen ihre jungen Reiterinnen, es waren beinahe ausschließlich Mädchen, die zum Reiten kamen und ritt die verschiedenen Reitwege mit ihnen ab. Meistens ritten sie den Wendlerbach entlang oder zu den Kalkfelsen und wieder zurück. Weniger Geübte nahmen bei Brigitte Disch, der jüngeren Schwester von Annette, Reitstunden auf dem Parcours auf dem Hof, in denen sie ihre Reithaltung festigten, bevor auch sie am Ausreiten teilnehmen konnten.

Bei Disch konnten zehn Reitkinder in fünf Doppelzimmern unterkommen, sie waren im Regelfall zwölf bis vierzehn, in Ausnahmefällen fünfzehn Jahre alt und machten überhaupt keine Probleme. Frau und Herr Disch kochten für die Kinder, die, was das Essen anbelangte, gar keine großen Ansprüche stellten. Sie bekamen morgens ein Frühstück mit Brötchen, die von der Bäckerei beim Wolfsmüller geliefert wurden, die meisten tranken eine Tasse Kakao dazu, anschließend ging es gleich zu den Pferden. Jedes Kind hatte für die Zeit der Ferien ein Tier, das nur ihm zugeordnet und für das es allein verantwortlich war. Morgens wurde eine Stunde und am Nachmittag noch einmal eine bis eineinhalb Stunden geritten. Vor dem Reiten am Morgen gab es eine ausgiebige Striegelstunde, danach wurde der Stall gemistet. Nach dem Reiten ließen die Kinder die Tiere ausschweißen, bevor sie sie wieder in die Ställe brachten und ihnen frisches Grünfutter und Wasser gaben. Es schloss sich eine zweistündige Mittagspause an, in der sich die Kinder hinlegten, bevor sie den Nachmittagsritt antraten. Nie trieben sie die Pferde, darauf achtete Annette, nur ganz selten kam es vor, dass sie in den Galopp wechselte und dann auch nur für ein kurzes Stück. Galopp durften nur die ganz Geübten reiten, für die anderen war diese Gangart zu gefährlich. Im Ort zweigte die Kirchgasse von der Hauptstraße ab, an der das Restaurant „Zur Sonne“ und das „Hotel Rösch“ lagen, das Hotel lag auf dem Kirchplatz, der gleichzeitig der Ortsplatz war, die „Sonne“ lag ein Stück davor.

Am Kirchplatz lag auch der kleine Supermarkt, der von Alfons Disch, dem Bruder der Pferdehofbesitzerin betrieben wurde und kaum noch Gewinne abwarf. Seit Langem fuhren die Kregelbacher nach Irmstadt oder Waltershausen, wenn sie größere Einkäufe tätigen mussten, dort gab es Aldi und andere günstige Discounter. Von der Kirchgasse aus gelangte man nach links zu Bauer Rohrmoser und nach rechts zu Bauer Stegmüller, die beide jeweils ein großes Bauernhaus ihr Eigen nannten. Die Häuser waren in einem sehr gepflegten Zustand und mit roten Bieberschwanzpfannen gedeckt. Die Zeiten, in denen vor der Haustür ein großer Misthaufen lag, waren endgültig vorbei. Hinter der Kirche durchfloss der Wendlerbach den Ort, an ihm entlang verlief die Wehrgasse, in der die winzige Grundschule lag, die von den wenigen Schulkindern besucht wurde, die es in Kregelbach noch gab. Aber die Tage der Schule waren gezählt, bald müssten die Kinder mit dem Bus zur Schule nach Irmstadt gefahren werden, was letztendlich billiger wäre, als der Erhalt des Schulgebäudes in Kregelbach und die Finanzierung der beiden Lehrkräfte, die es noch gab.

Die Besitzungen des Bauern Rohrmoser waren gigantisch und hatten sie im Laufe der Existenz der Familie in Kregelbach beständig durch Einheirat vermehrt, sie erfassten praktisch das gesamte Gelände südlich des Dorfes bis zum Eulenwald und waren durch eine gerade verlaufende Grenze vom Besitz des Bauern Stegmüller abgetrennt, Rohrmosers Land reichte bis an die Grenze von Anzhausen. Bevor die große Flurbereinigung durchgeführt wurde, hatte Bauer Rohrmoser auf der anderen Seite der Hauptstraße kleine Felder, die er aber verpachtet hatte, weil sie zum Teil mit seinen Maschinen nicht bewirtschaftet werden konnten. Nach der Flurbereinigung hatte er sein Land südöstlich von Kregelbach konzentriert und er trieb dort seine Kühe auf die Weiden. Rohrmoser hatte einen riesigen Milchbetrieb, zweimal täglich kam der LKW von der Molkerei in Waltershausen und holte die Milch ab, die das Vieh gegeben hatte. Täglich wurde mehrmals auf die Weide gefahren und Gras geschnitten, dazu benutzte Bauer Rohrmoser einen Mähbalken, den er an seinen Traktor montiert hatte und einen Selbstlader. Man konnte sich kaum vorstellen wie sich die Menschen früher abgeplagt hatten, als alles mit der Hand erledigt werden musste und die Männer das Gras stundenlang mit der Sense abmähten, bevor es die Frauen zusammenrechten und zu Bündeln aufstellten, anschließend wurde es mit dem Pferdewagen zum Heuschober gebracht. Heute wurde das Gras sofort vom Hänger aus im Stall den Kühen vorgelegt. Für den Winter wurde das Heu mit einem starken Sauger auf den Heuboden hochgeholt und dort mit einer beweglichen Rohrleitung dahin geblasen, wo man es haben wollte.

Handarbeit war lediglich an dem Sauger erforderlich, wenn man das Heu mit Gabeln vorlegte, wobei man aufpassen musste, dass einem der Sauger nicht das Werkzeug aus der Hand riss. Bauer Rohrmoser besaß auch zweihundert Schweine und hatte ursprünglich einmal vorgehabt, ganz auf Schweinemast umzustellen. Er ließ aber, als die Preise für Schweinefleisch einbrachen, die Finger davon und behielt seinen Milchbetrieb, allerdings brachte auch die Milch nicht mehr so viel, manch ein Milchbauer hatte seinen Hof schon aufgeben müssen.

Im Haus Rohrmoser lebten die Großeltern väterlicherseits, Frau und Herr Rohrmoser und Peter, der einmal den gesamten Hof übernehmen sollte, nun aber als Schwerpflegefall froh sein konnte, dass er allein mit seinem Rollstuhl ins Dorf fahren konnte. Zu Hause kümmerten sich vor allem seine Oma und seine Mutter um ihn, die ihn aus- und anziehen, waschen und manchmal auch füttern mussten. Peter hatte eine so starke Oberarmmuskulatur entwickelt, dass er sich allein auf die Toilette, ins Bett oder ins Auto heben konnte. Nachdem er lange Zeit auf das Autofahren verzichten musste, hatte ihm sein Vater einen behindertengerechten VW-Golf gekauft, bei dem alle Funktionen von Hand zu bedienen waren, Peter war gerade dabei, den Umgang mit dem Wagen zu lernen. Am Haus waren einige bauliche Veränderungen vorgenommen worden, so war für Peters Rollstuhl eine Rampe vor die Haustür gelegt worden, die er hochfahren konnte, diverse Türdurchlässe waren verbreitert worden, sodass er mit seinem Rollstuhl dort hindurchpasste.

Die Duschtasse im Badezimmer wurde entfernt und der Abfluss in den Boden versenkt, Peter konnte so mit seinem Rollstuhl in die Dusche fahren und sich dort auf einen Plastikstuhl hieven, auf dem er bequem duschen konnte. Ein Badewannenlift gestattete ihm den mühelosen Einstieg in die Badewanne und ein Treppenlift im Haus ermöglichte Peter das Aufsuchen seines Zimmers im ersten Stock. Bei allem unbeschreiblichen Unglück, das ihm bei seinem Autounfall widerfahren war, konnte er dennoch von Glück sagen, dass er aus begütertem Hause stammte und seine Eltern die finanziellen Belastungen, die mit den Umbauten und dem Autokauf verbunden waren, stemmen konnten. Die Eltern waren nach dem Unfall und dessen Folgen für ihren Sohn natürlich völlig am Boden zerstört und hatten anfangs noch Schwierigkeiten, mit Peters Behinderung fertig zu werden, nach und nach spielte sich aber ein Alltagsablauf ein, mit dem jeder der Rohrmosers leben konnte. Peters Mutter hatte sich einmal dabei ertappt, dass sie dachte, Peter wäre doch besser unter den Getöteten gewesen, mittlerweile war sie aber ganz davon ab und froh, ihr einziges Kind bei sich zu haben, sie liebte ihren Peter.

Bauer Rohrmoser hatte sich früher stark in die Gemeindepolitik eingemischt und war Mitglied im Gemeinderat, als man ihm einmal das Bürgermeisteramt angetragen hatte, lehnte er aber ab, weil er auf seinem Hof genug Arbeit hatte und sich nicht auch noch um die politischen Geschicke in seinem Ort kümmern konnte und auch nicht wollte. Er engagierte sich aber bei den Befürwortern der Ortsumgehung und mischte da in den vordersten Reihen mit, war aber angesichts leerer Kassen bei Land und Kommune natürlich auch machtlos. Er dachte an Peter, wenn er sich für die Umwelt einsetzte, Peter sollte ungestört und ohne Gefahr mit seinem Rollstuhl durch das Dorf fahren können. Das Verhältnis zu den Stegmüllers, Rohrmosers Nachbarn, war freundschaftlich, wenngleich auch nicht unbelastet. Beide Familien lebten schon seit undenklichen Zeiten in Kregelbach und es hatte einmal in grauer Vorzeit eine Hochzeit zwischen Anna Stegmüller und Alois Rohrmoser gegeben, die unter keinem guten Stern stand, und die Ehe wurde schon nach zwei Jahren wieder geschieden. Stegmüllers sagten, Alois wäre fremdgegangen und hätte Anna betrogen, Rohrmosers behaupteten, Anna hätte sich jedem hergelaufenen Lumpen hingegeben. So entstand ein Familienstreit, der so schnell nicht beigelegt wurde, bis man sich aber vor nicht allzu langer Zeit zusammensetzte und das Kriegsbeil begrub.

Herr Rohrmoser und Herr Stegmüller setzten sich schon mal in die Sonne und tranken dort zusammen ein Bier, sie sprachen dabei über die Entwicklung der Milchpreise, über die anstehenden Wahlen zum Vorstand im Bauernverband und andere Themen aus der Landwirtschaft, über ihre Familien redeten sie so gut wie nie, für beide war der alte Zwist beigelegt und sie wollten nicht wieder daran rühren. Der Besitz von Stegmüllers umfasste den Südosten bis fast zum Holzeinschlag, auch deren Ländereien reichten bis an den Eulenwald im Süden. Bauer Stegmüller hatte wie Bauer Rohrmoser einen Milchviehbetrieb, er hatte nur unwesentlich weniger Kühe als Bauer Rohrmoser, ungefähr hundertachtzig Stück, und auch er hielt nebenher Schweine, deren Anzahl sich um die sechzig bewegte. Stegmüllers hatten zwei Töchter, Gertrud und Maria, die aber nicht mehr in Kregelbach lebten, sondern nach Irmstadt und Waltershausen geheiratet hatten. Es hatte nie eine Beziehung zwischen Peter und einer der Töchter gegeben, so als wirkte die Scheidung von damals bis in unsere Zeit nach und legte sich wie ein Hindernis auf eine mögliche Annäherung. Der Unfall von Peter hatte den Stegmüllers sehr leid getan und sie boten unmittelbar danach ihre Hilfe an, man beließ es aber dabei, Peter gelegentlich vom Dorf nach Hause zu schieben, wenn man gerade selbst von dort unterwegs war, und man grüßte sich natürlich, wenn man sich begegnete. Auch Stegmüllers waren erklärte Befürworter der Ortsumgehung und die beiden Familienvorstände trafen sich schon einmal auf den anberaumten Sitzungen der Bürgerinitiative in der Sonne.

Das Märchen von Albin

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