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3.

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Seine Gedanken liefen ins Leere, er sah sich nicht in der Lage, einen einzigen festzuhalten. Sein Geist oder Verstand schien sich aufzulösen. Erst allmählich kam seine Denkmaschinerie wieder in Gang. Satzfragmente der Visite tauchten an der Oberfläche auf, blieben hängen und lösten neue Überlegungen aus.

... vor sieben Tagen ... war es wirklich möglich, dass er bereits so lange in diesem Zustand verharrte? Ihm kam es wie endlos sich aneinanderreihende Stunden vor, vor allem, da er nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Jegliches Zeitgefühl war ihm verloren gegangen. Warum, wenn so viel Zeit vergangen war, hatte ihn noch niemand besucht? War er die ersten Tage ohne Bewusstsein, so dass er es gar nicht mitbekommen hatte? Die Vorstellung, dass Menschen neben ihm am Bett saßen und seinen leblos wirkenden Körper anstarrten, gefiel ihm nicht.

Wer würde überhaupt herkommen? Natürlich seine Frau, es wunderte ihn, dass sie nicht schon da saß. Die Töchter? Er wusste momentan gar nicht, wo sie sich aufhielten und was sie taten. Sie lebten ihr eigenes Leben, und meist bekam er sie nur an den runden Geburtstagen zu Gesicht. Sein Sohn befand sich geschäftlich für mehrere Monate in China. Er hoffte, dass er nicht übereilt herreiste, solange keine akute Lebensgefahr für ihn bestand. Wie sie wohl alle auf die Nachricht über den Unfall und seine Folgen reagiert hatten? Seine Vorstellungskraft reichte nicht aus, sich ihre Reaktionen auszumalen.

»Wie auch, außer deinem Sohn kennst du sie ja kaum.«

Da war sie wieder, diese bescheuerte Stimme. Wer war sie und woher wusste sie so viel von ihm. Es musste mit diesem Syndrom zusammenhängen. ... ja, das wäre eine Möglichkeit, es war eine Nebenwirkung der Medikamente, die sie ihm gaben.

»Gut, dass dir immer eine Erklärung einfällt. Wir wollen ja nicht, dass du durchdrehst. Ha, ha, ha ...«

Das Lachen breitete sich dröhnend in seinem Kopf aus. Michael war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Seine Fäuste ballten sich in Gedanken vor Wut. Er wünschte sich sehnlichst, sie heftig an die Stirn zu pressen, um diese alberne Halluzination zu vertreiben. Machtlos, unfähig, seinen Zorn abzureagieren, erkannte er, was es bedeutete, keinen Einfluss auf das, was mit ihm passierte, zu haben. Er besaß keinerlei Zugang mehr zur Außenwelt. Er war nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, Fragen zu stellen, Ansichten auszutauschen, Wünsche zu äußern. Blind zu sein, stellte eine zusätzliche Isolation und intensive Einschränkung seiner Wahrnehmung dar. Die Kommunikation ging nur noch in eine Richtung. Alles, was an Gedanken und Erwiderungen dabei hervorging, blieb bei ihm eingeschlossen. Wenn sein Zustand sich nicht veränderte, würde seine Welt einzig und allein daraus bestehen! Panik stieg in ihm auf.

»He, he, beruhige dich! Du wirst einen Weg finden.«

Die Aussage wirkte unerwartet wie ein akustischer Rettungsanker und half ihm, die Panik zurückzudrängen. Gleichzeitig wurde er wütend auf die Stimme.

»Erst mich reizen und dann den Helfer spielen. Woher willst du das wissen?«

»Na, du bist doch sonst so überzeugt von deinen Fähigkeiten. Wer sagt denn immer: wo ein Wille, da ein Weg?« »Deine oberlehrerhafte Art geht mir auf die Nerven. Natürlich werde ich einen Weg finden, da brauche ich dich nicht dazu.« Er kam sich ertappt vor. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand ihn in einem schwachen Moment erwischte.

»He, ich bin in deinem Kopf drin. Keiner da draußen bekommt das mit.«

Musste das sein, dass sie ihm diese Tatsache ständig auf die Nase band? Nur mühsam unterdrückte er die erneut aufsteigende Beklemmung. Er hasste diesen hilflosen Zustand, ohne eine Chance, aktiv etwas zu unternehmen. Nur Geduld half hier weiter. Abwarten und hoffen, dass er die derzeit unüberwindliche Mauer nach außen früher oder später durchbrechen kann. Hoffentlich bald, denn Geduld war ein Fremdwort für ihn.

»Endlich merkst du, dass dir erst mal nichts anderes übrig bleibt.«

»Na, dann lege ich mich gemütlich zurück, bis ich aufwache.« Michael hatte genug von dieser ominösen Stimme.

»Hast du denn etwas Besseres vor?«

Mann, die nervte! Immer noch einen obendrauf setzen. Wieso verschwand sie nicht? Jedes Mal, wenn er davon ausging, sie sei verstummt, tauchte sie erneut auf.

Es beunruhigte ihn, dass er anfing, sich mit ihr zu unterhalten. Er wünschte, er fände eine Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen. Konnte es sich um eine Art Notfallprogramm des menschlichen Gehirns handeln? Eine Funktion, die verhinderte, dass man während einer solchen Isolation durchdrehte?

»Bla, bla, bla. Akzeptier mich doch einfach.«

Es blieb ihm sowieso nichts anderes übrig. Egal, um was für ein Phänomen es sich handelt, er musste hinnehmen, so wie das Wetter, auf das man auch keinen Einfluss hat. Positiv betrachtet, war sie zumindest eine zeitweilige Ablenkung.

»Solange dir das hilft, besser mit mir zurechtzukommen. Dann können wir uns ja jetzt ein Weilchen unterhalten.«

Ihr gönnerhafter Ton reizte Michael, und abweisend schnauzte er: »Ich pflege in der Regel nicht, imaginären Stimmen zuzuhören!«

»Du pflegst in der Regel niemanden zuzuhören, es sei denn, du bestimmst das Thema.«

»Es gibt wichtige und es gibt unwichtige Themen.«

»Und du allein entscheidest, was was ist.«

»Hör mal, du Klugscheißer, ich bin Inhaber eines Unternehmens und ich habe einen sehr engen Terminplan, da bleibt keine Zeit für unnötige Gespräche.«

»Jetzt nicht mehr. Jetzt hast du alle Zeit der Welt!«

Mit der Wucht einer Kanonenkugel schlug diese Erkenntnis in seinem Bewusstsein ein. Noch stärker als zuvor wurde ihm durch diese Aussage klar, dass sein bisheriges Leben verloren wäre, wenn er in diesem Koma gefangen bliebe. Sein Geist, überfordert mit daraufhin einsetzenden schrecklichen Zukunftsvisionen, gab auf und verzog sich in einen ruhelosen, flüchtigen Schlaf.

Unzusammenhängende Bilderfetzen füllten seinen Kopf. Unscharfe Szenen flimmerten grobkörnig und schwarzweiß wie auf einem alten Fernsehbildschirm unruhig an seinem inneren Auge vorbei. Plötzlich blieb das Bild stehen. Es wurde gestochen scharf und farbig. Er sah einen strahlendblauen Himmel, in dem sich die Verheißung eines langersehnten Frühlings widerspiegelte. - Wo kamen nur diese für ihn untypischen poetischen Analogien her? -

Instinktiv wusste er: Es war der Tag, an dem er zur Verleihung nach Berlin fuhr.

Kurz darauf führte ihn der Traum noch weiter in die Vergangenheit. Er stand am Telefon und nahm die Mitteilung der Nominierung entgegen. Dann befand er sich, erfüllt von Stolz und Vorfreude auf den Festakt, bei seinem Schneider, der ihm einen neuen Anzug für diesen Anlass anfertigte. Er dachte die ganze Zeit daran, dass viele Geschäftsfreunde und ehemalige Kommilitonen ihn wegen dieser Auszeichnung beneiden würden. Er, der Außenseiter, der nicht aus einer Unternehmerdynastie stammte, hatte deren Sprösslingen den Rang abgelaufen! Er kann die Triumphgefühle kaum bändigen. Mit erzwungener Bescheidenheit berichtet er dem Schneider, dass der Ministerpräsident persönlich ihm die Urkunde überreichen wird. Alle namhaften Vertreter aus Wirtschaft und Industrie waren dazu eingeladen. Der Höhepunkt seines bisherigen Lebens!

»Trotzdem hast du deinem Vater die Teilnahme verboten, obwohl er vor Stolz auf dich zu platzen drohte.«

Sekundenschnell ließ ihn die Stimme aus dem Traum aufschrecken. Er erinnerte sich daran, als hätte es gerade stattgefunden. Ohne zu überlegen, fing er an, sich zu verteidigen.

»Er war gesundheitlich zu angeschlagen. Herzrhythmusstörungen«.

»Eine willkommene Ausrede! Einen besseren Vorwand hättest du nicht finden können.«

»Woher willst du das denn wissen?«, schoss er ungehalten zurück.

»Du und ich, wir kennen den wahren Grund!«

»Du existierst überhaupt nicht!«

»Ach, wieso redest du dann mit mir?«

»Tu ich keineswegs«, erklärte er, »ich gehe lediglich meinen Gedanken nach, wenn du glaubst, dass ich deshalb mit dir rede, ist das dein Problem.«

»So? Dann sagt dir jetzt mal jemand, der ebenfalls nur so vor sich hindenkt, warum du deinen Vater nicht mitnehmen wolltest. Falls dir das nicht passt, kann mir das genauso egal sein.«

Die Stimme klang wütend, wodurch sie noch realer erschien.

»Du schämst dich für ihn, deshalb sollte er nicht mitkommen! Deine Geschäfts- und Parteifreunde erführen sonst, dass dein Vater ein gewöhnlicher Beamter ist, der kein Hochdeutsch spricht und dem die Feinheiten des gehobenen Umgangs fehlen. Das wäre dir peinlich gewesen, das ist der wahre Grund, warum du wolltest, dass er zu Hause blieb. Meinst du nicht, dass er das wusste?«

»Ich muss mich nicht vor einem Hirngespinst rechtfertigen!«, schrie Michael.

Er liebte seinen Vater. Um seinem Sohn den Besuch des Internats und das anschließende Studium zu finanzieren, hatte er auf vieles verzichtet. Hinzu kam die Ehe mit einer Frau, die ihm vormachte, dass sie aus einer einst reichen, vornehmen ostpreußischen Familie stammte, wofür es außer ihrem gespreizten Benehmen jedoch keinerlei Beweise gab. Solange sie lebte, litt er unter ihrer Geringschätzung und abfälligen Behandlung, ohne sich dagegen zu wehren. Sein eigenes Leben konnte oder wollte er nicht ändern. Dafür entwickelte er einen unbändigen Ehrgeiz, dem Sohn ein besseres und erfolgreicheres Leben als sein eigenes zu ermöglichen. Es war eine bittere Erfahrung, dass der Sohn ihn, nach Erreichung dieses Ziels, aus seinem Leben ausschloss.

»Er hätte sich total fehl am Platz gefühlt«, verteidigte Michael seine Haltung in einem Anflug von schlechtem Gewissen.

»Das mag sein. Aber wahrscheinlich wäre er bereit gewesen, das in Kauf zu nehmen, um dabei zu sein.«

Er wollte mit dieser penetranten Stimme nicht weiter über seinen Vater reden. Doch die Gedanken gingen ihre eigenen Wege.

»Das spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr«, sagte er ironisch, »nun haben wir beide die Veranstaltung wegen dieses bescheuerten Unfalls verpasst! Stattdessen schicken sie mir die Urkunde mit der Post zu. Und die Gelegenheit für ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten wird sich so bald nicht wieder bieten. Dabei wollte ich den Anlass nutzen, mit ihm über einen Einstieg in die Politik zu sprechen.«

»Das nennt man Jammern auf hohem Niveau! Gefiele es dir besser, man hätte sie deiner Witwe zugeschickt?«

»Was willst du mir jetzt damit sagen?«

»Wer weiß, ob du sie je in den Händen halten wirst?«

Hörte er da eine gewisse Bösartigkeit heraus?

»Ich bin schneller zu Hause, als du dir vorstellen kannst!«

»Glückwunsch zu so viel Optimismus. Du hast doch gehört, dass kaum jemand aus diesem Koma aufwacht. Warum sollte es bei dir anders sein?«

»Weil ich einen extrem starken Willen besitze! Weil ich nie aufgebe! Weil ..., weil ich über Ausdauer verfüge!«

»Was, wenn es Jahre dauert, bis du aus diesem Koma erwachst?«

»Wieso ziehst du mich so runter? Hör auf, den Teufel an die Wand zu malen! Hätte ich jedes Mal in meinem Leben gleich das Schlimmste befürchtet, hätte ich vieles nicht erreicht. Würde mich so eine nervige Stimme nicht ständig davon abhalten, könnte ich längst darüber nachdenken, wie ich es schaffe, meine Augenlider zu bewegen.«

»Ich verstehe, na, dann lass ich dich mal allein. Außer mir ist zum Glück keiner da, der dich ablenkt. Deine Familie kennt dich offenbar ziemlich gut, bisher ist noch niemand aufgetaucht, um dich zu besuchen. Zweifellos wissen die, was es bedeutet, dich bei einer wichtigen Angelegenheit zu stören.«

Er überhörte ihre abschließende bissige Bemerkung geflissentlich. Woher wollte sie wissen, ob jemand da gewesen war. Die aufkeimende Enttäuschung darüber, dass es vielleicht tatsächlich so war, unterdrückte er.

Er seufzte lautlos. Diese ungewohnten Einbrüche in seine Gedankenwelt strengten ihn an, und er sehnte sich danach, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Die Existenz dieser Stimme weiterhin als Störung der Gehirnfunktion zu betrachten, erwies sich als schwierig. Sie verstand es, den Eindruck zu erwecken, eine eigenständige, unabhängig von ihm existierende Persönlichkeit zu sein. Mehr verstörte ihn der Umstand, dass sie so viel über ihn wusste und ihre Äußerungen ständig darauf zielten, seine Ansichten und Meinungen zu kritisieren. Es erschien fast so, als wäre, ausgelöst durch die Kollision, ein Alter Ego aus den Tiefen seines Unterbewusstseins nach oben geschleudert worden und hätte beschlossen, seinen geschwächten Zustand auszunutzen und sein wohlgeordnetes Leben und seine wohlbegründeten Überzeugungen in Frage zu stellen.

Wer hatte nicht schon von Menschen gehört, die nach einem lebensbedrohlichen Ereignis sozusagen Nabelschau betrieben und danach geläutert verkündeten, von jetzt an ein besseres Leben zu führen. Michael traute solchen Wandlungen nicht und zweifelte daran, dass man von einem Tag auf den anderen, nur weil man vom Tod verschont blieb, sich komplett änderte.

Doch die Auseinandersetzungen mit der Stimme setzten ihm unterwartet zu. Diese Art von kritischer Selbstbetrachtung, zu der sie ihn zwang, war ihm fremd und unangenehm. Sie rührten an sorgfältig verdrängte Ereignisse und lösten Gefühle aus, die er nicht zuzuordnen vermochte. Sie zu erkunden, lag nicht in seiner Natur, aber die Mauer der Verleugnung hatte Risse bekommen.

Er sehnte sich nach vertrauten logischen Betrachtungen. Er wollte darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte, sobald er aufwachte. Welche Schritte eingeleitet werden mussten, damit er schnellstmöglich, noch vom Krankenbett aus, die Geschäftsführung seiner Firma wieder aufnehmen konnte.

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