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Charlotta stand, die Arme vor der Brust verschränkt, am Esszimmerfenster und schaute auf den Vorgarten. Die Krokusse, deren Wachstum ein unerwarteter Kälteeinbruch Anfang April unterbrochen hatte, schossen nun kraftvoll aus der Erde hervor. Der Frühling war, als niemand mehr mit ihm rechnete, innerhalb eines Tages eingezogen, und bald stünde alles in voller Blüte. Im Herbst pflanzte sie jedes Jahr eine Unmenge an Blumenzwiebeln in den aktuellsten Farbkombinationen, um sich dann den Winter über auf die kommende Blütenpracht zu freuen. Wie lange noch, dachte sie traurig.

Sie ging ins Wohnzimmer mit den wunderbar antiken Möbeln, eine Tasse Tee in der Hand haltend. Dort blickte sie durch die Glastüren in den großen, von einem Gärtner gepflegten Garten hinaus. Kein Lüftchen regte sich; für einen Apriltag und dafür, dass bis vor kurzem Schnee lag, herrschten für diese Jahreszeit ungewohnt hohe Temperaturen. Der Himmel leuchtete azurblau und wolkenlos, sogar die Kondensstreifen der Flugzeuge, die für gewöhnlich weiße Bahnen in der Luft zeichneten, fehlten, da ein Vulkanausbruch in Island den gesamten Flugverkehr über Deutschland lahmgelegt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einen so klaren, von einer gleichmäßigen Farbverteilung durchdrungenen Himmel gesehen hatte.

Es gab so vieles zu bedenken.

Die Kinder, Eltern und engsten Freunde waren informiert. Besorgt boten sie ihr an vorbeizukommen, damit in dieser schweren Situation jemand an ihrer Seite sei. Energisch lehnte sie alle Besuche, auch die der Töchter, dankend ab. Sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen, Ruhe, um zu überlegen, wie dieses Ereignis sich auf ihre Entscheidung auswirkte und was sie als Nächstes zu tun gedachte. Trotz der Bestürzung, Angst und Trauer, die sie empfand, meldete sich gleichzeitig eine gewisse Hoffnung, dass dieser Unfall der Katalysator war, um die bereits in die Wege geleitete Veränderung endgültig umzusetzen. So oder so, nichts wird mehr sein, wie es einmal war, dachte sie wehmütig.

Würde er anders sein, falls er wieder aufwacht? Was bleibt von ihm, wenn er aus dem Koma nicht erwacht?

Was bleibt?

Sie würde noch etwas Zeit brauchen, bevor sie ihn in der Klinik besuchen würde.

Michael, in seine Überlegungen versunken, dachte gerade darüber nach, welche Vollmachten auszustellen wären. Er hörte die Tür aufgehen und vernahm gedämpftes Klackern von Absätzen. Scheinbar versuchte die Person absichtlich, vorsichtig aufzutreten.

Ihm war sofort klar, dass hier keine der Schwestern hereinkam, da diese in der Regel die Tür eilig aufrissen und mit quietschenden Gesundheitsschuhen das Zimmer betraten. Er hatte sie mittlerweile oft hereinkommen gehört, sie am Bett herumhantieren gespürt; Geräusche wahrgenommen, die ihm bekannt vorkamen und ihn vermuten ließen, dass sie seine Geräte überprüften, Infusionen auswechselten, die er aber aufgrund seiner begrenzten Sinneswahrnehmung nicht eindeutig zuordnen konnte. Dabei plapperten sie unablässig mit ihm wie mit einem Kleinkind oder tauschten, wenn zu zweit, den neuesten Kliniktratsch aus, ohne Bedenken, dass er möglicherweise ihre Gespräche verfolgte.

Ein Gegenstand wurde über den Boden geschoben. Er vernahm ein schabendes Schleifgeräusch direkt neben dem Bett. Er glaubte, das Geräusch von unzähligen Meetings zu kennen, wo wiederholt jemand nervös oder unruhig seinen Stuhl zurechtrückte. Er hörte kurz das Rascheln von Kleidung, daraufhin herrschte, abgesehen von der üblichen Geräuschkulisse, absolute Stille. Wer immer anwesend war, schien sich nicht zu rühren und gab keinen Laut von sich. Die Ungewissheit und dass er sie nicht zum Sprechen auffordern konnte, zerrte an seinen strapazierten Nerven. Was fiel dieser Person ein, sich in sein Zimmer zu schleichen, ihn aus seinen Gedanken zu reißen, um anschließend dazusitzen und kein Wort zu reden.

Ein Schniefen drang an sein Ohr. So klang jemand, dem ständig die Nase lief und der den Rotz hochzog, anstatt ein Taschentuch zu benutzen. Es erinnerte ihn noch an etwas anderes. Es dauerte einen Moment, bis es ihm einfiel - unterdrücktes Weinen.

Wer saß da neben seinem Bett? Seine Frau? Eine seiner Töchter? Ein Mann kam nicht in Frage, wegen der Absätze und des Weinens.

Charlotta sah das nicht ähnlich, die redete immer sofort los, so als stünde ihr nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, um alles erzählen zu können.

»Wundert dich das?«, vernahm er die Stimme aus der Ferne. Zu schade, dass sie sich nicht ganz verzogen hatte.

Dann hörte er das unverkennbare Knistern einer in die Hand genommenen Packung von Papiertaschentüchern, gefolgt von dem kratzenden Geräusch, verursacht vom Herausziehen eines der Tücher. Anschließend ertönte ein zurückhaltendes, sachtes Schnäuzen. Er bekam den Eindruck, dass die Person sich nicht traute, vor ihm zu weinen.

»Sie kennt dich offenbar sehr gut«, stichelte es weiter aus dem Hintergrund.

Ach, jetzt bin ich daran schuld! Ich bin nicht der Einzige, der diese Heulerei nicht leiden kann.

In diesem Moment setzte das Schluchzen erneut ein. Erst wieder leise und unaufdringlich, dann aber zunehmend lauter und heftiger, bis es den ganzen Raum erfüllte.

Es wurmte ihn immens, nicht zu sehen, wer da bei ihm im Zimmer saß. Noch mehr erzürnte es ihn, kein Machtwort sprechen zu können, um dieses Gejammer zu beenden.

Im Grunde genommen kam nur Charlotta in Frage. Niemand außer ihr bräche angesichts seines Zustandes dermaßen in Tränen aus. Sie besaß keinerlei Kontrolle über sich und neigte prinzipiell dazu, wegen jeder Kleinigkeit loszuheulen.

»Auf die Idee, dass du einen fürchterlichen Anblick bietest, gespickt mit all den Kabeln, Sonden und Schläuchen, kommst du nicht? Gefällt es dir nicht, dass deine Frau, vorausgesetzt, sie ist es, um dich weint?«

Warum sollte es ihm nicht gefallen, es zeigte doch, dass sie ihn liebte, oder?

Nein, was ihn mehr aufregte, war, dass er nicht in der Lage war, sich Klarheit über den Besucher zu verschaffen. Er tappte, im wahrsten Sinne des Wortes, im Dunkeln. Diese Hilflosigkeit schürte seinen Jähzorn, und er stand kurz vor einem Wutausbruch.

Nicht nur die jahrelang antrainierte, eiserne Disziplin hinderte ihn daran.

Er beschloss, seine funktionierenden Sinnesorgane besser zu nutzen. Leider war er, wie die meisten Menschen, gewohnt, überwiegend die Augen und Ohren einzusetzen. Geruchs-, Geschmack- und Tastsinn verkümmerten zu günstigenfalls beiläufigen oder nur in gewissen Situationen gewünschten Sensoren. Er musste lernen, mit den Ohren zu sehen und die Nase als zusätzliche Informationsquelle zu benutzen.

Die Umsetzung dieser Erkenntnis gestaltete sich äußerst schwierig. Das letzte Mal setzte der Geruchssinn willkürlich ohne eigenes Zutun ein. Jetzt wollte er ihn gezielt aktivieren und stellte fest, dass er nicht in der Lage war, durch die Nase einzuatmen. Also versuchte er sich den Vorgang bildlich vorzustellen und wartete auf eine Wahrnehmung. Dabei kam er sich ziemlich dämlich vor. Seit wann glaubte er an Suggestion! Aber es funktionierte! Ein feiner, süßlich riechender Duft verfing sich in den Flimmerhärchen, erreichte den Riechkolben, der die Ergebnisse seiner Analyse dem Gehirn meldete. Die grauen Zellen wandelten die Befunde blitzschnell in aus der Werbung geläufige Duftbeschreibungen um: unaufdringlich, zarte Eleganz, betörend, blumig, feminin. Es musste ein Parfum sein, und er kannte diesen Duft. Eine Blume, aber welche, fiel ihm nicht ein. Woher auch. Natur, Pflanzen und Gärten interessierten ihn nicht. Er sah keinen Nutzen darin, die Bezeichnung von Blumen zu kennen! Manchmal kaufte er einen Strauß zum Verschenken, und da reichte es, einen der vielen fertig gebunden im Laden zu wählen.

Auf dem Esstisch in Vasen und als hochaufgesteckte Bouquets nervten sie ihn bloß. Es ärgerte ihn, wenn bei festlichen Anlässen ein solches Gebilde direkt vor seiner Nase stand und ihn daran hinderte, seinem Gegenüber ins Gesicht zu blicken.

Normalerweise könnte er fragen. Der Gedanke beunruhigte ihn, brachte erneut schmerzlich seine derzeitige Eingeschränktheit zu Bewusstsein. Die Vorstellung, dass es so bliebe, ließ ihn schaudern und den Gedanken schnell beiseiteschieben.

Mist, er wollte endlich wissen, wer da verdammt noch mal neben ihm saß, stand oder was immer! Er hatte den übermächtigen Wunsch, zu schreien und seine Faust auf eine Tischplatte zu donnern. Die Unmöglichkeit verspannte seine Muskeln dermaßen, dass sein Körper nach einer Weile kribbelte, als liefen tausende Ameisen darauf herum.

Ärger und Wut waren die einzigen Emotionen, die er in der Regel zuließ. Dass sich dahinter Frustration und Trauer darüber verbargen, dass sein gewohntes Leben zurzeit aufgehört hat zu existieren, verbot er sich einzugestehen. Daran, dass es unwiederbringlich vorbei sein könnte, wagte er erst gar nicht zu denken.

Maiglöckchen! Unerwartet blitzte diese Eingebung in seinem Kopf auf. Der Name der Blume wirkte wie die Zigarette bei dem in die Luft gehenden Männchen aus der seiner Generation bekannten Fernseh- und Kinowerbung. Er entspannte sich auf Anhieb, und das Ameisenkrabbeln ließ augenblicklich nach. Gleichzeitig verspürte er eine unbändige Lust auf eine Zigarette, obwohl er seit über zwanzig Jahren nicht mehr rauchte.

Inzwischen hatte das Schluchzen nachgelassen, er hörte ein geräuschvolles Schnäuzen, was seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Besuch lenkte. Würde er endlich anfangen zu reden?

Stille.

Benutzte Charlotta eigentlich ein Parfüm, welches nach Maiglöckchen roch? Ab und zu brachte er ihr, wenn sie ihn darum bat, bei Flugreisen aus dem Duty-Free Shop ihre Lieblingsmarke mit. Den Namen behielt er jedoch nie und er wusste auch nicht, wonach es duftete. Sie trug ihr Parfüm in der Regel sparsam auf, was er sehr schätzte, denn es war ihm absolut zuwider, wenn Frauen so nach Parfüm stanken, als hätten sie in dem Zeug gebadet. Für ihn kam das einem olfaktorischen Angriff gleich, dem er keinerlei Widerstand entgegenzusetzen vermochte.

Die Person neben ihm übte sich weiterhin in Stillschweigen. Wollte sie etwa die ganze Zeit dasitzen, ohne ein Wort zu sagen? Warum sprach sie nicht mit ihm? Das musste Charlotta sein, dieses Verhalten passte zu ihr. Nur sie brächte es fertig, jetzt, wo er es wünschte, dass sie redete, dazusitzen und es nicht zu tun. Je länger die Stille andauerte, umso überzeugter war er davon. Das Schweigen löste in ihm den Impuls aus, aufzuspringen und seine Frau zu schütteln. Er hasste es, die Beherrschung zu verlieren und war froh, dem Drang nicht folgen zu können.

Plötzlich legte sich eine kühle Hand auf seine Wange, und die Person fing endlich an zu reden.

Vollbremsung

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