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Tag 2 (19.07.2018): Von Juchhöh bis Nordhalben

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km: 55 – 92

Die Nacht im Gasthaus „Juchhöh“ habe ich besser geschlafen als die erste Nacht in Raitschin, trotz starker Geräuschkulisse: Schwerlasttransporter, die auf der Straße vorbeigebrettert sind.

Sehr gutes Frühstück von den Wirtsleuten zubereitet. Der Wirt zeigt uns das Fotoalbum eines ehemaligen Offiziers der DDR-Grenztruppen mit Fotos der Bauarbeiten des Autobahnübergangs 1985-1987. Die west-deutsche Baufirma HOCHTIEF hat mitgebaut.

Start um 8.30 Uhr nach Hirschberg. Serpentinen mit vielen Kanalschächten. Genau wie zwischen Kassel und Landwehrhagen. Erinnerung an meine Bundeswehrzeit Ende der Sechziger Jahre in Kassel. Habe damals keine Sicherheitsstufe bei der Bundeswehr wegen meiner DDR-Verwandtschaft Ersten Grades bekommen.

Hirschberg: ehemalige Lederwarenstadt. Fast das ganze Fabrikareal wurde nach 1990 platt gemacht. Nazikunst aus 1937 in Form von drei überlebensgroßen Arbeiterstatuen sind vor dem Museum ausgestellt.

Fahrt entlang der Saale an Schieferabbau vorbei. Landschaftlich sehr schön. Überquerung der Autobahn bei Rudolfstein, Weiterfahrt über Sparnberg nach Pottiga. Gespräch mit einer älteren Frau: ehemalige Grenzer von Ost und West treffen sich alle 4 Wochen. Herr Oe. aus der BRD organisiere das.


Blick auf die Saale bei Sparnberg

Skywalk-Aussichtsplattform: Gespräch mit W. aus Naila. Sportlicher 80-Jähriger mit E-Mountainbike, früher in der Laufszene aktiv, Berlin Marathon, erzählt von den ersten sieben Zügen mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft („ 260 Menschen in einem Waggon, 6 in jeder Toilette“ ), die er als Eisenbahner Anfang Oktober in Hof hat eintreffen sehen.

Danach eine etwas kürzere Begegnung mit einem ehemaligen DDR-Bürger, der im November 1989 an den Demonstrationen in Plauen teilgenommen hat. Mit Fahne, eher unpolitisch, aber: „ Mielke und die anderen führenden DDR-Politiker hätte man an die Wand stellen sollen!“

Jahre vorher habe ein Freund versucht in den Westen zu fliehen, ein halbes Jahr Haft in Chemnitz, danach Bautzen. Später freigekauft von der BRD. Lange Zeit vorher war er mal in einer Kneipe, als ein 15-Jähriger sagte, dass sie sich demnächst in München bei der Olympiade 1972 treffen würden. Danach musste er zur Staatssicherheit (Stasi) nach Plauen, wo man u.a. versuchte ihn anzuwerben. Später wurde dann das Verfahren eingestellt.


Gespräch mit einem 80-jährigen Zeitzeugen

Fahrt in Pottiga den steilen Berg hoch und dann hinunter nach Blankenstein. Unterwegs am alten DDR-Kino mit großer Deutschland-Fahne vor-bei. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein.

Blankenstein: Beginn des Rennsteigs. Den Berg hoch nach Schlegel, an der Wegespinne aber nach Seibitz ins nächste Tal, mit dem Ergebnis, dass wir Richtung Krötenmühle die Räder einen Berg hochschieben müssen. Durch Wiese und Wald bis an den Kolonnenweg und durch Matsch auf die Westseite zur Krötenmühle. Dort ein Schild mit klarem Hinweis: „ Durchgang auf eigene Gefahr .“ Überall auch Hinweise auf Minen. Ein Mann kommt uns entgegen und weist uns darauf hin, dass wir uns auf Privatgelände befinden. Man kenne sich in der Gegend aber nicht so recht aus. Er kommt aus Stuttgart, wohnt hier seit sechs Jahren. Ich sage nur: „ Du bist also auch ein Flüchtling .“ – Er nickt.

…Dann zurück, eine Stunde weiter auf dem Kolonnenweg Richtung Titschendorf, aber zur Sicherheit biegen wir nach einiger Zeit wieder ab auf die bayrische Landstraße. Dors gewinnt Tsching-Tschong-Tschang. Wieder Berg hoch nach Carlsgrün. Eine freundliche Frau, die uns die Richtung nach Langenbach zeigt. Eigentlich wollen wir heute noch bis Tettau kommen.


Blick aufs malerische Saaletal bei Pottiga

Langenbach: Die Sonne brezelt fürchterlich. 26 Grad im Schatten. Gegen drei bin ich total fertig und muss mich im Schatten erstmal ausruhen. Wir sagen erstmal sicherheitshalber bei Dietrich in Tettau, unserem eigentlichen Ziel heute, ab.

Weiter! Kneipe oben links im Dorf: dort eine radebrechende Brasilianerin, die uns wegen Kuchen zur Bäckerei schickt. Die erweist sich allerdings als geschlossen. „ Obrigado“ und ein Lächeln ist auf ihrem Gesicht zu sehen.

In Heinersberg keine Kneipe, aber ein Ausländer vom Balkan, der sein Auto mit Münchner Kennzeichen belädt, gibt uns sehr nett Auskunft. Die Bevölkerung in Deutschland hat sich halt in den letzten 50 Jahren im Westen verändert. Auf thüringischer und sächsischer Seite gibt es keine Ausländer, höchstens welche aus München …, Leute, die sich nach der Wende im Osten preiswert Haus und Grundstück gekauft haben.


„Achtung Minen“- Hinweisschild bei Klösterle

In Nordhalben am Bahnhof im Tal steht ein Triebwagen wie früher zwischen Kassel und Hannoversch Münden. Erinnerung an die Schulzeit in den 60er Jahren. 10 Minuten, zweieinhalbmal Skat gespielt. Keine Smartphones und gar nichts. Wie haben wir das bloß ausgehalten …?

Dors: „ Hast du keinen Sprit mehr?“ Ich: „ 15 % Steigung schaffe ich nicht mehr.“ Dann aber doch das E-Bike auf Turbo gestellt und ab geht die Post den Berg hoch. Oben kaputt bei der Bäckerin angekommen. Stolz erzählt sie uns von den Aufnahmen zum Film „Der Ballon“ mit Regisseur Bully Herbig, der mit vielen Leuten vom Set in ihrem Café verkehrte. Der Film erzählt die Geschichte der Flucht zweier Familien aus der DDR, die Ende der Siebziger Jahre mit einem Heißluftballon hinüber in den Westen gelangt sind. In der nächsten Zeit soll er in die Kinos kommen.

Wir finden gegen fünf Uhr nachmittags Unterkunft in der „Post“ in Nordhalben. Ich bin richtig kaputt und schlafe erst einmal ein. Dors weckt mich. Ein kaltes Bier und dann gegen Abend, als es etwas frischer wird, über Stock und Stein durch den Wald hinauf nach Titschendorf. Dort begegnen wir einem Mann, der gerade grillen will. Er gibt eine nette, zunächst recht knappe Antwort. Später fängt er an zu erzählen: Er war selbst DDR-Grenzer, 1967 bei den Grenztruppen in Titschendorf, das wie in einem fast zugebundenen Sack umzingelt war, nach drei Seiten ringsum die BRD. Er berichtet von seiner Zeit bei der Armee.

Ich kann mich gut in ihn hineinversetzen, weil ich 1967 auch beim Militär war, allerdings bei der Bundeswehr. Er erzählt von der harten Grundausbildung und einem DDR-Grenztruppenoffizier, der mit dem System nicht mehr klarkam und geflohen ist. Bei dem Versuch, kurze Zeit später seine Familie nachzuholen, wurde er von den Grenztruppen festgenommen und verurteilt, 1960 dann soll er in Leipzig geköpft worden sein. Wie mag es der Familie wohl gegangen sein? Eine deutliche, brutale Warnung für andere, die mit dem Gedanken an eine Republikflucht spielten. Es folgte ein längeres Gespräch vor seiner Haustür über die Jahre in Ost und West. Nach der Wende hat dann mein Gesprächspartner in Nordhalben in der Metzgerei gegenüber dem Gasthaus, in dem wir Unterkunft gefunden haben, 20 Jahre lang gearbeitet.

Danach zurück zur „Post“: Schaschlik-Tag. Es schmeckt uns gut. Ein fränkischer Rotwein und eine Flasche Wasser dazu. Ausgleich des Flüssigkeitsverlusts. – Gespräch über den 1. FC Nürnberg, die Clubberer, und Arminia Bielefeld mit einem Mann vom Nachbartisch, jedoch auch über DDR-Geschichte. Geschichtsunterricht etc. („ Thälmann: ja, wurde behandelt. Judenverfolgung im 3. Reich: nein“ ). Der 63-jährige Mann arbeitet bei der Bank und ist ein passionierter Fahrradfahrer. Würde gerne auch mal so eine Tour machen. Zum Thema Flüchtlinge: in seiner evangelischen Gemeinde wurde schon viermal Kirchenasyl gewährt. „ Menschlichkeit ist notwendig in den heutigen Zeiten. Die aktuelle Völkerwanderung werden wir eh nicht stoppen können.

Ein anderer Gast, ursprünglich aus Cottbus (dem „ Mittelpunkt des früheren deutschen Reiches“ ), hat sieben Jahre in der Nähe von Böblingen bei Stuttgart gearbeitet, ist aber auf Dauer mit der Mentalität der Schwaben nicht zurechtgekommen und dort immer ein Fremder geblieben. Deshalb ist er mit Frau und siebenjährigem Kind nach Nordhalben gezogen und hat ein Haus direkt neben der Gaststätte gekauft. „ Preiswert im Verhältnis zu Stuttgart !“ Er gehe gerne auf Menschen zu, spricht auch von seinem Besuch beim Fanklub der Münchner Löwen. Dann folgt eine kontroverse und emotionale Diskussion zwischen den beiden Männern über die heutige Flüchtlingspolitik. Die SPD wolle den Kapitän eines Rettungsschiffes ehren. – Totales Unverständnis und Ablehnung.

Grenzgänger

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