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2.

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Doro war immer noch wütend, während sie die restlichen Beeren abnahm und dann Marmelade daraus kochte. Wütend auf den herrischen Kerl, der ihr neuer Chef war, weil er sie beschimpft und beschuldigt hatte. Wütend auf den Bürgermeister, der Theo nicht informiert hatte. Wütend auf ihren Bruder Luis, der Viki die spitzen Pfeile und den Bogen gemacht hatte und schließlich wütend auf sich selbst, weil sie dagestanden war, wie ein dummes Schulmädchen, ohne sich zu wehren. Wie er so plötzlich vor ihr aufgetaucht war, groß und aufgebracht, die hellbraunen Haare vom Wind zerzaust und sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen anfunkelte, war er ihr selbst wie ein nordischer Krieger erschienen. „Er ist nur ein Mann und er hat kein Recht mich zu beschimpfen“, murmelte sie mehrmals wie eine Beschwörungsformelvor sich hin. Gerade, als müsste sie sich selbst davon überzeugen. Als die Marmelade in Gläser abgefüllt war, die sie auch von ihrer Vorgängerin geerbt hatte, ging Doro ins Wohnzimmer. Dort saß Viki auf dem alten braunen Spannteppich und wickelte mit Hingabe Klebeband um die Pfeile, deren Spitzen sie vorher mit der Baumschere abgeschnitten hatte. Damit sollte der große Boss zufrieden sein. „Ja, so ist es gut“, lobte Doro ihren Sohn. „Nimmt mir der große Mann die Pfeile jetzt nicht mehr weg?“, fragte der Kleine zweifelnd. „ Du darfst nicht mehr auf ihn schießen, sonst sind sie weg“, ermahnte ihn seine Mutter, „und auf andere Menschen auch nicht.“ Viki nickte. „Komm, wir gehen zu Oma und holen unsere restlichen Sachen.“ Das klang in Vikis Ohren gut. „Darf ich dann mit dem Traktor mitfahren?“, fragte er eifrig. „Bestimmt“, versprach Doro. Bis zu ihrem Elternhaus war es nicht weit. Sie war in einem der Bauernhöfe mitten im Dorf aufgewachsen. Einst war es ein stattliches Haus gewesen, aber inzwischen wirkte es heruntergekommen. Ihre Mutter schämte sich schon lange dafür, aber durch die angeschlagene Gesundheit des Vaters hatte das Geld nie für zusätzliche Ausgaben gereicht. Jetzt wollte ihr Bruder das ganze Haus isolieren und mit neuen Holzschindeln anschlagen. Dann würde es in neuem Glanz erstrahlen. Ihre Mutter freute sich sehr darüber und auch Doro fand es gut. Bis zur Hochzeit im Herbst gab es noch viel zu tun und die ganze Familie musste zusammenhelfen. Luis, der Tischler, machte schon seit Wochen Fenster und Läden. Sein Chef erlaubte ihm, nach Feierabend noch in der Werkstatt zu arbeiten. Gerd, der Elektriker würde sich um den Strom kümmern. Hedwig, ihre älteste Schwester nähte die vielen neuen Vorhänge, für die ihre Mutter schon den ganzen Winter über wunderschöne Spitzen nach den alten Mustern der Familie gehäkelt hatte. Sie selbst würde beim Kochen, Putzen und in der Landwirtschaft helfen. Nur Annabell, die Jüngste der sechs Geschwister, war fein heraus. Sie arbeitete im Moment in der Filiale im Nobeltourismusort Lech als Frisörin. Sie würde erst zur Hochzeit kommen. Hoffentlich zertrampelten die Männer nicht alle Blumen, die sie vor dem Haus gepflanzt hatte, ging es Doro durch den Kopf. Wie immer galt ihre Fürsorge ganz besonders den Pflanzen.

Als sie beim elterlichen Hof ankamen, fuhr Alwin den Traktor mit Anhänger vor die Haustür an der Seite des Hauses. Die meisten ihrer Habseligkeiten hatte Doro schon in Schachteln verpackt und im „Schopf“, der Veranda an der Seite des Hauses, gestapelt. Nachdem sie die Einzige in der Familie war, die alte Möbel mochte, bekam sie die alten Betten, zwei Kleiderschränke, Tische, Stühle und Kommoden. Damit konnte sie die Schulwartwohnung fertig einrichten, nachdem die Küche und das Wohnzimmer bereits möbliert waren. Doro freute sich riesig darauf und konnte es kaum noch erwarten. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie mehr als ein Zimmer für sich und Viki. Mit vereinten Kräften luden Alwin und Doro die kleineren Möbel auf den Anhänger. Alles über die steile Treppe nach unten zu tragen war Schwerarbeit. Alwin wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste seine Schwester an: „Für so eine dürre Bohnenstange bist du ziemlich stark.“ „Du auch“, gab sie zurück, denn auch ihr Bruder war groß und hager. Wie versprochen durfte Viki bei seinem Onkel auf dem Traktor sitzen, von wo aus er Doro strahlend zuwinkte. Sie selbst verabschiedete sich noch von ihrer Mutter, die ihr ein großes Stück Bergkäse einpackte. Im Tal war es nicht üblich, sich beim Abschied zu umarmen, man gab sich höchstens die Hand. Oft hing neben der Tür auch ein Weihwasserkessel und die Mütter machten ihren Kindern ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Das tat Martha, Doros Mutter, jetzt auch. „Ich wünsche dir viel Glück und Segen in deinem neuen Heim“, sagte sie leicht gerührt. „Danke Mama“, lächelte Doro. Dann lief sie ums Haus, holte ihr Fahrrad und sauste Richtung Schule. Alwin war schon dabei, die Schachteln in die Wohnung zu tragen. Wie sie es von zu Hause gewohnt war, hatte Doro die Haustür nicht zugesperrt. „Versprich mir, dass du in der Nacht die Tür zusperrst, Doro“, mahnte Alwin, „die Schule steht doch etwas abseits.“„Ja, ja“, versicherte sie leichtfertig, „uns wird schon niemand stehlen und unsere wertvollen Möbel auch nicht.“ Alwin schaute schmunzelnd auf das Sammelsurium aus alten Sachen. „Mit den Möbeln könntest du Recht haben.“

Die Schulwartwohnung bestand aus einem kleinen Vorraum, von dem aus man direkt ins Wohnzimmer kam. Rechts führten drei Türen in ein größeres und zwei sehr kleine Schlafzimmer, auf der anderen Seite befanden sich die Küche, das Badezimmer und ein Abstellraum. Über das eigene Badezimmer freute sich Doro am meisten. Endlich konnte sie heißes Wasser verbrauchen, so viel sie wollte, und sich am Abend ein heißes Bad gönnen, wenn ihr von der schweren Arbeit alles wehtat. „Warum nimmst du das große Zimmer nicht für dich?“, riss Alwin seine Schwester aus ihrem Traum vom heißen Bad. „Ich möchte, dass Viki es hell und freundlich hat und im Zimmer auch spielen kann. Für mich ist das kleine Zimmer groß genug und das dritte nehme ich als Arbeitszimmer zum Bügeln und zum Malen. „Dass du ein Arbeitszimmer hast, finde ich gut“, stimmte ihr Bruder zu, „aber du solltest Viki nicht so verwöhnen. Immer steckst du selbst zurück.“ Doro schob trotzig ihr Kinn vor: „Ich will, dass er alles hat, was er braucht.“ „Das hat er bestimmt“, lenkte Alwin gutmütig ein. Nur einen Vater, der ihm Grenzen setzt und ihm Halt gibt, hat er nicht, dachte er und spürte den alten Zorn hochkommen, der ihn jedes Mal überkam, wenn er an den Mann dachte, der seine kleine Schwester verführt und dann sitzen gelassen hatte. Mit Doro konnte man über den „tollen Richard“, ihren früheren Chef, nicht reden. In ihren Augen war er noch immer ein Held. Dass er sie nicht heiraten konnte, war allein die Schuld seiner tyrannischen Ehefrau. So ein Schwachsinn! „Was machst du, wenn du einen Verehrer hast, wo soll der dann schlafen?“, stichelte Alwin. „Jedenfalls nicht bei mir“, konterte Doro wie aus der Pistole geschossen. Ihr Bruder lachte und zwinkerte ihr zu: „Sag niemals nie!“ Worauf sie nur verächtlich schnaubte. „Wir stellen die Möbel einfach in die Mitte der Zimmer“, schlug Doro vor. „Der Bürgermeister hat versprochen, dass Franz die Wohnung noch ausmalt. Dann kann er die Möbel zudecken und ich schiebe sie einfach an die Wand, wenn er fertig ist. Alwin runzelte sie Stirn. „Du hättest wohl noch ein paar Tage daheim wohnen können, bis hier alles fertig ist. Jetzt sieht es so aus, als würde ich dich hinauswerfen.“ „Nein, es ist besser so. Dann muss ich nicht immer hin und herlaufen und Viki kann hier spielen.“ Alwin seufzte. Wenn sich Doro etwas in den Kopf setzte, konnte man sie kaum davon abbringen.

Bald waren alle Schachteln und Möbel in der Wohnung und Alwin fuhr auf den Hof zurück. Doro kochte für Viki und sich selbst Nudeln mit Käse und Gurkensalat. Nach dem Essen ging sie vors Haus, um das kümmerliche Blumenbeet auf Vordermann zu bringen. An Pflanzen fehlte es nicht, nur leider wurde das meiste von Unkraut überwuchert. „Viki, komm, du kannst mir mit dem Traktor den Kompost wegführen“, lockte sie ihren Sohn ins Freie. Das ließ sich Viktor nicht zweimal sagen.Der große Spielzeugtraktor zum Treten war sein ganzer Stolz. Er hatte ihn von seinem Vater zum fünften Geburtstag im Juni bekommen. Richard zahlte die Alimente pünktlich und der Bub bekam immer zum Geburtstag und zu Weihnachten ein Geschenk, aber mehr Kontakt wollte er nicht. Im Moment war Viki damit zufrieden und erzählte jedem stolz, dass er den Traktor von seinem Vater habe. Mit flinken, geübten Fingern riss Doro Unkraut aus und warf es in einen Eimer, den sie im Abstellraum gefunden hatte. Viki kippte den Inhalt des Eimers auf seinen Anhänger und führte ihn zu dem Komposthaufen an der Grenze zum Kindergartengrundstück, wo Theo auch den Rasenschnitt hingeworfen hatte. Von ihm war zum Glück nichts mehr zu sehen und sein Fahrrad war auch weg. Doro hatte kein Bedürfnis, ihm so schnell wieder zu begegnen. Wie immer beruhigte und erfreute sie die Arbeit mit den Blumen. „Bald geht es dir besser, meine Schöne“, raunte sie leise einem Fleißigen Lieschen zu, während sie behutsam die Erde auflockerte und die zarten Triebe zurücklegte. Zwischendurch lobte sie Viki, der seinen Job als Gärtner sehr ernstnahm. Als alles Unkraut entfernt und entsorgt war, wusch Viki mit der kleinen Plastikgießkanne seinen Traktor und Doro düngte ihr Blumenbeet. Im Abstellraum hatte auch ein Sack mit Blumendünger gestanden. Zufrieden betrachtete Doro ihr Werk und schaute dann lächelnd ihrem kleinen Sohn zu. „Magst du ein Glas Milch und ein Marmeladebrot?“, fragte sie ihn. „Himbeermarmelade?“, wollte er wissen. „Ja, frisch von heute Vormittag.“ Viki nickte begeistert. Geschickt parkte er sein Fahrzeug unter dem kleinen Dach vor der Tür und folgte seiner Mutter ins Haus. Diese stellte Brot, Butter und Marmelade auf den Tisch und schenkte ihnen beiden ein Glas Milch ein. Zu Hause aßen sie immer um halb fünf Uhr eine Jause, bevor sie in den Stall gingen und so würde es wahrscheinlich auch bleiben, dachte Doro. Für Viki war das zugleich sein Abendessen und sie selbst würde später noch eine Tasse Tee oder Kakao trinken und eine Kleinigkeit essen.

Doro spülte gerade das Geschirr, als es an der Haustür klingelte. „Holla“, ertönte gleich darauf eine Männerstimme. „Doro, bist du da?“ Nachdem die alten Häuser keine Haustürglocken hatten und die Türen fast nie verschlossen waren, klopften die Leute für gewöhnlich nur an, traten ein und riefen, um sich bemerkbar zu machen. Als sie aus der Küche trat, stand Franz, der Gemeindearbeiter, im Wohnzimmer. Doro konnte ihn gut leiden. Neben seiner Arbeit für die Gemeinde betrieb er mit seiner Frau Alma eine kleine Landwirtschaft. Er und Alwin halfen sich öfter gegenseitig aus. „Tag Franz“, begrüßte ihn Doro. „Franz, komm, ich zeig dir mein Zimmer“, brüllte Viki, sobald er den Besucher erblickte und zerrte ihn schon Richtung Schlafzimmer. Im Moment standen das Bett und eine Kommode mitten im Zimmer. „Hier schlafe ich und da malt mir Mama ein großes Schiff“, erklärte der Kleine stolz und deutete auf die Wand neben der Tür. „Gut, gut“, nickte Franz, „deine Mama macht das bestimmt ganz prächtig, wo sie doch eine richtige Künstlerin ist.“ „Na ja, ich weiß nicht“, wehrte Doro leicht verlegen ab, „normalerweise male ich nicht in dieser Größe. Aber im Notfall übermalen wir es eben.“ „Wie willst du denn die Wände?“, erkundigte sich Franz. „Die eine hellblau und die anderen weiß“, meinte Doro. „Nein, alle blau. Blau ist meine Lieblingsfarbe“, rief Viki und seine Mutter zuckte die Achseln. „Gut, dann alles blau.“ Franz runzelte die Stirn: „Du musst Viki nicht immer seinen Willen lassen.“ „Es ist sein Zimmer. Er soll sich wohlfühlen.“ Viki verlor das Interesse an seinem Zimmer und zog Franz weiter. „Komm, ich zeig dir Mamas Zimmer.“ Als Franz den kleinen Raum sah, den Doro für sich selbst vorgesehen hatte, verfinsterte sich sein Gesicht, aber er sagte nichts mehr. „Dieses hier weiß und das nächste auch, wenn es geht“, bat Doro. „Freilich geht es“, sagte Franz und schwang Viki hoch über seinen Kopf, bis der Kleine jauchzte. Er kannte die beiden und wusste, dass es kaum möglich war, in Ruhe ein paar Worte mit Doro zu wechseln, wenn ihr Sohn in der Nähe war. Sie war völlig machtlos, wenn er alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. Franz, der selbst drei Kinder hatte, wusste sich zu helfen. „Sonst noch etwas?“, fragte er und sah sich um. Die großgemusterte, braun-beige Tapete im Wohnzimmer war scheußlich und er rümpfte die Nase. „Die musst du leider zuerst herunterreißen, bevor wir malen können.“ Doro nickte und winkte ab: „Im Moment habe ich keine Zeit dafür. Vor der Hochzeit gibt es noch viel Arbeit.“ „Gut, dann bis morgen, ihr beiden“, sagte Franz, stellte Viki zurück auf den Boden und ging.

Doro spazierte mit Vikizum Hof, um frische Milch zu holen. Anschließend setzte sie ihn in die Badewanne, ließ ihn eine Weile planschen und brachte ihn dann zu Bett. Nach diesem ereignisreichen Tag fielen ihm gleich die Augen zu und er schlief sogar ohne Gutenachtgeschichte ein. „Doro beugte sich über ihn und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. „Schlaf gut, mein Schatz“, flüsterte sie. Im Badezimmer füllte sie die Wanne mit heißem Wasser etwas auf, gab noch ein wenig Kinderschaumbad dazu und blieb im Wasser liegen, bis es kalt wurde und sie zu frösteln begann. Dann schlüpfte sie in ihren alten Frotteebademantel und ging in die Küche, um sich Kakao zu kochen. Während sie die Milch erhitzte, schlug Doro sie mit dem Schneebesen schaumig, denn mit einer kleinen Schaumkrone schmeckte der Kakao nochmal so gut. Dann schaltete sie das kleine Radio ein und suchte nach der Schachtel mit den Malutensilien. Auf der Suche nach einer Verdienstmöglichkeit hatte sie begonnen, kleine Ölbilder mit Motiven aus der Gegend zu malen. Luis machte ihr helle Holzrahmen dazu und Annegret im Souvenirladen verkaufte sie. Auch Karten mit Blumenmotiven ließen sich gut verkaufen. Doro hatte immer schon gerne gemalt und dass sie jetzt sogar Geld damit verdienen konnte, freute sie besonders. In den letzten beiden Jahren, als sie kein Karenzgeld mehr bekommen hatte, war sie sehr froh darum gewesen. Zu Hause hatte sie für Kost und Unterkunft gearbeitet. Mit der Kinderbeihilfe und den Alimenten, die Vikis Vater zahlte, musste sie alle sonstigen Ausgaben bestreiten, also war ihr jedes zusätzliche Verdienst willkommen. Doro suchte einige Postkarten aus, von denen sie ihre Motive abmalte und vertiefte sich in die Arbeit. Sobald sie malte, vergaß sie alles um sich herum und als sie zufällig auf die alte Küchenuhr schaute, war es schon nach Mitternacht. Sie streckte ihren schmerzenden Rücken und rieb sich die Augen. Vier kleine Bilder lagen fertig zum Trocknen auf dem Tisch. Flink säuberte sie die Pinsel mit Terpentin, formte die Borsten sorgfältig zu Spitzen und ging ins Badezimmer.

Am Morgen war sie ein wenig benommen, als Viki sie um halb sechs Uhr weckte, aber ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es Zeit war, aufzustehen. Sie hatte Alwin versprochen, ihm bei der Heuarbeit zu helfen. Vorher wollte Viki noch sein Frühstück und sie musste zum Bäcker, um frisches Brot für Franz zu holen. Kurz vor sieben kam dieser mit Farbe, Leiter und Rollen. Doro sagte ihm, er solle sich Brot, Butter und Käse nehmen, wenn er Hunger habe, und ging mit Viki zum Hof. „Lass die Haustür einfach offen, wenn du gehst, bevor ich zurück bin“, rief sie ihm noch zu und war weg.

Theodor, Geschenk der Götter

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