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Kapitel 6

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Es war noch dunkel, als Sophie voller Elan aus dem Bett stieg. So gut wie in ihrem kleinen Haus hatte sie in all den Jahren nicht geschlafen.

Molly wollte es endlich mal wieder wagen, nach draußen zu gehen. Als Sophie die Tür aufmachte und in den klaren Sternenhimmel sah, stürzte Molly aus dem Haus und verschwand um die Ecke.

Nach einem ausgiebigen Frühstück packte Sophie liebevoll ihre Geschenke ein. Bei Sarah und Friedrich brannte schon Licht. So lief sie schnell mit dem Geschenk für Emma hinüber, damit Friedrich es unter den Tannenbaum legen konnte. Emma sollte ja glauben, dass der Weihnachtsmann die Geschenke gebracht hatte, während sie in der Kirche waren. Sarah werkelte bereits guter Dinge in der Küche und es roch verlockend nach Kuchen. Friedrich schmückte stillvergnügt in aller Ruhe den Tannenbaum, die Pfeife immer in Reichweite.

Molly wartete schon ungeduldig, die Nase platt vor der Tür und hob vor Ungeduld und wegen der Kälte abwechselnd ihre Pfoten hoch. Sie schoss wie ein Flitzbogen ins Haus, als Sophie die Tür aufgemacht hatte. Mit großem Appetit fraß sie ihren Napf leer, putzte sich ausgiebig, sprang auf die Fensterbank in der Stube und beobachtete das rege Leben beim Vogelhaus im Vorgarten. Es war noch viel Zeit bis zum Mittag und sobald es heller wurde, zog Sophie sich warm an. Vor dem Haus blieb sie stehen und sog die klare, kalte Luft ein. Sie wandte sich nach links, dort führte ein langer Sandweg aus dem Dorf heraus, der bis um den großen See herum führte. Ihr Haus war das zweitletzte auf der linken Seite, dann kam nur noch der Bauernhof der Familie Bredehöft. Auf der gegenüber liegenden Seite waren Wiesen und ein Stück weiter kam sie am Reiterhof vorbei. Der Hof gehörte Erwin Langen, einem Cousin ihres Vaters. Erwin war früher ein bekannter Trabrennfahrer gewesen. Er züchtete auch heute noch Traber. Wann immer das Wetter es zuließ, fuhr er im Sulky auf dem Sandweg um den See herum.

Der Reiterhof war immer ein wenig unordentlich, aber sehr gemütlich gewesen. Sophie erinnerte sich an die Zeit, als ihr Pony dort eingestellt war. Als Jugendliche hatte sie viele schöne Stunden dort verbracht. Die Pferde wurden gut versorgt und große Weiden standen als Auslauf und im Sommer zum Grasen zur Verfügung. Die Zahl der Pensionspferde war sehr gestiegen und Erwin hatte eine Reithalle bauen müssen, um den wachsenden Ansprüchen der Einsteller gerecht zu werden.

In Gedanken versunken blieb sie vor dem Reiterhof stehen. Lily hatte ihr Pony bekommen, als Sophie ihr Studium in Hamburg aufgenommen hatte. Was wohl aus Wildfang geworden ist, dachte sie und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nie mehr nach ihm gefragt hatte. In ihr war nur der Schmerz gewesen, der keinen Raum für etwas anderes gelassen hatte. Ihren Mann hatte sie gehasst für das, was er ihr angetan hatte. Aber sie war kein Mensch, der auf ewig hassen konnte. Aus dem Hass hatte sich eine hilflose Verachtung entwickelt. Hilflos, weil sie nicht wusste, wo er mit ihrem Sohn hingegangen war. Hilflos, weil seine Spur im Sand verlief und sie keinen Ansatz fand, um selbst etwas zu ändern.

Erwins Tochter Margot war für den Reitbetrieb zuständig und ihr Bruder Frank besorgte den landwirtschaftlichen Bereich des Hofes. Er war glücklich, wenn er mit seinem Traktor über die Felder ackern konnte. Entschlossen ging Sophie weiter und kam flott auf dem geräumten Weg voran. Dies war sicher Frank zu verdanken, der mit einem großen Räumschild die Wege frei geschoben hatte.

Bis zum See waren es bestimmt fünf Kilometer. Die Wäldchen, Wiesen, Äcker und der See bis weiter zum Fluss waren als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen. Sophie beobachtete Greifvögel, die hier noch in ausreichender Zahl existieren konnten, und mehrere Rehe. Sie erinnerte sich daran, dass ihr auch früher schon bei jedem Ausritt mindestens ein Reh oder ein Hase begegnet war. Wildgänse machten Rast in diesem Gebiet und Kraniche lebten hier. Beim gleichmäßigen Ausschreiten und Beobachten der schönen und noch intakten Natur lösten sich ihre Spannungen, die sich bei den Gedanken an ihren Mann sogleich eingestellt hatten. Die Sonne schien und ließ den Schnee und Sophies Augen funkeln. Der Wind pfiff scharf über die Felder und zauberte rote Wangen. Sophie fühlte sich glücklich. Das passierte zu ihrer eigenen Verwunderung öfter, seit sie wieder zu Hause war, seit sie die Zukunft einfach auf sich zukommen ließ. Auch Hoffnung und eine Zuversicht, dass sie ihren Sohn David finden würde, die ihrer Meinung nach völlig unbegründet waren, überkamen sie. Als Oma Birnbaum mit ihr gesprochen hatte, war die Zeit reif dafür gewesen, ihr Leben zu ändern, und reif für ein bisschen Glück.

So war der Vormittag mit allerlei Beschäftigungen vergangen. Molly wurde ausführlich gebürstet und schnurrte zufrieden, als Sophie sie gefüttert hatte. Anschließend genoss Sophie ein heißes Bad, fönte ihr Haar, bis es glänzte und schminkte sich sorgfältig, aber dezent. Sie zog ein grünes Jackenkleid aus reiner Wolle an, das sie bisher noch nicht getragen hatte.

Bevor sie ging, betrachtete sie sich im Spiegel. Der blaue Lidschatten machte ihre blaugrauen Augen größer. Rouge und Lippenstift gaben ihr ein frisches, gesundes Aussehen. Das Jackenkleid hatte gerade die richtige Länge und brachte ihre schön geformten, schlanken Beine in den hochhackigen Pumps so richtig zur Wirkung. Sie drehte sich um sich selbst, dass der Glockenrock um ihre Beine schwang, und war mit ihrem Anblick zufrieden.

Sophie überlegte, ob sie den kurzen Weg in den Pumps zurücklegen sollte, aber dann steckte sie sie in die Tüte mit den Geschenken und zog ihre gefütterten Stiefel an. Handschuhe und Mütze wanderten ebenfalls in die Tüte. Sie streichelte Molly, die sich auf der Küchenbank niedergelassen hatte, und verließ das Haus.

Lily empfing Sophie in ihrem Elternhaus und die Wärme und Leichtigkeit, die von Lily ausgingen, bezauberten sie sogleich wieder. Aber davon bemerkte Lily nichts, als sie Sophie beide Hände entgegenstreckte und sie ins Haus zog.

„Komm rein, wir wollen gleich essen.“

Hinter Lily hüpfte Emma wie ein Gummiball und rief: „Tante Sophie, Tante Sophie.“

Sophie hockte sich hin und reichte Emma die Hand. „Hallo, Emma, du bist ja wieder ein Stück gewachsen.“ Nach ihrem ersten Freudenausbruch schmiegte Emma sich schüchtern an Lilys Bein. Zwar gab sie Sophie die Hand, aber dann war sie erst mal still.

„Sie hat dich lange nicht gesehen. Deshalb hält sie sich erstmal zurück.“

Sarah steckte ihren Kopf aus der Küche und begrüßte Sophie. Ihr Gesicht war ein bisschen rot und glänzte vom Kochen und Braten.

„Sagt Papa schon mal Bescheid. Wir wollen essen.“

Sophie zog ihre Stiefel aus und die Pumps an und begrüßte Friedrich, der im Lesezimmer ungeachtet des Trubels im Flur in seinem Sessel saß und las.

„Na, dann wollen wir mal sehen, was Sarah gezaubert hat“, sagte er zufrieden und stand auf.

Das Esszimmer war festlich geschmückt. Auf blütenweißer Damasttischdecke hatte Sarah die alten Goldrandteller, die silbernen Bestecke und die schweren Kristallgläser aufgedeckt. Lily setzte Emma schon mal hin und Friedrich nahm neben seiner Enkelin am Kopfende Platz. Lily und Sophie trugen den knusprigen Gänsebraten, Apfelmus, Rotkohl, Kartoffeln und die von Sarah besonders lecker zubereitete Soße ins Esszimmer. Friedrich stand noch mal auf, brachte einen gekühlten Roséwein und schenkte die Gläser voll.

„Wer fährt denn nachher zur Kirche“, fragte Sophie.

„Da mach dir mal keine Sorgen. Wir fahren alle zusammen hin“, sagte Sarah und konnte sich ein geheimnisvolles Schmunzeln nicht verkneifen.

Das ist keine Antwort auf meine Frage, dachte Sophie. Aber sie gab sich damit zufrieden. Friedrich hob sein funkelndes Glas, blickte in die Runde und sagte: „Auf ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest.“

Emma hatte Saft in ihrem etwas kleineren Glas und führte es vorsichtig an den Mund. Sie ist zum Knuddeln mit ihren dunklen, lockigen Haaren, den braunen Samtaugen und den roten Pausbäckchen, dachte Sophie. Mit David konnte ich nicht erleben, wie er die ersten Sätze sprach, ich konnte nicht mit ihm lachen und spielen und ihn nicht trösten, wenn er krank oder traurig war, diese Zeit hat er mir gestohlen, dachte Sophie und eine plötzlich aufkeimende Wut ließ sie herausplatzen: „Dieser Verbrecher!“ Alle sahen Sophie betroffen an und ihr wurde bewusst, dass sie das Letzte laut ausgesprochen hatte.

„Wer ist ein Verbrecher, Tante Sophie?“, fragte Emma und balancierte das Glas wieder auf den Tisch.

„Ach, niemand den du kennst, mein Schatz.“

„Ich wünsche Guten Appetit. Bitte, bedient euch.“ sagte Sarah. Erleichtert, dass diese Klippe umschifft war und Emma für weitere Fragen der Wind aus den Segeln genommen war, luden sich alle die Teller voll. Lily schnitt für Emma ein Stück Gänsebraten klein und schob es auf ihren Teller.

„Ich will Apfelmus essen wie Opa. Rotkohl mag ich nicht.“, sagte Emma und schob sich ein Stück Fleisch in den Mund.

„Übrigens, ich bin heute Morgen noch spazieren gegangen. Richtung See und bin am Reiterhof vorbei gekommen. Was ist eigentlich aus Wildfang geworden?“

„Wildfang ist mein Pony“, sagte Emma mit vollem Mund. „Mama geht mit mir zum Reiten und wir sind schon bis zum See geritten.“

Sophie schaute Lily fragend an und diese nickte. „Er ist inzwischen ganz schön alt, aber noch kerngesund. Das richtige Pony für Emma.“

„Emma, wenn du willst, kann ich auch mal mit dir zum Reiten gehen, wenn Mama keine Zeit hat. Sie muss sich ja bald mehr ausruhen, wenn das Baby immer größer wird.“

Emma nickte ernsthaft.

„Du kannst ja Morgen mit mir zu Wildfang gehen.“

„Nein, das geht nicht Emma. Ach, Sophie, das haben wir dir ja noch gar nicht erzählt. Papa und Sarah bringen Emma und mich Morgen zu meiner Schwiegermutter nach Lübeck und holen uns Neujahr wieder ab.“

„Ja, wir fahren zu Oma Friederike, weil die so allein ist, weil Opa gestorben ist. Ich bin oft traurig, wenn ich an ihn denke. Heute Nacht habe ich einen Kuss zu ihm zu den Sternen hinaufgeschickt.“

„Heute Nacht?“ fragte Lily. „Bist du etwa ganz allein zur Toilette gegangen?“

„Ja, und dann habe ich an Opa gedacht.“

Sophie war erstaunt und gerührt, wie Emma mit diesem schwierigen Thema umging und so lieb an ihren Opa dachte.

„Sophie“, sagte Sarah, „es tut mir leid, aber du bist die beiden Weihnachtsfeiertage und Sylvester und Neujahr dann ganz allein hier.“

„Friederike möchte uns gern ein paar Tage bei sich haben“, sagte Lily, griff zur Schale mit den Kartoffeln, und fuhr fort:

„Ich muss ehrlich sagen, in dem großen Haus möchte ich auch nicht allein wohnen. Weißt du, es ist eine richtige alte Stadtvilla. Du kannst auch gern mitkommen, Friederike hat es ausdrücklich gesagt.“

„Lieber nicht, wer soll sich dann um Molly kümmern?“ Sie sah zu Friedrich auf. „Außerdem, Papa, ich liebe mein kleines Haus und ich werde es mir hier gemütlich machen. Es macht mir nichts aus, allein zu sein.“

Friedrich hob sein Glas und lächelte in die Runde.

„Dann ist ja alles gut. Der Bereitschaftsdienst ist geregelt. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.“

Emma schob die letzten Bissen in den Mund und kaute eifrig.

„Opa, wo sind eigentlich Tante Wilmas Gänse? Ich hab die lange nicht mehr gesehen.“

Wilma Bredehöft war die Bäuerin vom Hof neben Sophies Haus und zog jedes Jahr eine Schar Gänse auf, die den ganzen Sommer draußen gehalten wurden.

Opa überlegte und sagte dann zu Emma: „Sicher hat sie die Gänse in den Stall gebracht, weil es so geschneit hat und es ist ja auch ganz kalt draußen.“

„Warum ist es zu kalt für die Gänse und für Enten nicht? Mama hat gesagt, dass Enten ganz heiße Füße kriegen, wenn es kalt wird. Sonst würden sie auf dem Eis festfrieren.“

Sophie schaute Lily an, die mühsam ihr Lachen unterdrückte. Friedrich wusste nicht, was er Emma sagen sollte.

„Opa, weißt du, was ich glaube? Tante Wilmas Gänse sind alle tot.“

Alle sahen sich an. Lily nahm die Hand ihrer kleinen Tochter.

„Weißt du, Emma, sie haben wenigstens ein schönes Gänseleben gehabt, sie konnten den ganzen Sommer und auch den schönen Herbst draußen Gras fressen und schnattern, so viel sie wollten. So gut haben es nicht alle Gänse. Und du wirst sehen, im Frühjahr hat Tante Wilma wieder viele wollige kleine Gänseküken.“

Emma nickte ernsthaft und Sarah lenkte das Thema in eine andere Richtung: „Als Nachtisch gibt es Vanillepudding mit Saft oder Schokoladenpudding mit Vanillesoße.“

„Sarah, ich möchte Schokoladenpudding mit Saft.“

„Seltsame Kombination“, wagte Friedrich zu bemerken.

„Aber klar, Emma“, sagte Sarah „wir räumen eben das Geschirr in die Küche. Hilfst du mir?“

Emma rutschte bereitwillig vom Stuhl und die Frauen standen auf und brachten das Geschirr und die Reste in die Küche. Emma verteilte mit sorgfältigem Ernst die Glasteller für den Pudding. Sarah wurde ganz verlegen, als sie für ihre Kochkünste gelobt wurde, und leichte Röte überzog ihre Wangen. Alle waren satt und Sophie fühlte sich vom Wein leicht benebelt.

Lily saß weit zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und streichelte mit ihren schlanken, mit feinen Adern überzogenen Händen mit den langen, rot lackierten Fingernägeln ihren Bauch. „Ich glaube, ich habe zu viel gegessen“, stöhnte sie.

Sarah schlug Lily vor: „Du legst dich im Lesezimmer aufs Sofa und ruhst dich aus. Wenn Emma will, kann sie sich ja dazu legen. Heute Abend wird es ja auch für dich spät, Emma.“

„Darf ich aufbleiben, so lange ich will?“ kam es prompt von Emma.

„Ja, heute, weil Heiligabend ist“, sagte Lily lächelnd. „Und nun legen wir uns ein bisschen hin.“

„Bald müssen wir ja auch schon wieder los, wenn wir in den ersten Gottesdienst wollen. Der fängt schon um drei Uhr an. Danach trinken wir hier einen Kaffee und dann war bestimmt der Weihnachtsmann hier und wir machen Bescherung.“

„Ob wir den Weihnachtsmann wohl unterwegs sehen?“, überlegte Emma.

Friedrich schmunzelte und zog sich ebenfalls ins Lesezimmer zurück.

Gemütlich schwätzend räumten Sophie und Sarah die Küche auf und deckten den Tisch im Esszimmer, damit alles für die Kaffeetafel bereit war. Sophie bemerkte erstaunt, dass Sarah unruhig auf die Uhr sah und etliche schwere Wolldecken aus den Wandschränken im Flur kramte und schließlich der Ruhestunde im Lesezimmer ein Ende bereitete.

„Zieht euch warm an, Stiefel, Mützen, Handschuhe“, sagte sie und begann schon mal damit, Emma die Stiefel anzuziehen. Friedrich hatte sich seine pelzgefütterte Wildledermütze mit den Ohrenklappen übergezogen und stand als erster in der Haustür, als ein Schellengeläute erst leise und dann immer lauter erklang.

„Der Weihnachtsmann kommt“, schrie Emma und rannte mit halboffener Jacke zur Tür.

„Oh“ staunte sie und starrte auf einen Schlitten mit zwei prächtigen, ungeduldig auf der Stelle tretenden Rappen davor. Erwin Langen sprang vom Kutschbock und stellte sich mit der unvermeidlichen Zigarette im Mundwinkel mit den Leinen in der Hand neben den Schlitten.

„Hereinspaziert meine Herrschaften“, rief er „die Gäule sticht der Hafer.“

Friedrich wandte sich um: „Das ist meine Weihnachtsüberraschung, Kinder. Wir fahren mit dem Schlitten zur Kirche.“

Sophie und Lily waren begeistert und beeilten sich.

„Opa, darf ich vorn sitzen?“

Friedrich hob Emma mit Schwung auf den Bock und stieg ebenfalls hinauf. Es gab ein großes Gewühle auf der hinteren Bank, bis sie sich in die warmen Decken gehüllt hatten. Lilly saß in der Mitte, Sarah und Sophie kuschelten sich eng an sie.

Erwin stieg auf und ließ die Leinen los. Die zwei wohlgenährten Friesen zogen den Schlitten mit einem Ruck an, dass der Schnee aufstob und die Glöckchen wild schellten. Dann ging es im flotten Trab voran und die mächtigen Muskeln spielten unter dem glänzenden, schwarzen Fell der beiden Friesen.

„Onkel Erwin, wie heißen die beiden?“ fragte Emma.

„Das sind Larsson und Svenson, die haben heute mächtig Feuer“, freute sich Erwin.

Er fuhr über Nebenstraßen und Wirtschaftswege einen Umweg, sonst wäre die Fahrt allzu schnell zu Ende gewesen. Als sie den schmalen Weg neben dem zugefrorenen Mühlenteich passierten, stoppte Erwin das Gespann und zeigte mit der Peitsche nach links. Das Wasser war während des Fließens in das tiefer gelegene Bachbett zu Eis gefroren.

„Wie bei Dornröschen“, sagte Lily.

Emma drehte sich um und rief: „Wo ist Dornröschen, Mama?“

Lily lächelte und erklärte: „Dornröschen ist nicht hier, Emma. Es ist nur mit dem Märchen zu vergleichen. Du weißt doch, Dornröschen und alle im Schloss mussten hundert Jahre in ihren Positionen verharren, bis der Prinz kam und Dornröschen erlöste und alle erwachten. Genau so ist das Wasser des Baches im gefrorenen Zustand erstarrt, als würde es wahrhaftig in den Bach stürzen, bis es von der Wärme erlöst wird und wieder zu Wasser wird. Aber es wird keine hundert Jahre andauern, sondern nur bis zum nächsten Tauwetter.“

Erwin ließ die Pferde eine Weile Schritt gehen, damit sie den Anblick noch etwas länger genießen konnten. Ihnen stockte der Atem vor der Schönheit der Natur und dem Zauber dieses schneebedeckten Anwesens. Sarah erzählte, dass vor langer Zeit die Mühlenbäuerin die „Dollhundsbutter“ nach geheimer Rezeptur gemischt haben soll, die angeblich gegen Tollwut geholfen haben soll.

Auf engen Wegen ging die flotte Fahrt über die Dörfer bis an den Kirchweg, auf dem seit alters her die Leute aus den südlichen Dörfern in die Kirche von Apensen gefahren oder gegangen waren. Die drei Frauen auf dem Schlitten kuschelten sich in ihre Decken und schauten froh über die schneebedeckte, sonnenbestrahlte Landschaft, während Emma pausenlos Onkel Erwin ausfragte, die Kufen im Schnee knirschten und die Schellen fröhlich klangen. Sie fuhren an weiten Feldern vorbei. Schnee fiel von den Bäumen herab, als sie in wilder Jagd durch ein Wäldchen brausten. Eine Handvoll Schnee landete direkt auf Lilys Mütze und stob auseinander. Sarah und Sophie lachten über Lily, deren Haare und Gesicht voller Schnee waren. Sie genossen die Fahrt, die nach ihrem Geschmack viel zu schnell vorbeiging.

Da zum Glück auf der Hauptstraße in Apensen eine dicke Schneedecke lag, was in Jahrzehnten vielleicht ein- oder zweimal vorgekommen war, konnte Erwin direkt vor der Kirche halten. Die Kirchenglocken läuteten und viele Menschen strömten zum Gottesdienst. So mancher hielt inne und bestaunte das Schlittengespann und besonders die Kinder hatten ihre Freude an dem seltenen Anblick.

„Ich warte nachher auf dem Parkplatz“, sagte Erwin, der die Pferde während des Gottesdienstes bei einem Bekannten unterstellen wollte. Sie winkten ihm nach und gingen in die Kirche, die gut besucht war, besonders von Familien mit kleinen Kindern. Emma war total lieb und sang fleißig die Lieder mit, die sie schon im Kindergarten gelernt hatte. Sophie beobachtete stolz ihre entzückende, kleine Nichte.

Es dämmerte, als sie aus der Kirche kamen. Friedrich und Sarah trafen Bekannte, mit denen sie ein paar Worte wechselten. Emma zog Lily von diesen „langweiligen“ Gesprächen fort. Sophie entdeckte Birgit, eine frühere Freundin, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Birgit war mit ihrem Mann Jürgen und ihrem Sohn Tobias ebenfalls im Gottesdienst gewesen und stellte Sophie ihre Familie vor.

„Und, wie geht es euch so, bist du berufstätig?“, fragte Sophie.

„Ich bin gerade entlassen worden“, sagte Birgit.

„Oh, das tut mir leid. In heutiger Zeit ist es ja nicht einfach, eine neue Stelle zu bekommen.“

„Sie hat es gar nicht nötig zu arbeiten“ sagte Jürgen und zog das Kinn hoch.

Der sieht aber auch gut aus, ein schmales, markantes Gesicht, schwarze Haare, blaue Augen und diese Figur, dachte Sophie. Das hatte sie Birgit gar nicht zugetraut, die früher eher unscheinbar war. Birgit sah jetzt allerdings ganz apart aus mit ihrem feinen rotblonden Haar und den Sommersprossen auf der Nase.

„Jürgen hat einen guten Posten, er ist Bankdirektor und arbeitet in Hamburg“, versicherte Birgit eilig.

„Wir müssen los“, drängte Jürgen und schob Birgit und Tobias weiter. Im Weggehen wandte Birgit sich nach ihr um und Sophie fing ihren hilflosen Blick auf.

Erwin hatte die Laternen an den Seiten des Schlittens angesteckt und wartete auf sie. Emma wollte wieder mit ihrem Opa vorn sitzen. Kaum hatten Sarah, Lily und Sophie ihre Plätze eingenommen, stieg Erwin auf und die Fahrt ging flott voran begleitet vom taktmäßigen Schellengeläute. Im Dorf staunten die Leute sie an und mancher Pferdeliebhaber winkte ihnen zu. Die beiden Friesen hatten in der Zwischenzeit von ihrer Kraft nichts eingebüßt. Die weiten schneebedeckten Flächen schimmerten im Dämmerlicht bläulich, die Laternen am Schlitten beleuchteten schwach die Gesichter, eingehüllt in Mützen und Schals. Im Wäldchen war es stockdunkel und sie passierten es ohne weitere Schneeladung von oben. Es war eine unvergessliche Fahrt, darüber herrschte schweigendes und seliges Einvernehmen zwischen den drei Frauen hinten im Schlitten.

Dann waren sie wieder zu Hause, die Pferde standen, ihre Atemwolken stiegen auf und ihre Körper dampften von dem schnellen Lauf.

Friedrich bedankte sich bei seinem Cousin und drückte ihm einen Schein in die Hand, den Erwin gern annahm, denn ein Reiterhof konnte auf Einnahmen nicht verzichten.

„Papa, das war eine tolle Idee“, sagte Sophie herzlich. Sarah, Emma und Lily stimmten begeistert ein und alle sprachen durcheinander über die schöne Schlittenfahrt. Nebenher wurden Kaffee und Tee gekocht. Dazu gab es frische Apfeltorte mit Sahne. Emma schob alsbald ihren Teller mit dem halb aufgegessenen Kuchen zurück und jammerte: „Ich habe Bauchweh.“

„Ach, du Arme. Opa schaut gleich mal nach, ob der Weihnachtsmann schon da war“, tröstete Lily sie, sehr wohl wissend, dass ihr Bauchweh nur von der Aufregung kam. Emma konnte nicht mehr lange auf die Folter gespannt werden, so stand Friedrich auf und ging ins Wohnzimmer, das bis dahin abgeschlossen war. Emma musste sich noch so lange gedulden, bis der Kaffeetisch abgeräumt war. Aber dann war es soweit. Aus dem Wohnzimmer scholl das schöne alte Weihnachtslied „Oh, Tannenbaum, oh Tannenbaum….“ und Friedrich bimmelte mit einem Glöckchen und rief: „Der Weihnachtsmann war da!“

Da nahm Emma Lily an die Hand und zog sie eilig hinter sich her. Der Weihnachtsbaum erstrahlte in voller Pracht und darunter lagen die Geschenke für Emma. Sophie holte die Tüte mit ihren Geschenken und setzte sich auf das Sofa. Sarah stellte Gläser auf den Tisch und Friedrich schenkte Sekt ein und für Lily und Emma Saft. Emma hatte hochrote Bäckchen vor Aufregung und riss die Pakete auf. Bald stand sie mitten in einem riesigen Papierhaufen und wusste nicht, welches Geschenk sie zuerst bewundern sollte. Die babyrosa Puppenwiege von Sophie wurde aber der Favorit, denn bald würde auch ihre Mama eine Wiege brauchen und da konnte Emma schon mal vorab ein wenig üben.

Sarah räumte das Geschenkpapier weg und Friedrich hob sein Glas und sie stießen alle miteinander an, wobei Emma ihr Glas besonders vorsichtig klingen ließ. Sophie verteilte ihre Geschenke. Lily riss in Emma-Manier das Papier herunter und nahm einen wundervollen Angoraschal heraus. Sie strich behutsam mit der Hand darüber.

„Wunderbar weich und so schön dieses Taubenblau mit dem Silber darin.“ Sie legte den Schal, der so breit wie eine Stola war, um ihre Schultern und lächelte.

„Den nehme ich mit zu Friederike, das ist genau das richtige für die zugige, alte Villa.“

„Oh, wie gut das duftet“, rief Sarah. Sie hatte Sophies Geschenk ausgepackt. Es war ein teures Parfum und Sophie hatte gewusst, dass Sarah viel zu bescheiden war, um sich selbst so etwas zu kaufen. Aber Sarah liebte es, gut zu riechen. Jetzt strahlte sie mit Lily um die Wette.

Sophie reichte ein größeres Päckchen an Friedrich. „Papa, bitte. Ich hoffe, dass es dir gefällt.“

Friedrich wickelte es aus und faltete sorgfältig das Papier. Er hob ein moccabraunes Stoffteil, das von einem Gummizug zusammengezogen war, hoch und schaute hilflos in die Runde.

„Nanu, was soll denn das sein?“

Sarah lachte über sein verdutztes Gesicht. „Ich kann’s mir denken. Es ist wohl ein Überzug für deinen alten Sessel, oder Sophie?“

Sophie lachte auch. „Stimmt, mir war aufgefallen, dass der Stoff schon ein bisschen durchgewetzt war. Und Papa würde sich doch wohl nie im Leben von diesem Sessel trennen. Lass es uns gleich mal probieren.“

Friedrich, Sarah und Sophie gingen ins Lesezimmer und Sophie stülpte den Überzug über den Sessel.

„Glück gehabt, sitzt perfekt“, freute sich Sophie.

„Das ist ja praktisch“, sagte Friedrich und machte sogleich Probesitzen.

„Nicht schlecht. Auf so etwas wäre ich nie gekommen.“ Er drückte Sophie die Hand.

„Das wundert mich nicht. Du gehst ja auch wohl nie einkaufen, oder sollte sich da etwas geändert haben?“

„Nein, hat sich nicht“, stimmte Sarah zu. „Ein schöner Stoff mit dieser groben Struktur. Der passt hier richtig gut rein.“

Lily hatte ihren Sessel näher an den Tannenbaum gerückt und bewunderte mit Emma deren Geschenke, als sie wieder ins Wohnzimmer kamen. Friedrich schleppte ein großes Paket und setzte es ächzend bei Sophie ab.

Lily sah hinüber und sagte: „Du dachtest wohl, wir schenken dir gar nichts? Wir haben alle zusammengelegt.“

Als Sophie das Papier aufgemacht hatte, erkannte sie schon, was in dem Paket war. „Ein kleiner Fernseher. Oh, danke euch allen. Dann kann ich wenigstens die Nachrichten sehen. Bisher war mir noch gar nicht aufgefallen, dass mir so etwas fehlt.“

Gerührt hob Sophie ihr Glas: „Auf meine wunderbare Familie, auf den wunderschönen Tag mit euch. Ich war all die Jahre so in mich gekehrt, dass ich es gar nicht gemerkt habe, wie sehr ich euch vermisst habe.“ Ihre Augen schimmerten verdächtig blank und Friedrich war froh, dass Sophie jetzt ehrlich aussprechen konnte, wie es in ihr aussah. Voller Mitleid fühlte er, wie traurig ihr Leben, das eigentlich nur eine Flucht in die Arbeit gewesen war, ausgesehen hatte. Er fühlte aber auch, dass dies für Sophie der Anfang in ein glücklicheres Leben war.

Das alte Haus im Schneesturm

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