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Einführung

„Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger“: So lautet ein Buchtitel, der 1968 erschienen ist (Dahmer / Klafki). Erich Weniger starb 1961; mit ihm scheint demnach die Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu Grabe getragen worden zu sein; die Zukunft und der Fortschritt gehören jetzt – wem? Die Vertreter der „kritischen“ Erziehungswissenschaft streiten sich mit den empirisch-analytischen Pädagogen um den Rang der alleingültigen Wissenschaftlichkeit. Aber beide glauben, das „weltfremde, metaphysische Gerede“ der geisteswissenschaftlichen Pädagogik längst überwunden zu haben. Immerhin, ein Rezensent des genannten Werkes kommt zu dem tröstlichen, wenn auch unsicheren Urteil: „Ist auch die Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik an ihr Ende gelangt, so scheint doch ihr Beitrag zur Entwicklung der Erziehungswissenschaft nicht vergeblich gewesen zu sein“ (Stütz 1968, 665 f).

Wozu also sich mit längst Vergangenen abgeben, noch dazu mit einem ganz speziellen Ausschnitt daraus, mit geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden? Nun wäre es denkbar, dass nicht die Sache selbst, nämlich die geisteswissenschaftliche Pädagogik, zu Ende gegangen ist, sondern einfach das Interesse einiger Schüler des Geisteswissenschaftlers Erich Weniger und anderer an dieser Sache; dass also die Fragen und Probleme, mit denen sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik beschäftigt, nach wie vor bestehen. Wenn es so wäre, dann hätte es also sehr wohl Sinn, sich auf die Denkhaltung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik einzulassen, ja es könnte sogar ein Versäumnis für die Erziehungs-und Bildungsfrage bedeuten, wenn man es nicht täte. Das vorliegende Buch macht es sich – quasi nebenbei – zur Aufgabe, die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Fragestellung aufzuzeigen. Die Hauptaufgabe aber liegt in der Darstellung der Methoden dieser geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Zuvor aber scheint es nötig, sich einige Gedanken zu machen über die umstrittenen Begriffe „Geisteswissenschaft“ und „geisteswissenschaftliche Pädagogik“. Eine wissenschaftstheoretische Gesamtdarstellung und Grundlegung ist weder möglich noch beabsichtigt.

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1.1 Zum Sinn der Methodenreflexion

Zunächst fragen wir, was denn „Methode“ heißt. Das Wort kommt aus dem Griechischen: μἐυoδoς (méthodos) und setzt sich zusammen aus den Wörtern μετά (metá) „entlang“ und óδóς (hodós) = „Weg“. „Methode“ bedeutet also soviel wie das „Entlanggehen eines Weges“ (Bocheński 1969, 16). Die Methode ist das Verfahren, das einen bestimmten Weg aufzeigt, um ein vorgesetztes Ziel zu erreichen (Müller/ Halder 1967, 110). Die Verfahren des Lehrers, um bei seinem Schüler zu einem Urteil zu kommen, können darin bestehen, den Schüler über längere Zeit zu beobachten oder ihm gezielte Tests vorzulegen. Und der Erziehungswissenschaftler hat beispielsweise die Möglichkeit, die Methode des (strengen) Beschreibens oder der statistischen Erhebung anzuwenden, um etwa verschiedene Erziehungsstile zu ermitteln.

Uns soll es hier um Forschungsmethoden gehen. Das heißt also, dass uns nicht interessiert, welche Wege der Lehrer einschlägt, um seinen Schülern das Bruchrechnen oder geschichtliches Denken beizubringen. Wir lassen außer Acht, welche Maßnahmen Eltern ergreifen mögen, um ihren Kindern Ordnungssinn anzuerziehen. Dies sind Fragen der Unterrichts- bzw. Erziehungsmethodik, die in unserem Zusammenhang keine Rolle spielen. (Einen Überblick über Erziehungs- und Unterrichtsmethoden bietet beispielsweise K. H. Schwagers Artikel „Methode und Methodenlehre“ (1970, 93–128). Wir fragen hier nach Methoden, welche die Pädagogik als Wissenschaft anwenden kann und muss, um zu Erkenntnissen zu kommen. Der Begriff „Forschungs“-methoden setzt sich also ab gegen praktische Methoden der Pädagogik. Dabei ist zu beachten, dass mit „Forschung“ nicht nur etwa Labor- und Felduntersuchungen gemeint sind, sondern z. B. auch eine historische Untersuchung. Mit Forschung soll also hier allgemein die gezielte, planvolle wissenschaftliche Tätigkeit verstanden werden.1

Methode bezeichnet also in einer Wissenschaft den Weg, die Art und Weise, wie zu einer Erkenntnis gelangt werden kann. Wenn ich methodisch arbeite, gehe ich planvoll und nach bestimmten Regeln vor. Jede Wissenschaft versucht, die Methoden, die ihr am angemessensten sind, herauszufinden, zu begründen und zu differenzieren. Diese Bemühung einer Wissenschaft um ihre Methoden steht aber in einem größeren Zusammenhang, den man mit Wissenschaftstheorie bezeichnet.

In der Wissenschaftstheorie legen die einzelnen Wissenschaften ihr Selbstverständnis als Wissenschaft fest und versuchen, es zu begründen. 2 Das bedeutet also, wenn wir uns hier mit bestimmten Methoden 15der Erziehungswissenschaft beschäftigen, dass wir dann auch nach dem Selbstverständnis der Pädagogik als Wissenschaft fragen. Es ist nun einmal ein fundamentaler Unterschied, ob ich beispielsweise das autoritäre Verhalten von Vätern gesamtmenschlich zu verstehen und zu deuten versuche, oder ob ich eine Strichliste darüber führe, wie oft sie ihren Kindern etwas verbieten. Der Unterschied dieser beiden einfachen Beispiele liegt ja nicht nur in der Methode, sondern darin, wie ich als Wissenschaftler meine, zu pädagogisch bedeutsamen Aussagen gelangen zu können.

Hier schließt sich sofort die Frage an, was denn als „pädagogisch bedeutsam“ gelten soll, ja letztlich: welches Menschenbild ich habe, aufgrund dessen ich meine, wissenschaftlich so oder so vorgehen zu müssen. Diese Fragen zeigen, in welcher Dimension und Bedeutung die Methodenreflexion gesehen werden muss. Mit anderen Worten: Es ist nicht gleichgültig, welche Methoden in der erziehungswissenschaftlichen Forschung angewandt werden. Die Reflexion über die Methoden hat darum unter anderem den Sinn der wissenschaftstheoretischen Klärung (siehe Abb. 1).


Abb. 1: Einordnung der Methoden

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Das Schaubild will zum einen die Stellung der Methodenfrage im Rahmen der Wissenschaftstheorie und der praktischen wissenschaftlichen Forschung andeuten: Die Methodenfrage ist ein Teil der Wissenschaftstheorie; die angewandten Methoden bestimmen wesentlich die wissenschaftliche Tätigkeit; umgekehrt müssen die Methoden dem jeweiligen Forschungsgegenstand angemessen sein (kleine Pfeile). Zum anderen soll das Schaubild auf die innere Abhängigkeit der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaft(en)und damit auch der Methoden von philosophischen, weltanschaulichen Grundlagen und Voraussetzungen hinweisen (große Pfeile). Mit anderen Worten: Das, was unter Wissenschaft verstanden werden soll (Wissenschaftstheorie) und die forschende Tätigkeit ändern sich, wenn von unterschiedlichen philosophischen Voraussetzungen ausgegangen wird. Diese können bewusst als philosophische Grundannahmen oder als weltanschauliche Haltung eingebracht werden; sie können aber auch unbekannt als jeweiliges Welt- und Menschenbild einfließen.

Unser Schaubild ist rein schematisch und idealtypisch – und somit auch vereinfachend wie jede Schematisierung. Denn vor allem die These, dass philosophische und weltanschauliche Grundannahmen in die Wissenschaftsauffassung eingehen, wird weithin abgelehnt (Brezinka 1978, 19). Teilweise wird an der Existenzberechtigung der Philosophie gezweifelt; Wissenschaftstheorie und Philosophie werden dann identisch. Damit würde sich auch unser Schaubild verändern; das untere Feld „Philosophie“ müsste dann wegfallen.3 Es wäre noch eine Reihe von anderen Variationen vorstellbar, auf die wir aber hier nicht eingehen müssen.

Wenn es nicht gleichgültig sein soll, welche Forschungsmethode angewandt wird, so ist damit noch etwas anderes gesagt: Jedes methodische Vorgehen hat seine ganz bestimmte Möglichkeit und seine Grenzen (Röhrs 1971, 42). Man kann also von einer Methode nur etwas Bestimmtes erwarten; anderes leistet sie dagegen nicht. Auf unser Beispiel mit den autoritären Vätern bezogen, bedeutet das: Wenn ich die Verbote, welche sie erteilen, lediglich zähle, dann kann ich über die Häufigkeit autoritären Verhaltens Aufschluss erhalten; das Zählen bringt mich jedoch nicht weiter bei der Frage nach dem, was „autoritär“ überhaupt ist und bedeutet; das Zählen sagt nichts aus über den Sinn, die Berechtigung von Erziehungsverboten, auch nicht über die Auswirkung auf das Kind, auf sein Verhältnis zum Vater usw.

All dies leistet schon eher die verstehende Methode, die versucht, etwa die Verbote innerhalb des Gesamtrahmens der Erziehung zu sehen, 17sie einzuordnen und gesamtmenschlich zu beurteilen; sie kann zu einer Differenzierung kommen und zwischen berechtigten und unsinnigen Verboten, zwischen autoritativem und autoritärem Erziehungsverhalten unterscheiden. Der Unterschied besteht u. a. darin, dass der autoritäre Erzieher seine Überlegenheit so ausnutzt und ausspielt, dass sich das Kind nicht entfalten kann, während der autoritative seine Überlegenheit positiv einsetzt, um dem Kind gerade zur Selbstentfaltung zu verhelfen. Durch Verstehen und Deuten komme ich zu keiner Aussage darüber, wie verbreitet autoritäres Verhalten innerhalb einer Gesellschaft ist.

Nun sind aber Forschungsmethoden im pädagogischen Zusammenhang nicht einfach jeweils verschiedene Instrumente, die man nach Gutdünken einsetzen kann. Sie unterscheiden sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Die Häufigkeit eines erzieherischen Verhaltens abzuzählen oder dieses verstehen zu wollen, sind zwei grundverschiedene Dinge; der Erziehungswissenschaftler kann seinen Untersuchungsgegenstand unter Umständen total verfehlen, ihn gar nicht in den Blick bekommen, wenn er nicht die angemessene Methode anwendet. Was als „angemessen“ zu gelten hat, daran scheiden sich die Geister. Es ist, wie wir schon angedeutet haben, im Letzten eine Frage des Menschen- und auch des Weltbildes.4

Die Methodenfrage würde jedoch zu einseitig gesehen werden, wenn man meinte, man müsse sich für eine einzige Methode entscheiden. Wissenschaftliche Forschung geschieht immer durch das Zusammenwirken mehrerer Methoden. Der wissenschaftstheoretische oder weltanschauliche Streit um die „richtigen“ Methoden spielt sich darum auch zwischen Gruppen von Methoden ab, im Wesentlichen zwischen den geisteswissenschaftlichen und den empirisch-analytischen. Unter geisteswissenschaftlichen Methoden werden ziemlich übereinstimmend folgende verstanden: Hermeneutik (als verstehende und historische Methode), Phänomenologie und Dialektik.5 Für die empirischen Methoden ist eine Aufzählung nicht so eindeutig; am häufigsten werden dazu aufgeführt: Beobachtung, Befragung, Experiment, Test und Statistik.6 Aber auch jene Polarisierung zwischen empirischen und geisteswissenschaftlichen Methoden müsste nicht so extrem und ausschließlich sein, wenn diese jeweils sinnvoll eingesetzt und ergänzend aufeinander bezogen würden.7

Diese skizzenhaften Andeutungen sollen zeigen: Das Kennenlernen von und das Nachdenken über Methoden sollen zu einem kritischen Bewusstsein verhelfen, was eine Methode leisten kann und was nicht. Es soll dadurch auch bewusst werden, was man unter Umständen versäumt, 18wenn man eine Methode nicht anwendet. Dieses Methodenbewusstsein vermag den Sinn für Wissenschaftlichkeit zu wecken; denn wissenschaftliches Arbeiten ist methodisches Arbeiten. Darum erweist es sich auch für den Studierenden als sinnvoll, Forschungsmethoden kennen zu lernen und mit der Zeit auch selbstständig und bewusst anzuwenden.

Wenn wir uns hier ausführlich mit ‚geisteswissenschaftlichen‘ – oder allgemeiner: sinn-orientierten – Forschungsmethoden befassen wollen, so soll dennoch von Anfang an die Methodenfrage auch in ihrer begrenzten und relativen Bedeutung gesehen werden. Der Satz „wissenschaftliches Arbeiten ist methodisches Arbeiten“ lässt sich nämlich nicht umkehren. Nicht jedes methodische Vorgehen garantiert schon Wissenschaftlichkeit. Wenn wir also Pädagogik als Wissenschaft ernst nehmen wollen, dann dürfen wir nicht die Methodenfrage zum obersten und einzigen Prinzip erheben; die Methode übernimmt „bei der Beantwortung eines Fragezusammenhanges nur eine dienende Funktion“ (Linke 1966, 157). Wir müssen uns also vor einer Methodengläubigkeit hüten (Feyerabend 1976; Wuchterl 1977, 57 f). Denn mit statistischen Erhebungen über Schülerverhalten oder mit phänomenologischem Beschreiben der Mutter-Kind-Beziehung allein ist pädagogisch noch nichts oder nur wenig ausgesagt.

Zudem kann wohl nicht geleugnet werden, dass die Methodendiskussion in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer gewissen Mode-Erscheinung geworden war. „Vielleicht ist es keine Übertreibung zu behaupten, daß sie [die Methodologie] selten so eifrig gepflegt wurde wie in unserer Zeit“ (Bocheński 1969, 138). In Deutschland hatte das den geschichtlichen Hintergrund, dass in den sechziger Jahren damit begonnen worden war, die empirisch-analytischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisse und -methoden zu übernehmen, die in der übrigen westlichen Welt erzielt bzw. angewandt wurden.8

Mehr oder weniger dazu gedrängt, kam damit auch die geisteswissenschaftliche Pädagogik in die Situation, verstärkt Methodenreflexion zu betreiben. Dies hatte die positive Auswirkung, dass sie sich wissenschaftstheoretisch darstellen und dadurch selbst kritisch prüfen musste. Gleichzeitig geriet sie in Gefahr, ihre inhaltliche Aufgabe zu vernachlässigen, nur weil sie einem modischen Trend nachgab (Wuchterl 1977, 5). In einer ähnlichen Lage der wissenschaftstheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften im Fahrwasser der Naturwissenschaften befand sich W. Dilthey vor rund 120 Jahren. Dabei aber „hat sich Dilthey von dem Vorbild der Naturwissenschaften zutiefst bestimmen lassen, auch wenn er gerade die methodische Selbständigkeit 19der Geisteswissenschaften rechtfertigen wollte“ (Gadamer 1975, 4). Könnte dieser modische Trend, geistesgeschichtlich gesehen, nicht darin bestehen, dass man die Flucht ins Formale angetreten hat, weil man unfähig geworden ist, inhaltlich etwas auszusagen? Auch aus diesem Grund also sollte die Methodenfrage nicht überbewertet, wenn auch in ihrer sinnvollen Aufgabe nicht unterschätzt werden (Nicklis/Wehrmeyer 1976, 6 f).

Ein Gesichtspunkt soll noch genannt werden, der sich aus einer Überbetonung des Methodenproblems ergibt: die Verdeckung des Gegenstandes durch die Methoden. Was damit gemeint ist, haben wir in unseren Beispielen schon angedeutet. Wenn ich z. B. zu einer Aussage darüber kommen will, welche Bedeutung das Vertrauen in der Erziehung hat, werde ich mir etwa durch empirisch-analytische Methoden den Weg verbauen (Bollnow 1969b, 26f). Das Phänomen des zwischenmenschlichen Vertrauens entzieht sich des quantitativen Zugriffs; es schlüpft durch das Gitterwerk einer Statistik; durch experimentelles Vorgehen wird es von vornherein verhindert. Gehe ich also mit bestimmten Methoden, in diesem Fall mit empirischen, ohne auf die Art des Gegenstandes zu achten, an diesen heran, so kann sich dieser entziehen; in unserem Beispiel müsste ich zu dem Ergebnis kommen, dass es pädagogisches Vertrauen überhaupt nicht gibt. „Es gibt … im Lernprozess … Mechanismen. Die Methode der experimentellen pädagogischen Psychologie versuchte sie zu erfassen. Sie entschied, wie man am leichtesten, gründlichsten, z. B. memoriert; aber ob man so lernen soll und was und in welchem Maße, darüber konnte sie keine Aussagen machen“ (Flitner 1989, 370). Der Gegenstand also muss die Methode bestimmen, nicht umgekehrt; die wissenschaftliche – und pädagogische – Fragestellung muss der Ausgang sein, nicht die Methode.9

Einen weiteren Aspekt ergibt die Unterscheidung zwischen geisteswissenschaftlichen und empirisch-analytischen Methoden. Letztere haben einen mehr instrumentellen Charakter; man kann sie erlernen wie eine andere Technik und entsprechend einsetzen; so kann man z. B. ein Experiment durchführen oder nicht. Dies ist im Hinblick auf geisteswissenschaftliche Methoden streng genommen nicht möglich; denn hermeneutisches Verstehen oder phänomenologische Befunde sind immer schon mit im Spiel, wenn ich an einen pädagogischen Sachverhalt überhaupt herangehe und auch, wenn ich über die angemessenste Forschungsmethode reflektiere.

Während empirische Methoden mehr den Charakter des technischen Zugreifens besitzen, wollen die geisteswissenschaftlichen Methoden 20mehr den Gegenstand selbst sprechen lassen. Der Gegenstand „spricht“ aber schon, bevor ich überhaupt an eine empirische Untersuchung denke, indem beispielsweise ein erzieherischer Missstand sichtbar geworden ist. Insofern können geisteswissenschaftliche Methoden und empirische nicht auf einer Ebene gesehen werden. Die Reflexion über ‚geisteswissenschaftliche‘ Methoden hat einen anderen Stellenwert als die über empirische; der Begriff ‚Methode‘ meint damit auch etwas Unterschiedliches; es geht dort weniger um das Erlernen und spätere Anwenden als um das Kennenlernen eines Erkenntnisvorganges, der auch ohne „Methodenstrategie“ ständig und längst geschieht (Gadamer 1975, XXVII, 483). Die bessere Kenntnis wird uns aber helfen, auch im geisteswissenschaftlichen Bereich methodisch bewusster vorzugehen.

Damit sind wir wieder zum Anfang unserer Überlegungen über den Sinn der Methodenreflexion zurückgekommen.

Zusammenfassend wollen wir uns die wichtigsten Gesichtspunkte nochmals vergegenwärtigen:

Eine Methode ist die Art und Weise, wie man vorzugehen hat, um zu einem Ziel, z. B. zu Erkenntnissen, zu gelangen. Das griechische méthodos bedeutet soviel wie das „Entlanggehen eines Weges“.

Uns geht es hier um Forschungsmethoden, nicht um Erziehungs-oder Unterrichtsmethoden.

Die Methodenreflexion ist Teil der Wissenschaftstheorie, d. h. der philosophischen Begründung dessen, was man unter Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit verstehen will. Daher ist eine Methode vom jeweiligen wissenschaftstheoretischen Standpunkt abhängig.

Umgekehrt wird an den Methoden sichtbar, wie sich eine Wissenschaft versteht. Die Beschäftigung mit Forschungsmethoden vermag darum das Bewusstsein für Wissenschaftlichkeit zu wecken. (Abb. 1)

Jede wissenschaftliche Methode hat ihre spezifischen Erkenntnismöglichkeiten und ihre Grenzen. Die einzelnen Methoden unterscheiden sich jedoch oft nicht nur formal und rein äußerlich; sie sind auch wissenschaftstheoretischer Ausdruck eines bestimmten Welt-und Menschenbildes. Daher stehen sie – wie die ‚empirischen‘ und ‚geisteswissenschaftlichen‘ Methoden – im Widerstreit.

Wissenschaftliche Forschung geschieht aber sinnvollerweise durch das Zusammenwirken mehrerer Methoden, die ergänzend aufeinander bezogen werden.

Vor einer Methodengläubigkeit sollten wir uns hüten, weil Methoden 21lediglich dienende Funktion haben; ein selbstständiger Methodenapparat macht nicht die gesamte Forschung aus. Vielmehr kann eine Überbewertung einzelner Methoden oder der Methodenfrage insgesamt bedeuten, dass der Gegenstand der Untersuchung verdeckt oder verfälscht wird.

1.2. Was heißt „geisteswissenschaftliche Pädagogik“?

Die Ausdrücke „geisteswissenschaftlich“ und „Geisteswissenschaften“ begegnen uns häufig, auch in pädagogischer Literatur, und wir nehmen sie als selbstverständlich hin. Doch fragen wir uns selbst einmal, was wir uns darunter vorstellen, so geraten wir in Verlegenheit; „Geisteswissenschaft“ wird zu einem vagen Gebilde. Die Auskünfte, die wir uns von einschlägiger Literatur erhoffen, verwirren uns möglicherweise noch mehr. A. Diemer stellt gar neun Wissenschaftsrichtungen fest, die in den Begriff „Geisteswissenschaft“ eingegangen sind (Diemer 1975, 7–9; 1974, 213). Zu allem Überfluss kann uns ein Buchtitel begegnen, der „die Unmöglichkeit der Geisteswissenschaft“ behauptet (Kraft 1957). Die Bezeichnung „Geisteswissenschaft“ erweist sich also als mehrdeutig, und die Berechtigung dieses Wissenschaftstyps ist umstritten .

Aber bei allen Schwierigkeiten lässt sich dennoch umreißen, was denn unter „Geisteswissenschaft“ zu verstehen sei. Am einfachsten ist zunächst eine negative Bestimmung, also was Geisteswissenschaft nicht ist: nämlich Naturwissenschaft. Auf einige unterscheidende Merkmale kommen wir noch zurück.

Nun wird in der Regel nicht von der Geisteswissenschaft gesprochen, sondern von den Geisteswissenschaften, also von mehreren Wissenschaften, die sich als „geisteswissenschaftlich“ auszeichnen – wir können für unseren Zusammenhang sagen: die mit geisteswissenschaftlichen Methoden arbeiten. Zu den Geisteswissenschaften zählt man in der Regel die Folgenden: Philosophie, Sprachwissenschaften, Geschichte, Kunstwissenschaften, Rechtswissenschaft, Theologie, aber auch – unter bestimmten Voraussetzungen – Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Dies sind also Wissenschaften, die in den (alten) philosophischen (philologisch-historischen), theologischen und juristischen Fakultäten gepflegt werden (Gadamer 1958, 1304). „Sie sind die Wissenschaften, die im Horizont der uns überhaupt zugänglichen geschichtlichen 22Zeit die Geschichte selbst, Sprache, Kunst, Dichtung, Philosophie, die Religionen, aber ebenso auch Dokumentationen persönlichen Lebens … zum Gegenstand haben und vergegenwärtigen“ (Ritter 1961, 17). Jene Wissenschaften haben zwar zum Teil selbst eine sehr lange Geschichte; ihr Selbstverständnis und ihre Begründung als „Geisteswissenschaften“ sind jedoch relativ jung und gehen auf das 19. Jahrhundert zurück.10 Dies hängt nicht zuletzt mit der Absetzung von den Naturwissenschaften zusammen.

Es war vor allem W. Dilthey (1833–1911), der dem Wissenschaftsverständnis der Naturwissenschaften ein geisteswissenschaftliches entgegensetzen wollte. Für die geisteswissenschaftliche Pädagogik ist er der maßgebliche Denker; denn neben dem Versuch einer Begründung der Geisteswissenschaft überhaupt und einer geisteswissenschaftlichen Psychologie legte er den Grundstein für eine geisteswissenschaftliche Pädagogik.11 Dilthey selbst war beeinflusst von I. Kant (1724–1804); analog zu dessen „Kritik der reinen Vernunft“ forderte er eine „Kritik der historischen Vernunft“ (Dilthey VII, 1961, 191). Weiterhin steht hinter der Polarität von Natur- und Geisteswissenschaften die Natur-Geist-Philosophie des Deutschen Idealismus. [J. G. Fichte (1762–1814), F. W. J. Schelling (1775–1854), G. W. F. Hegel (1770–1831) sind Hauptvertreter des Deutschen Idealismus.] Dessen spekulatives Denken lehnte jedoch Dilthey strikt ab. Über Dilthey ist vor allem auch F. Schleiermacher (1768–1834) für die geisteswissenschaftliche Pädagogik fruchtbar geworden. „Das gilt u. a. für die von Schleiermacher gewonnenen Einsichten über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Ethik und Pädagogik, Pädagogik und geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und für Schleiermachers Einsichten in die dialektische Struktur des pädagogischen Geschehens und Handelns“ (Kiel 1967, 802).

In die Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik durch Dilthey geht zunächst sein lebensphilosophischer Ansatz ein. „Lebensphilosophie“ bedeutet, dass das „Leben“ als einheitlicher, nicht mehr hinterfragbarer Grund von allem gesehen wird; es geht um Unmittelbarkeit, um das schöpferische im Gegensatz zu einem rein spekulativen Denken. Nach Dilthey setzt geisteswissenschaftliche Erkenntnis an beim Erleben des Menschen, auch bei dessen Geschichte. „Die einzelnen Erscheinungen im Reiche der Geschichte lassen sich, das ist seine These, nicht von außen her erklären wie physikalische Vorgänge, sondern nur von innen her verstehen, d. h. von einer erlebenden Seele als Ausdruck eines Inneren auffassen, das ebenfalls erlebt und versteht. Dabei wird das Ganze nicht erst aus Elementen aufgebaut, sondern die 23Einzelerscheinungen sind bereits als ganzheitliches Gefüge, als Struktur gegeben und werden aus der Ganzheit heraus verstanden. Seelenleben verstehen heißt also ganzheitliche Gefüge erfassen, beschreiben und zergliedern“ (Reble 1975, 344).

Hinter der Dilthey’schen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaft steht, wie gesagt, die Philosophie des Deutschen Idealismus, die zwischen Natur und Geist unterscheidet. Die Geisteswissenschaft hat es demnach nicht mit „Natur“ zu tun, sondern mit „Geist“, „Geistigem“. Es stellt sich die Frage, was unter „Geist“ zu verstehen sei. Nun macht uns auch der Geist-Begriff – ähnlich wie der Begriff „Geisteswissenschaft“ – erhebliche Schwierigkeiten, ihn eindeutig zu bestimmen (Hist. Wb. Philos., Band 3, 154–207, zeigt unter dem Stichwort ‚Geist‘ die Vielfalt dieses Begriffes.). In unserem Zusammenhang geht er streng genommen auf die Philosophie G. W. F. Hegels (1770–1831) zurück; verschiedene Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik berufen sich auch auf sie. So kann etwa bei E. Spranger mit gutem Recht von „Geistes“-Wissenschaft gesprochen werden, da er sich ausdrücklich auf die „Philosophie des Geistes“ bezieht. Spranger macht aber eigenständige Ergänzungen, um das spezifisch Pädagogische hervorzuheben. Der streng philosophische Geistbegriff wird also uminterpretiert. [Spranger (1973, 146ff) unterscheidet vier Geist-Begriffe: den objektivierten, objektiven, normativen und subjektiven Geist.]

Nun wäre aber geisteswissenschaftliche Pädagogik zu eng verstanden, wenn man sie prinzipiell auf den Hegel’schen Geistbegriff, an den sich Spranger anlehnt, festlegen wollte. Unter anderem wird dies daran sichtbar, dass auch Ansätze der so genannten Existenzphilosophie in die Geisteswissenschaften Eingang gefunden haben, so etwa durch O.F. Bollnow in die Pädagogik; die spekulative Geist-Philosophie Hegels steht aber in vieler Hinsicht in konträrem Gegensatz zur so genannten Existenzphilosophie. Hält man sich darum die große Spannweite dessen, was sich alles als „Geisteswissenschaft“ versteht, vor Augen, dann scheint es besser, auf die Begriffe „Geist“ und „Geisteswissenschaft“ ganz zu verzichten.

Aber in der Praxis wird „Geisteswissenschaft“ übereinstimmend als Sammelbegriff, als Etikett verwendet, um eine bestimmte Art von Wissenschaft damit anzuzeigen. Gemeint sind Wissenschaften, die in einem bestimmten Sinn vom Menschen handeln. So heißen die „Geisteswissenschaften“ im Englischen „humanities“ und im Französischen „sciences humaines“ (Diemer 1974, 212f). Es geht bei ihnen um die humanitas, um das Menschliche, um dasjenige, was den Menschen zum 24Menschen macht. Hierfür kann nun auch losgelöst von der Geist-Philosophie des Deutschen Idealismus die Chiffre „Geist“ verwendet werden. Denn dasjenige, was den Menschen gegenüber dem Naturding und dem Tier auszeichnet, ist „Geist“. Durch ihn wird der Mensch befreit aus den rein kausalen Bezügen;‘ er kann und muss zu seinem Leben Stellung nehmen; er muss sich entscheiden; Gestaltung des Daseins, Orientierung an Qualität und Werthaftem sind Kennzeichen und Folge menschlichen „Geistes“. Fasst man den „Geist“ in einem solch weiten und humanen Sinn, dann wird die „Geisteswissenschaft“ in der Dilthey’schen Ausprägung zu einem bestimmten historischen Typ dieser Wissenschaftsrichtung. Entsprechend kann dann „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ auch andere Formen und Inhalte annehmen, als sie Dilthey bestimmt hat. Auch im Rahmen der Hermeneutik wird sich zeigen, dass „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ nicht mit der so genannten Dilthey-Schule identisch ist.

Einige wohl gleich bleibende Kriterien lassen sich jedoch für die geisteswissenschaftliche Pädagogik angeben. Ein Erstes ist mit der Geschichtlichkeit des Menschen gegeben. Diese besagt zwar auch, dass der Mensch eine Vergangenheit, eine Entwicklung hat, dass es also menschliche Dinge und Ereignisse gibt, die vorüber sind und die man daher nachträglich erforschen und festhalten kann. Der Mensch aber hat nicht nur diese faktisch feststellbare Geschichte, er ist sie auch. Damit ist gemeint, dass jeder von uns eingeflochten ist in seine Vergangenheit, dass diese ihn in seinem Handeln und Denken immer mit bestimmt, ob er will oder nicht, und mehr noch: dass alles, was ich heute tue und unterlasse, Folgen hat, die auf mich zurückfallen, d. h.: ich bin dafür verantwortlich. In diesem Sinne lebe ich nicht nur aus meiner Geschichte, sondern „mache“ sie auch. Geschichtlichkeit kann darum nicht zusätzlich und beliebig in (pädagogische) Überlegungen einbezogen werden; sie ist vielmehr konstitutiv für das Wesen des Menschen. „Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt … Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen“ (Dilthey 1961, VII, 277f).

Ein entscheidender Gesichtspunkt von Geschichtlichkeit ist Folgender: Der Mensch lebt nur in einem Hier und einem Jetzt, also in einer bestimmten räumlichen Umgebung und in einer bestimmten Zeit; er ist eingebunden in seine gesellschaftliche und historische Umwelt, wenn auch nicht davon determiniert. Es ist ein Verdienst der Lebensphilosophie und damit auch Diltheys, die Realität gegenüber der reinen 25Spekulation wieder in die Philosophie eingebracht zu haben.12 Eine Folge davon ist, dass in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik die Erziehungswirklichkeit interessiert.

Geisteswissenschaftliche Pädagogik hat es zum einen zu tun mit der Geschichte von Erziehung und Bildung, aber eben nicht nur, insofern es in vergangenen Zeiten pädagogische Gedanken und Theorien gegeben hat, sondern auch insofern sich darin Einmaliges und Individuelles ausdrücken. Zum anderen muss dieses Einmalige darum selbst zum Gegenstand der pädagogischen Reflexion gemacht werden. Denn Erziehung und Bildung haben es nicht mit genormten Menschen zu tun, sondern mit Individuen. Mit der Theorie vom „pädagogischen Bezug“ (H. Nohl) und dem Beachten der pädagogischen Verantwortung (z. B. W. Flitner, E. Weniger) hat die geisteswissenschaftliche Pädagogik unter anderem diesen Aspekten Rechnung getragen.

Ebenso wie der Gedanke der Geschichtlichkeit geht der von der Ganzheit auf W. Dilthey zurück. Mit Ganzheit ist bei ihm zunächst ein psychologisches Moment gemeint, nämlich die „Teleologie des Seelenlebens“. Diese bedeutet, dass jedes einzelne Psychische eingeordnet ist in einen größeren seelischen Zusammenhang. Dieser ergibt sich aus einer Geordnetheit, Strukturiertheit und Zielstrebigkeit des Seelenlebens. 13 Heute mag der psychologische Ansatz Diltheys überholt sein. Richtig bleibt jedoch, dass es in der Erziehung und Bildung immer um den ganzen Menschen geht, um die Einheit von „Denken, Fühlen und Wollen“. Mit diesem Gedanken verbindet sich ein weiterer: Die jeweilige Erziehungssituation steht in einem geschichtlichen und ganzheitlichen Zusammenhang, der nicht nur durch den Zögling gegeben ist, sondern auch durch den Erziehungsauftrag. Mit anderen Worten: Jede Erziehung verfolgt ein übergreifendes Ziel; mit der Zielvorstellung werden aber gleichzeitig ein bestimmtes Menschenbild und bestimmte Werte angestrebt; es ist immer ein Erziehungssinn, letztlich ein Lebenssinn leitend. Hiermit sind nun qualitative Momente angesprochen, die mit rein naturwissenschaftlichen, quantifizierenden Methoden nicht erfasst werden können, die aber im Rahmen der Pädagogik reflektiert werden müssen.

Sinn-, Wert-, Zielfragen verweisen auf einen größeren Zusammenhang, der das Erziehungsgeschehen übersteigt: auf Kultur und Gesellschaft . Diese sind ein Generalthema der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Es ist daher nicht einsichtig, wenn ihr insbesondere von der so genannten kritischen Erziehungswissenschaft vorgeworfen wird, sie würde die gesellschaftlichen Zusammenhänge negieren und sich auf 26das Individuum konzentrieren. Allerdings glauben die Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht an die Allmacht der Gesellschaft, an die ausschließliche Gesellschaftsbedingtheit. Aber sie haben immer den Wechselbezug von Einzelnem und Gesellschaft, von Individuum und Kultur reflektiert. So heißt es beispielsweise bei W. Flitner (1969, 375): Der Gegenstand der wissenschaftlichen Pädagogik „muss insofern universal sein, als er das gesamte menschliche Leben umfaßt, das kulturelle und gesellschaftliche wie das biographische Geschehen im einzelnen, aber bezogen auf das erzieherische Phänomen“. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik betont also „die Verflechtung der individuellen seelischen Struktur mit den objektiv-geistigen Sinnbezügen (Kulturbereichen) und die Einordnung aller Einzelerscheinungen in die geschichtlich-kulturell-gesellschaftliche Gesamtlage und -entwicklung. “14

Ein weiteres Kriterium der Geisteswissenschaften und somit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik stellt die Überzeugung dar, dass in jede Erkenntnis der Erkennende mit eingeht. „Im Prozess des geisteswissenschaftlichen Erkennens stehen Subjekt und Objekt innerhalb der Erkenntnisrelation in einem ‚Lebensbezug‘, weil beide dem werdenden Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit angehören“ (Schwarz 1957, 182, 191). Damit ist gemeint, dass der Mensch nicht aufhören kann, ganz er selbst zu sein, wenn er denkt und wenn er Wissenschaft betreibt. So bezeichnet R. Schwarz die Erkenntnis „als totalen Akt der Gesamtperson“ (Schwarz 1957, 193). Zum ganzen Menschen, zur Gesamtperson gehört aber, dass jeder von uns – bewusst oder unbewusst – von Grundüberzeugungen, von weltanschaulichen Vorentscheidungen geleitet ist. Damit sind nun einem blinden Irrationalismus und einer weltanschaulichen Willkür in der Wissenschaft nicht das Wort geredet. Es wird von den Geisteswissenschaften jedoch geleugnet, dass Wissenschaft „rein“, also völlig voraussetzungslos möglich sei; die Voraussetzungen sollen aber so weit wie möglich benannt werden. Hierher gehören die Fragen nach der Voraussetzungslosigkeit, Allgemeingültigkeit und Objektivität der Wissenschaft (siehe 2.1.2). Die Berücksichtigung der Voraussetzungen und Bedingungen der Erkenntnis hat den Geisteswissenschaften – insbesondere vom analytisch-positivistisch orientierten Wissenschaftstyp – den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit eingebracht.15 Wir können und wollen in diesen Prinzipienstreit hier nicht eingreifen, hoffen aber, dass durch die nachfolgende Erörterung der geisteswissenschaftlichen Methoden die Möglichkeit und Berechtigung geisteswissenschaftlichen Vorgehens deutlich werden wird.

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In Stichpunkten wollen wir einige Gesichtspunkte festhalten, die geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Wissenschaft voneinander unterscheiden: „Geist“ und „Natur“ stehen sich gegenüber. „Geist“ manifestiert sich in Geschichte und Geschichtlichkeit; „Natur“ dagegen wird erhellt in „Wissenschaft“. Vom Blickwinkel dieser NaturWissenschaft aus ist Geistes-Wissenschaft keine Wissenschaft; wir müssen dagegenhalten: Sie ist lediglich eine Wissenschaft anderer Art. Während nämlich die Naturwissenschaft, z.B. die Physik, aus ist auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, befasst sich Geisteswissenschaft mit geschichtlichen, anthropologischen Grundstrukturen. Das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten beruht auf der Beschäftigung mit positiv Gegebenem (Positivismus!), mit quantitativen Momenten; Geisteswissenschaft hat dagegen qualitative Momente zum Inhalt, wie etwa Sinn, Wert, persönliche Einmaligkeit, Schönheit etc. Naturwissenschaft kann darum messen, zählen, wiegen, um zu Ergebnissen zu kommen, während Geisteswissenschaft auf Hinschauen, Beschreiben, Deuten angewiesen ist. Die Zusammenhänge sind im naturwissenschaftlichen Bereich kausal, d. h. auf eine bestimmte Ursache folgt immer eine bestimmte Wirkung; Geisteswissenschaften haben es dagegen mit Sinn-Zusammenhängen zu tun. Dort sind Beweise möglich, hier „nur“ Hinweise . Das eine Vorgehen muss „exakt“, das andere dagegen muss „streng“ sein, um als wissenschaftlich zu gelten (Diemer 1975; Flitner 1949).

Damit sind einige Kennzeichen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik genannt. Darüber hinaus sei noch darauf hingewiesen, dass geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht verwechselt werden sollte mit normativer Pädagogik. Diese gehört philosophisch gesehen der Richtung des Neukantianismus an; ihr Generalthema ist das „Sollen“ in der Erziehung und die Bemühung um die Begründung von Normen (Lassahn 1976, 94–112; Schurr 1976). Das heißt nicht, dass in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Norm- und Zielfragen ausgeklammert würden; sie legt jedoch ihren Schwerpunkt – im Gegensatz zur normativen Pädagogik – auf die Erziehungswirklichkeit und deshalb auch auf das Theorie-Praxis-Verhältnis.

Ebenso ist geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht gleichzusetzen mit philosophischer Pädagogik. Zwar reflektiert sie auf philosophische Weise; ihr Anliegen besteht aber gerade auch darin, die Autonomie der Pädagogik als Wissenschaft zu begründen. Es gibt eine Reihe anderer Ansätze philosophisch orientierter Pädagogik, die wenig mit „geisteswissenschaftlicher“ Pädagogik zu tun haben, so etwa die Orientierung 28an Hegel, Kant oder an der so genannten Existenzphilosophie, wobei Letztere besonders durch O. F. Bollnow für die geisteswissenschaftliche Pädagogik fruchtbar gemacht worden ist. Schließlich ist diese Pädagogik auch abzugrenzen gegen die so genannte kritische Erziehungswissenschaft ; geisteswissenschaftliche Pädagogik versteht sich im Gegensatz zu dieser nicht als Sozialwissenschaft; ihr Anliegen ist weder primär soziologisch noch politisch, sondern pädagogisch; ihr geht es in erster Linie um Erziehung und Bildung und nicht um Gesellschaftsveränderung (Uhle 1976; Gaßen 1978). Wir werden bei der Behandlung der Methoden nur auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik eingehen, nicht auch auf die so genannte kritische Erziehungswissenschaft.

Es war hier unmöglich, einen systematischen und historischen Aufriss all dessen zu geben, was man unter geisteswissenschaftlicher Pädagogik versteht. Um wenigstens einen gewissen Überblick über die wichtigsten Vertreter zu vermitteln, stellen wir diese auf einer gesonderten Tafel vor (Abb. 2) und beschränken uns auf die „Klassiker“ dieser Richtung. Wir führen dort gleichzeitig jeweils die allerwichtigsten Schwerpunkte des Werks der einzelnen Pädagogen mit an, wodurch stichwortartig auch die Inhalte der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sichtbar werden. Die Zuordnung einzelner Vertreter ist nicht immer eindeutig; so zählt A. Reble unter anderem auch A. Fischer zu den geisteswissenschaftlichen Pädagogen,16 was insbesondere im Hinblick auf dessen Entwicklung einer phänomenologisch orientierten Pädagogik seine Berechtigung hat. Die Aufnahme M. J. Langevelds unter die geisteswissenschaftlichen Pädagogen erscheint gerechtfertigt durch seine Schülerschaft zu T. Litt, durch sein phänomenologisches Vorgehen und durch seine eigenen wissenschaftstheoretischen Reflexionen. 17

Im Verlauf unserer Methodenüberlegungen werden wir immer wieder von Bildung und Erziehung sprechen müssen. Darum scheint es angebracht, aus dem Bereich der geisteswissenschaftlichen Pädagogik exemplarisch einen Erziehungs- und einen Bildungsbegriff vorzustellen, um eine Orientierung für das Folgende zu geben. Denn bekanntlich gibt es die unterschiedlichsten Erziehungs- und Bildungsbegriffe.

R. Meister (1881–1964) formulierte 1946 einen weit und allgemein gefassten Erziehungsbegriff, er lautet:

„Erziehung ist die planmäßige Führung, die die erwachsene Generation der heranwachsenden bei ihrer Auseinandersetzung mit der überkommenen Kultur angedeihen läßt …“ (Meister; zit. Ballauf/Schaller 1974, 683).

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Abb. 2 Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (Pfeile zwischen Personen bedeuten Schülerschaft).

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Dreierlei scheint uns hier wichtig zu sein:

1. Bei Erziehung handelt es sich um ein Verhältnis zwischen „heranwachsender“ und „erwachsener“ Generation; es besteht also ein Verhältnis zwischen solchen, die Hilfe benötigen und solchen, die diese geben können; man spricht hierbei von „pädagogischem Gefälle“, das jedoch kein unterdrückendes Herrschaftsverhältnis ist, sondern sich vielmehr durch Verantwortung legitimiert.

2. Erziehung soll planmäßige Führung sein; sie geschieht also nicht zufällig, nebenbei und nur durch die „Umstände“; sie wird vielmehr bewusst und verantwortlich übernommen. Dabei beruht „Führung“ auf einem personalen Vertrauensverhältnis zwischen Erzieher und Zögling (en), wobei nicht gegängelt wird, sondern alles auf die vertrauende und (später) auch einsichtige Zustimmung des Zöglings ankommt.

3. Es handelt sich um Auseinandersetzung mit der überkommenen Kultur, nicht um ein bloßes Übernehmen und Reproduzieren von Kultur, die von äußerlichen Verhaltensweisen über Sprache Fertigkeiten, Wissenschaft usw. bis zu Grundüberzeugung reicht.

Der Erziehungsbegriff von Meister wird von W. Flitner (1972, 60) inhaltlich gefüllt. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass der Vorwurf gegen die geisteswissenschaftliche Pädagogik, sie fördere nur die Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse, nicht haltbar ist (Broecken 1975, 244; Spranger 1966, 318f).

Als Beispiel für einen Bildungsbegriff zitieren wir die Ausführungen E. Sprangers (1968, 24ff). Auch er definiert sehr allgemein:

„Bildung ist die durch Kultureinflüsse erworbene, einheitliche und gegliederte, entwicklungsfähige Wesensformung des Individuums, die es zu objektiv wertvollen Kulturleistungen befähigt und für objektive Kulturwerte erlebnisfähig (einsichtig) macht.“

Diesen verdichteten Satz erläutert Spranger wie folgt:

Bildung „ist Wesensformung des Individuums; denn bloß vorübergehende Eigenschaften würden wir nicht als Bildung ansehen … Bildung ist ferner einheitlich und gegliedert, d. h. vielseitig und doch geschlossen. Einen Menschen von ganz einseitiger Seelenkultur würden wir nicht gebildet nennen; aber auch nicht den Vielseitigen, der nach allen Seiten umrißlos auseinander fließt und keinen Mittelpunkt, kein festes Wesen, keine Form hat.“ Echte Bildung enthält „immer Entwicklungsfähigkeit und Weiterwachsen, weil sie selbst ja im Grunde nichts ist als ein veredeltes Entwicklungsergebnis. Diese Veredlung wird gewonnen 31durch Kultureinflüsse … In den Kultureinflüssen selbst ist ein objektiver Wertgehalt gegeben …“ Sie machen den Menschen „einerseits fähig, Kulturgehalt zu verstehen …; andererseits erwecken sie in ihm selbst wertschaffende Kräfte, die das Verstehen und das Erlebnis wieder in objektive Kulturwerte (Leistungen) umsetzen … Es muß für diese erlebenden und schaffenden Kräfte auch ein persönlicher Mittelpunkt da sein, und indem die Kulturwerte auf diesen einheitlich bezogen werden, erhöht sich die rohe Individualität zur geformten Individualität oder zur voll gebildeten Persönlichkeit.“

Erziehung und Bildung wollen wir nicht eingeschränkt sehen auf den schulischen Bereich, wenngleich aus der pädagogischen Literatur häufig der Eindruck entsteht, als gäbe es nur diesen. Man könnte eher umgekehrt die Frage stellen, inwiefern unsere Schulen überhaupt in der Lage sind, zu erziehen und zu bilden. Außerdem sollen Erziehung und Bildung hier nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis gesehen werden; beide sind gleich wichtige Vorgänge der Menschwerdung und des Menschseins, die allerdings eng zusammengehören (Menze 1970, 158).

Wir gingen der Frage nach, was denn geisteswissenschaftliche Pädagogik sei, mit deren Methoden wir uns befassen wollen. Die einzelnen Gesichtspunkte, die sich ergeben haben, wollen wir uns nochmals vergegenwärtigen.

„Geisteswissenschaft“ ist als Begriff zunächst mehrdeutig und in ihrem Wissenschaftscharakter umstritten.

Als Geisteswissenschaften bezeichnet man die Wissenschaften der früheren philosophischen, theologischen und juristischen Fakultäten.

Unter dem Einfluss von I. Kant, dem Deutschen Idealismus und vor allem von F. Schleiermacher konzipierte W. Dilthey eine Theorie der Geisteswissenschaften, die er den Naturwissenschaften entgegensetzte .

Lebensphilosophie, geisteswissenschaftliche Psychologie und Geschichtlichkeit sind hierbei die wichtigsten Ansatzpunkte für Dilthey. Er ist auch der Begründer der geisteswissenschaftlichen Pädagogik.

Der Geist-Begriff im Hegel’schen Sinn trifft im Rahmen der „geistes“-wissenschaftlichen Pädagogik nur für einige Vertreter zu; zum Teil ist er eher irreführend. Unter Geist soll hier ganz allgemein dasjenige verstanden werden, was den Menschen gegenüber dem Naturding und dem Tier auszeichnet. Dadurch wird auch „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ von der Dilthey-Tradition unabhängig.

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Charakteristische Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Pädagogik sind: Geschichtlichkeit, insofern der Mensch Geschichte als feststellbare, vergangene Fakten hat und insofern er Geschichte ist, weil er frei und verantwortlich handeln kann; die Einmaligkeit, das Individuelle in jedem Einziehungs- und Bildungsvorgang; Ganzheit und Struktur des persönlichen und des geschichtlich-kulturell-gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs; Ziel-, Wert-, Sinnfragen im Hinblick auf Erziehung und Bildung; Erziehungswirklichkeit, Theorie-Praxis-Verhältnis sowie Autonomie der Pädagogik.

Am meisten ist geisteswissenschaftliche Pädagogik deshalb umstritten, weil sie die Möglichkeit einer voraussetzungslosen, „reinen“ Wissenschaft leugnet; sie betrachtet vielmehr die Erkenntnis als „Akt der Gesamtperson“ (R. Schwarz), somit auch als bedingt durch deren existenzielle Grundentscheidungen.

Geisteswissenschaftliche Pädagogik ist abzugrenzen gegen die normative und eine „philosophische“ Pädagogik und gegen die so genannte kritische Erziehungswissenschaft.

„Klassische“ Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sind: Dilthey, Frischeisen-Köhler, Spranger, Litt, Nohl, W. Flitner, Weniger, Meister, Kerschensteiner, Bollnow, Langeveld.

Als allgemeine Definition von Erziehung im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik kann die von R. Meister gelten: „Erziehung ist die planmäßige Führung, die die erwachsene Generation der heranwachsenden bei ihrer Auseinandersetzung mit der überkommenen Kultur angedeihen lässt.“

Definition von Bildung durch E. Spranger: „Bildung ist die durch Kultureinflüsse erworbene, einheitliche und gegliederte, entwicklungsfähige Wesensformung des Individuums, die es zu objektiv wertvollen Kulturleistungen befähigt und für objektive Kulturwerte erlebnisfähig (einsichtig) macht.“

Vor diesem Hintergrund müssen wir nun die Forschungsmethoden der geisteswissenschaftlichen Pädagogik sehen. Nach dem Gesagten lässt sich bereits vermuten, dass eine derartig konzipierte Pädagogik auf die Hermeneutik als geschichtlich-verstehende Methode angewiesen ist. Auch die wesenserfassende Beschreibung der phänomenologischen Methode sowie die dialektische Methode, die gegensätzliche Momente des Denkens und der Wirklichkeit reflektiert, werden sich als dieser Wissenschaft angemessen erweisen. Der Hermeneutik als verstehender und historischer Methode kommt dabei eine weiterreichende Bedeutung zu, weshalb zuweilen auch von „hermeneutischem Verfahren“ statt 33von geisteswissenschaftlichen Methoden gesprochen wird. Es wird sich aber zeigen, dass hermeneutisches Vorgehen nicht gleichgesetzt werden kann mit geisteswissenschaftlichem Denken. Hieraus ergibt sich dann indirekt eine Relativierung der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ im Hinblick auf ihren umfassenden Anspruch.

Zur Vertiefung und Ergänzung:

Huschke-Rhein (1979): Das Wissenschaftsverständnis in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Kron (1999): Wissenschaftstheorie für Pädagogen. Krüger (2002): Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft

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Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik

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