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Der Tag und seine Dimensionen

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Die Amerikaner wählen am 4. November 2008 den Demokraten Barack Obama (47) zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Er ist der erste schwarze Präsident in der Geschichte der USA, der den Republikaner George W. Bush nach zwei Amtszeiten von je vier Jahren im Weißen Haus ablöst. Barack Obama ist Sohn eines kenianischen Vaters und einer weißen Mutter, einer Amerikanerin, die früh an einem Krebsleiden verstarb. Großgezogen hat ihn die Großmutter mütterlicherseits, die am Tage vor der Präsidentschaftswahl in einem Hospital auf Hawai einem langen Leiden erlag.

Die Welt steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, die der Rezension der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entspricht. Großbanken erklären den Bankrott. In den letzten Tagen seiner Amtszeit paukt George W. Bush ein 700 Milliardenpaket zur Stützung der Banken und schwer angeschlagenen Wirtschaft durch den Senat und das Repräsentantenhaus. Der Irakkrieg, der 2002 unter der falschen, beziehungsweise gefälschten Annahme von Massenvernichtungswaffen inszeniert wurde und zum Sturz des sunnitischen Diktators Sadam Hussein und zu zigtausenden von Toten geführt hat, geht auch 2008 weiter, ohne dass ein Ende abzusehen ist. Die Amerikaner haben bei den Kämpfen im Irak an die 4000 Soldaten verloren. Über 30 000 Soldaten wurden schwer verwundet. Die Briten im Süden des Landes (Basra) haben einige hundert Soldaten verloren. Die Taliban in Afghanistan ist nach einem vier Jahre andauernden Krieg ungeschlagen, in der Logistik und in den Waffen stärker geworden und fordert immer höhere Verluste auf der Regierungsseite (Präsident Kazai) der Koalitionstruppen (Amerikaner, Briten, Deutsche, Franzosen, Polen). Der Ölpreis hat sich in einem Jahr verdoppelt. Die Kostenexplosion für Nahrungsmittel und in der Lebenshaltung im Allgemeinen ließ nicht auf sich warten. Hausbesitzer können ihre Bankschulden und Darlehen nicht zurückzahlen. Weltweit entlässt die Autoindustrie zu Tausenden die Arbeiter und Angestellten. Nicht anders ergeht es den Bankangestellten. Es wird umstrukturiert und neu strukturiert.

Barack Obama führte den fast einjährigen Wahlkampf gegen den republikanischen Herausforderer John Mc’Cain (72) unter dem Motto: “Change for America”. Im ANC (African National Congress) kommt es zur Spaltung. Alte Mitglieder sind empört, wie das Exekutivkomitee des ANC Thabo Mbeki im September 2008 aus dem Amt des Staatspräsidenten entfernt hatte. Morgan Tsvangirai von der ‘Movement For Democratic Change’ und Robert Mugabe (84) von der SANU-PF, der seit 26 Jahren als Präsident die Belange Simbabwes und seiner Menschen diktiert, sich selbst dabei übergebührlich bereichert hat und die einstige hoch entwickelte Infrastruktur auf den Ruin gebracht und aus der ehemaligen Kornkammer des südlichen Afrikas ein Hungerhaus des Elends und der Not gemacht hat, ringen im November 2008 um eine faire Machtverteilung, nachdem die Präsidentschaftwahlen bereits im März mit einem Sieg der ‘Movement For Democratic Change’ abgelaufen waren. Robert Mugabe erklärt öffentlich, dass, was auch kommen mag, ihn keiner aus dem Präsidentenamt vertreiben könne. Polizei und Schlägertrupps der Mugabe-Partei schlagen auf die Menschen der Opposition und auf wehrlose Menschen ein, die sich über die leeren Regale und unerschwinglich hohen Preise beklagen. Millionen Simbabwer fliehen nach Süd Afrika, Sambia und Tansania. Die internationale Hungerhilfe wird in ihrer Aktion behindert. Mugabe wirft den Hilfsorganisationen vor, dass sie politisch agieren und ihn aus dem Präsidentenstuhl heben und entfernen wollen.

In Namibia haben sich ehemalige SWAPO-Veteranen aus der Regierungspartei abgesetzt und sich in der neu gegründeten Partei RDP (Rally for Democracy and Progress) zusammengetan. Im Nigerdelta entführen Nigerianer seit Jahren Arbeiter und Angestellte der internationalen Ölkonzerne. So tun es die Piraten auf Motorbooten vor der Küste Kameruns, die Arbeiter auf den Bohrinseln in ihre Gewalt bringen. Sie fordern Beteiligung am Profit der Ölgeschäfte. Die Politiker mit den einstmals großen Lippen, was sie für die afrikanischen Völker tun wollen, sind zu unersättlichen Geldfressern geworden. Die Korruption und Vetternwirtschaft blüht in den afrikanischen Ländern in unvorstellbarem Ausmaß, während die Menschen durch Hunger, Vertreibung und Elend zu Tausenden dahinsterben. José Eduardo dos Santos, der der MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola) vorsteht und seit 1979 Präsident des Landes ist, bereichert sich mit den wenigen von ihm Erwählten an den Öl- und Diamantengeschäften in astronomischen Dimensionen, als gäbe es kein Volk, dem der natürliche Reichtum des angolanischen Bodens ebenso zugute kommen sollte, und häuft die Milliarden seit Jahren auf portugiesischen und anderen internationalen Bankkonten, während das Volk in seiner großen Mehrheit nach dem langen Macht- und Verzehrungskrieg noch verwundet und in bitterer Armut lebt.

Barack Obama spricht auf der Großkundgebung am 5. November 2008 im großen Park von Chicago vor den zweihunderttausend Besuchern von den großen Werten im Menschen und in der Gemeinschaft, die es zu achten und zu pflegen gilt. Das hat Obama einige Wochen vorher vor den hunderttausend Berlinern auch gesagt. Die Frage bleibt, ob die sich rücksichtslos bereichernden afrikanischen Präsidenten und Politiker eine Ahnung haben, wovon Barack Obama spricht, wenn er diese Werte in den Bezug zur politischen Verantwortung, dem politischen wie menschlichen Anstand und zur Ehrlichkeit und der persönlichen Bescheidenheit setzt.

Der kubanische Arzt Dr. Fernandez verlässt nach einer arbeitsreichen Nacht das Flat auf dem Krankenhausgelände im Norden Namibias, um an der Morgenbesprechung im Büro des Superintendenten teilzunehmen. Diese Besprechung ist eine Routineeinrichtung, die von geringer oder keiner praktischen Bedeutung ist, seitdem er vor mehr als zwei Jahren seine Tätigkeit in der Abteilung der Gynäkologie und Geburtshilfe aufgenommen hat. Dr. Fernandez ist nicht der einzige kubanische Arzt, der das Ärzteloch am Krankenhaus stopft. Seine kubanischen Kollegen, die einen Großteil der Ärzteschaft am Krankenhaus ausfüllen, sind auf die anderen Abteilungen wie Chirurgie, Pädiatrie und interne Medizin verteilt. Die namibischen Ärzte, die zum Teil auf Kuba zur Schule gegangen waren und das Medizinstudium begonnen und dort abgeschlossen haben, sind in “höhere” Posten innerhalb der medizinischen Verwaltungshierarchie mit klimatisierten Büros, Telefon, höherem Gehalt für weniger und ohne direkte Arbeit am Patienten in den heißen Krankensälen und im schweißtreibenden OP aufgerückt oder haben sich als Ärzte für Privatpatienten niedergelassen. Dr. Fernandez weiß um die Diskrepanz zwischen den Lippenbekenntnissen, als Arzt den kranken Menschen zu helfen, und den Fakten, sich “klimatisch” zu verbessern, was mit dem erstrebten höheren Gehalt automatisch verbunden ist, oder sich als Privatarzt auch für das Geld des Patienten zu interessieren. Er selbst hätte es nicht anders getan, wenn er auf Kuba eine Privatpraxis hätte betreiben können, was er im anachronistisch verkalkten System des letzten Inselsozialismus nicht konnte, stattdessen mit seinen Kollegen als ärztlicher Exportartikel und Devisenbringer in die Dritte Welt nach Afrika geschickt wurde.

Es ist ein kalter Aprilmorgen auf der nördlichen Halbkugel nahe dem Görlitzer Längengrad und dem 53. Breitengrad Nord, als drei Turmglocken zum Trauergottesdienst für den verstorbenen Pfarrer Härtel läuten, der mit Anfang sechzig plötzlich an den Folgen einer Hirnblutung verstorben war. Wer war dieser Pfarrer? Er war ein paulinischer Prediger und unerschrockener Verkünder der Botschaft Gottes. Dabei scheute sich dieser Pfarrer nicht, auf die Unebenheiten und Ungereimtheiten des Lebens im sozialistischen Gleichheitsstaat hinzuweisen und die asozialen Tücken anzuprangern, weil die Gleichheit von Ungleichheiten mit dem Absahnen durch die Parteinomenklatura durchsetzt war, was nicht der Idee des Sozialismus mit dem Prinzip der Verantwortung entsprach und auch nicht mit dem allgemeinen menschlichen Verstand zu verstehen und zu rechtfertigen war. Für seine kritischen Äußerungen bekam Pfarrer Härtel einige Male Besuch von der Staatssicherheit. Auch wurde er zweimal von der Behörde zu klärenden “Gesprächen” vorgeladen. Ob der Superintendent für diesen mutigen Pfarrer ein Wort eingelegt hatte, ist nicht bekannt und nach dem allgemeinen Verhalten kirchlicher Vorgesetzter in politischen Engpässen mit dem Angstanstieg bis zum Hirn und der Schockwelle vor dem Verhör bis ins Knochenmark eher zu verneinen. Dennoch kann es als ein glücklicher Umstand verstanden werden, der sich zweimal ereignete, dass Pfarrer Härtel zweimal lebendig und mit einem blauen Auge ohne zusätzlichem Brillenhämatom von der Verhörsprozedur zurückgekehrt war. Er genoss hohes Ansehen in der Gemeinde und von den Bürgern der kleinen Stadt, die ihm seinen Einsatz für die Belange der Armen und Waisen und seinen Mut hoch anrechneten, den Zeigefinger ohne zu wackeln auf die ideologisch undichten Schwachstellen des runtergekommenen und abgewirtschafteten Systems zu drücken.

Von daher nimmt es nicht wunder, dass die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt ist, während die Glocken noch läuten, die bei den in Wintermänteln auf den Bänken Sitzenden die Erinnerung an den unerschrockenen Mahner, den paulinischen Prediger und Pfarrer der Armen und Waisen in die Erinnerung zurückläuten. Der Superintendent und andere Würdenträger mit und ohne hängende metallne Brustkreuze und ganz normale Pastore haben auf den ersten Bänken ihre Plätze eingenommen. Die Glocken schlagen zu Ende, und der Organist drückt die Finger ins Manual zum leisen Vorspiel mit den Dreiklängen in f-Moll, As-Dur und b-Moll. Dann dreht er einige fugale Kurven und die Fußrolle zur vollen Lautstärke auf, macht eine Gedankenpause und intoniert das erste Lied.

Superintendent Engelbrecht hält den Trauergottesdienst und spricht den Nachruf, in dem er Pfarrer Härtel in einer Art Zusammenfassung einen aufrechten Botschafter des Gotteswortes nennt, ohne auf die Einzelheiten einzugehen, die seine Aufrichtigkeit ausmachten. So bleiben die wiederholten Besuche der Staatssicherheit in der beengten Dachwohnung bei Pfarrer Härtel und die beiden Vorladungen und Verhöre im Haus des Ministeriums der Staatssicherheit unerwähnt, obwohl nach dem Untergang des Systems mit dem sozialistischen Stern die Redefreiheit ohne Strafverfolgung oder andere Nachteile fürs Leben praktiziert werden konnte. Im denkerischen Rückschlussverfahren liegt die Annahme deshalb unter der Gaußschen Glockenkurve der Wahrscheinlichkeit, dass zur Zeit der Besuche von und der Verhöre bei der Staatssicherheit der mutige Pfarrer Härtel als Einzelkämpfer seinem Schicksal überlassen war, das doch so oft ein böses Ende genommen hatte. Jedenfalls hatte sich der damals junge Superintendent da nicht in irgendeiner Form ‘eingemischt’ und sich für den Pfarrer in Not eingesetzt. Die Notsituation sollte begrenzt bleiben, so gut es unter den damals herrschenden politischen Umständen des plötzlich übergestülpten Sozialismus Marxscher Prägung möglich war. Der “rote Strick” sollte nicht noch um einen zweiten Hals gelegt werden.

Das war zur Blütezeit der deutschen Denunziation in den ersten Nachkriegsjahren, dass Pfarrer Klaus Härtel von zwei Herren der Staatssicherheit an einem späten Donnerstagabend in seiner engen Mansarde aufgesucht und in ein verhörartiges Gespräch gezogen wurde. Die Herren mit dem Händeschluss auf den ovalen Parteiabzeichen hielten sich namentlich anonym, als sie dem Pfarrer, der beruflich noch Jungpfarrer war, obwohl er an Jahren nach Stalingrad und sieben Jahren Arbeitslager im nordsibirischen Dudinka am Unterlauf des Jenissei so jung nicht mehr war, mtteilten, dass er in einer schwierigen Situation stecke. Die Herren veranstalteten eine Durchsuchung in der kleinen Dachwohnung, wobei sie buchstäblich alles auf den Kopf stellten, dass der Pfarrer es vorzog, die Nacht auf dem harten Stuhl am kleinen Tisch im kleinen Wohn- und Arbeitszimmer zu verbringen. Die Herren von der Staatssicherheit teilten am Ende ihres Besuchs dem Pfarrer mit, dass er sich am Sonntagmorgen zu einem klärenden “Gespräch” im Haus der Staatssicherheit in der Burgstraße 17 einzufinden habe.

Der seinerzeitige Superintendent köpfte sein Frühstücksei, wie die Haushilfe Dorothee in einem Vorgespräch, das ein Gespräch am Türspalt mit vorgehängter Kette war, mitteilte. Sie sagte, dass sich der Herr Superintendent beim Frühstück nicht stören lassen wolle, und schlug dem Pfarrer vor, nach einer halben Stunde noch einmal vorbeizukommen.

Bei dem Gespräch im Büro des Superintendenten am großen Schreibtisch mit der polierten und bis zur Leere aufgeräumten Mahagonischreibtischplatte ließ der kirchliche Vorgesetzte keinen Zweifel, dass er für seinen bedrängten Pfarrer nicht einen Finger krümmen oder anderswie bewegen würde. Das Argument der Obrigkeit war schlicht und ergreifend: Wer sich die Suppe eingebrockt hatte, sollte sie dann auch selbst auslöffeln. Der “Jungpfarrer” im Probejahr zum herabgesetzten Gehalt stieß auf taube Ohren, als er dem Superintendenten klarzumachen versuchte, dass es sich um ein Problem handle, das die Kirche in ihrer Aufgabe als Ganzes direkt betreffe und er deshalb die Unterstützung der Kirchenleitung brauche. Darauf antwortete der Superintendent: “Pfarrer Härtel, das ist nicht möglich. Es ist schließlich Ihr Problem, und Sie müssen das Problem selbst aussortieren. Das kann kein anderer für Sie tun. Das können Sie auch von keinem anderen verlangen.” Der Superintendent hatte sich vor dem Pfarrer in seiner Not gewissenlos und unverantwortlich gemacht. Er hatte diesem Pfarrer das Festmachen des Rettungsseiles am polierten Schreibtisch des Büros der örtlichen Kirchenleitung verwehrt und sich von der misslichen Lage abgeseilt. Er hat den um Hilfe bittenden Pfarrer wie eine heiße Kartoffel fallengelassen.

Pfarrer Härtel bekam als Neunzehnjähriger bei der Schlacht um Stalingrad einen Schuss in die rechte Schulter. Seitdem war der rechte Arm gelähmt und funktionslos. Er kam in Gefangenschaft und erlitt im Arbeitslager Dudinka Erfrierungen an den Händen und Füßen. Der kurzgewachsene Vorsitzende mit dem ovalen Parteiabzeichen fragte den Pfarrer im Verhör, das über mehrere Stunden ging, nach den Verletzungen und deren Ursache.

Der Urteilsspruch nach dem “Sonntagsgespräch” war wie folgt: “Pfarrer Härtel, Sie werden aufgrund Ihrer verleumderischen Reden, die gegen die Deutsche Demokratische Republik und ihre Menschen gerichtet waren, zu zwei Jahren Putzarbeit im städtischen Krankenhaus verurteilt. Während dieser Zeit wird Ihnen das Reden von den Kanzeln der Kirchen untersagt.

Begründung: Das Gespräch hat eindeutig und zweifelsfrei erwiesen, dass Sie im Vollbesitz des Geistes waren, als Sie Ihre Kanzelreden vom Stapel ließen, die zur Versöhnung und Verständigung der Menschen nicht nur nicht beigetragen haben, sondern im hohen Maße abträglich waren. Es waren schädliche Reden, die Sie von sich gegeben haben. Von weiteren Beschreibungen der Schädlichkeit Ihrer Reden, wie sie im Gespräch detailliert aufgeführt und erörtert wurden, will ich hier absehen.

Zum Strafmaß: Es ist die geringste Strafe in Anbetracht der von Ihnen begangenen Vergehen gegen die Deutsche Demokratische Republik und ihre Menschen, die Ihnen auferlegt wird. Zur Abmilderung der gewöhnlich für diese Vergehen auszusprechenden Strafe hat beigetragen, dass Ihr Vater als mutiger Antifaschist im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde und dass Sie selbst bereits erhebliche Körperschäden durch den Krieg und seine Folgen davongetragen haben.

Dennoch: Der Verurteilte kann den linken Arm voll bewegen. Den soll er in den zwei Jahren zum Putzen der Krankenhausfenster gebrauchen, dass er beim Blick durch die geputzten Fenster die Deutsche Demokratische Republik in einem anderen Licht und klarer sieht, als er sie bislang gesehen und in seinen verdrehten Reden beschrieben hat. Ganz offensichtlich hat er durch trübe oder sonst wie verschmierte Fensterscheiben geblickt, dass er solch trübe, abstoßende Bilder in seinen Reden von sich gab. Ihm hat die helle Wirklichkeit dieser Republik vor den Augen geflimmert, aber nicht eingeleuchtet.

Damit ist die Sitzung beendet.”

Beim Schlusszeremoniell schrie ihn der Vorsitzende an: “Stehen Sie auf und heben Sie die Hand!” Pfarrer Härtel war vom Vorgang des Verhörs und dessen Ausgang zutiefst erschüttert und erhob sich als Letzter vom Stuhl. Durcheinander und geistesabwesend hob er den linken Arm mit dem narbig verzogenen Handrücken und den verstümmelten Fingern nach oben. Der Faustschluss mit den bizarr stehenden Fingerstümpfen und kontrakten Narben war nicht möglich. So zeigten die unterschiedlich langen Fingerstümpfe mit den hässlichen, derb-weißen Narbensträngen am Handrücken in abstoßend-erschreckender Weise ein lebendes Mahnmal der Geschichte. Dieses Mahnmal des Schreckens und Leidens wurde durch den schlaff herabhängenden, gelähmten rechten Arm noch betont. Pfarrer Härtel stand vor dem kurzgewachsenen Vorsitzenden und seinen über den Kopf hinaus gewachsenen Beisitzern sprach- und hilflos mit dem erhobenen linken Arm wie einer da, der sich linksseitig – weil er es rechtsseitig nicht mehr konnte – ergeben hatte oder mit dem einen erhobenen Arm vor der Erschießungsmauer stand.

Der Vorsitzende, die vier Beisitzer und die Besucher auf den beiden Stuhlreihen – alle mit dem ovalen Parteiabzeichen – ballten die Fäuste an den vorgestreckten rechten Armen und sprachen unisono die Schlussformel in hymnischer Lautstärke: “Es lebe das Proletariat der Arbeit! Es lebe der Sozialismus! Hoch lebe unser Genosse Wilhelm Pieck! Hoch lebe der Führer des Weltproletariats, der große Führer und Genosse Josef Wissarionowitsch Stalin! Hoch lebe die Deutsche Demokratische Republik!”

Die Hospitäler im Norden Namibias sind überfüllt. Es ist Sommer, und die Bullenhitze drückt in den Krankensälen. Ärzte und Schwestern schwitzen in den Untersuchungs- und Behandlungsräumen des “Outpatient department”, wo es die “Klimaanlage” seit Monaten oder Jahren nicht tut oder nicht gibt, oder es der Ventilator für den erhitzten Raum nicht schafft oder wegen eines Stromausfalles zum Stehen gekommen ist. Das Ausmaß des Patientenandrangs vor diesen Räumen ist europäischen Augen ebenso ungewohnt wie die Tatsache, unter afrikanischen Wetter- und anderen erschwerten Bedingungen die vielen Patienten zu untersuchen und zu behandeln oder stationär aufzunehmen. Die Leistungen, die tagtäglich geschafft werden müssen, übersteigen weit die Leistungsanforderungen, die an Ärzte und Schwestern auf der nördlichen Halbkugel unter den unvergleichlich besseren Arbeitsbedindungen gestellt werden.

Die Morgenbesprechung hat keine neuen Erkenntnisse gebracht. Dr. Fernandez verlässt mit den anderen Kollegen und Kolleginnen das Büro des Superintendenten und geht zum Op-Haus. Drei gynäkologische Operationen stehen auf der Liste, die durch Notfall-Kaiserschnitte länger werden kann. Er wechselt im Umkleideraum die Zivilkleidung gegen die grüne OP-Kleidung und nimmt im kleinen Doktors’ Teeraum für eine Tasse Instantkaffee mit dem Chicoréezusatz Platz. Drei afrikanische Kollegen, zwei Nigerianer und ein Ugander sind im Teeraum, die auch mit einer Tasse Instantkaffee zugange sind, ohne sich dabei etwas zu sagen. Sie rühren entweder mit dem Blick auf die Tassen die drei oder vier Teelöffel Zucker mit der Geduld afrikanischer Engel in den Tassen um oder schauen über den kleinen, schmalen, rechteckigen Klubtisch mit der verkratzten und von Kugelschreibern verkritzelten Holzplatte zur anderen Seite über die Köpfe der dort sitzenden Kollegen hinweg gegen die weiß gestrichene Wand mit dem Gelbstich der vielen Jahre des ausgebliebenen Neuanstrichs. Blicke in entgegengesetzter Richtung gehen durch die Fensterfront der Trennwand zum breiten Korridor mit den von dort abgehenden OP-Sälen und Handwaschpassagen. Dr. Fernandez denkt an seine junge Frau und an den dreijährigen Sohn George, die in Matanzas, einer Stadt nicht weit von Havanna entfernt, zurückgeblieben sind. Margarita, seine Frau, hat oft den Wunsch geäußert, auf eine der Auslandsmissionen mitgenommen zu werden, um einmal von der Insel wegzukommen und einen Blick in den Rest der Welt tun zu können. Dabei sind es die Länder der Dritten Welt, wohin die kubanischen Exportartikel als Ärzte, Lehrer und Landbauexperten geschickt werden.

Da in der Vergangenheit Kubaner nicht mehr nach Kuba zurückgekehrt sind, sondern sich in andere Länder wie Angola, Portugal, Kanada oder den Vereinigten Staaten als politische Flüchtlinge abgesetzt haben, sind die Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung solcher Grenzüberschreitungen drastisch erhöht worden. Es ist den ‘Export’-Kubanern untersagt, ihre Frauen oder ihre Frauen und Kinder auf die Reise mitzunehmen. Ähnliches gilt für die ‘Export’-Kubanerinnen, die Mann und Kind auf der Insel des Sozialismus zurückzulassen haben. Die Reisepässe werden von der kubanischen Botschaft einbehalten. Auf den Flügen von und zur Heimatinsel werden die Pässe der Kubaner von der ‘system-zuverlässigen Reisebegleitung’ verwahrt. Ob die Person mit den eingesammelten Pässen in den Händen oder in der Tasche auch vom Grenzübertritt in die Freiheit träumt oder an ein Leben ohne den orthodox erstarrten Inselsozialismus denkt, ist eine Vermutung, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist.

Dr. Fernandez fragt sich auch, ob afrikanische Ärzte leistungsbezogen den kubanischen ‘Exportartikeln’ vergleichbar sind. Doch sind die Länder, aus denen die schwarzen Kollegen kommen, schon lange unabhängig. Oder ist es gerade die seit langem bestehende Unabhängigkeit in den afrikanischen Ländern ihrer Herkunft, dass diesen Kollegen im gerade unabhängig gewordenen Namibia ein besseres Leben mit dem höheren Lebensstandard vorschwebt. Denn altruistisch sehen die gut genährten schwarzen Gesichter nicht aus. So kommen Fragen auf, die offen nicht zu stellen sind, dass beim Versuch der Antwort auf die hypothetische Näherung im Sinne der Vermutung zurückgegriffen wird. Die Kollegen hüllen sich in Schweigen. Sie gehen der Kommunikation zur besseren Verständigung von vornherein aus dem Weg. Jeder stiert auf oder in die Tasse oder starrt gegen die weiß gestrichene Wand mit den gelben Altersflecken oder durch die Fensterfront der Trennwand in die entgegengesetzte Richtung, den Korridor mit den anrollenden und wegrollenden Patiententragen, den hin und her eilenden Schülern und Schülerinnen der Krankenpflege und den sich langsamer bis erstaunlich langsam bewegenden Schwestern der mehrjährigen Erfahrung und ihren angesetzten gesäßigen Gewichtigkeiten.

Die erste Operation ist die Entfernung der Gebärmutter [Hysterektomie] bei einer 37-jährigen Patientin wegen unregelmäßiger Blutungen nach fünf Entbindungen, wovon zwei Fehlgeburten waren. Es ist heiß im OP. Der Schweiß tropft von der Stirn, dass die Narkoseschwester das Gesicht in kurzen Intervallen mit einer Kompresse trocknet. Während Dr. Fernandez die großen Gefäße des Uterus abklemmt, durchtrennt und unterbindet, schweifen seine Gedanken zu seiner Familie in Matanzas, der kleinen Stadt östlich von Havanna. Auch Margarita, seine junge Frau, leidet seit der Geburt des Sohnes George vor drei Jahren unter schmerzhaften Menstruationen mit starken Blutungen. Bei der Ultraschalluntersuchung wurden zwei Myome gefunden, die, wenn sie weiter wachsen, operativ entfernt werden müssen. Das hat sich Dr. Fernandez für den nächsten Heimaturlaub fest vorgenommen. Denn die Gebärmutter sollte Maragrita mit ihren 32 Jahren behalten, damit sie noch ein Töchterchen zur Welt bringen kann, vorausgesetzt, dass sich die allgemeine Lage auf Kuba bessert, was möglich ist, wenn die Administration in Washington unter dem neuen Präsidenten Obama die jahrzehntelangen Wirtschaftssanktionen gegen den sozialistischen Inselstaat lockert beziehungsweise aufhebt. Dr. Fernandez hat den Uterus bei der 37-jährigen Patientin entfernt und revidiert das OP-Feld, um letzte Blutungen durch Koagulation oder Gefäßunterbindung zum Stehen zu bringen. Dann vernäht er die Schichten der Bauchdecke und deckt die Wunde mit einem sterilen Verband ab.

Die OP-Liste wird unterbrochen durch einen Notfall-Kaiserschnitt bei einer 19-jährigen Kreißenden mit einem fetalen Armvorfall. Ein “fliegender” Patientenwechsel erfolgt auf dem OP-Tisch im heißen OP-Saal. Die Schwester säubert die Bauchhaut der jungen Mutter bis zur Schamfuge, während Dr. Fernandez sich die Hände über der tiefen Zinkwanne in der Handwaschpassage wäscht, mit einigen Lagen Fließpapier abtrocknet, und darauf wartet, dass die Schwesternschülerin die Schlaufen des grünen OP-Kittels über dem Rücken verschnürt. Operateur und assistierende OP-Schwester beweisen erneut Erfahrung und Geschicklichkeit. Nach wenig mehr als zehn Minuten wird das Baby per Kaiserschnitt geboren. Außer dem Armvorfall, der der natürlichen Entbindung im Wege stand, hatte das Neugeborene, das ein Mädchen mit deutlichem Untergewicht war, noch einen angeborenen Wasserkopf, der den normalen Geburtskanal nicht passiert hätte. Die junge Mutter liegt in Narkose und hofft auf ein gesundes Kind. Dr. Fernandez schließt den Gebärmutterhals und die Bauchdecke und stellt sich den Schreck des Lebens dieser jungen Mutter vor, wenn sie aus der Narkose erwacht und das Kind mit der hässlichen Missbildung sieht und es als ihr Kind anzunehmen und an die Brust zu legen hat. So hält die Natur für jeden Menschen etwas Besonderes bereit. Der sterile Wundverband wird aufgelegt und die Mutter vom OP-Tisch auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren.

Die nächste Operation, die als zweite auf der Liste steht, ist die Entfernung eines tumortragenden Eierstocks mit Tubenligatur auf der anderen Seite bei einer 35-jährigen Frau im reduzierten Allgemeinzustand. Sie hat als Mädchen die Lungentuberkulose durchgemacht und sechs Jahre die erforderlichen Medikamente eingenommen. Die Patientin zeichnet sich durch eine erhöhte Intelligenz aus. Sie besuchte die Volksschule bis zur sechsten Klasse, kann die Zeitung lesen und über ihren Namen hinaus einige Sätze schreiben. Ihre Vorgeschichte ist afrikanisch: Sie war sechzehn, als der Klassenlehrer mit ihr im Hostel sexuell verkehrte. Sie wurde schwanger und musste die Schule verlassen. Zu ihrer Aufgabe gehörten das morgendliche und nachmittägliche Wassertragen vom Brunnen, die Feldarbeit und das Sauberhalten des Kraals. Sie brachte ein Mädchen zur Welt, das an einer Magen-Darminfektion mit zwei Jahren verstarb.

Dr. Fernandez findet das Leben für die afrikanischen Frauen und Mädchen schwer bis unerträglich. Sie müssen hart arbeiten und werden von Männern, die ein vergleichsweise leichtes und faules Leben führen, zurückgesetzt, diskriminiert und geschlagen. Wo ist die Achtung vor der Frau und den Kindern? Wo ist der Respekt vor dem Menschen? Diese Frage stellt sich Dr. Fernandez jeden Tag, wenn er die Anamnesen der Patientinnen erhebt, sie untersucht und operiert. Er kann sich die Dichotomie nicht erklären, weil er die Frage nicht beantworten kann, ob die afrikanische Kultur so weit unterentwickelt ist, dass die Männer die Frauen schlecht bis unmenschlich behandeln, oder ob die Tradition in Bezug auf die sozialen Aspekte bereits verludert ist. Hinzu kommt die hohe Zahl von Gewalttätigkeiten an Frauen und Kindern, die große Zahl von Vergewaltigungen und Kindesmisshandlungen. Diese Art der Kriminalität nach der Unabhängigkeit Namibias wird begleitet von der rasanten Zunahme von Überfällen, schweren Raubüberfällen und Raubmorden sowie den zahllosen Einbrüchen und Diebstählen. Die Verbrecher bedrohen die Opfer mit vorgehaltenem Messer oder der Schusswaffe und stechen ein oder schießen rücksichtslos bei jeglicher Art von Widerstand. Was oft erstaunt ist die Tatsache, dass das Delikt des Diebstahls schwerer bestraft wird als der Tatbestand des vorsätzlich begangenen Mordes. Wo sind hier die Verbindungslinien zur afrikanischen Tradition, um zu verstehen, dass der Wert des menschliches Lebens so weit runter relativiert werden kann?

Diese Art der Geschlechterdiskriminierung gibt es auf Kuba nicht und auch nicht die explosionsartige Zunahme der schweren Verbrechen. Doch gibt es auf Kuba auch nicht die so weit klaffende Schere zwischen arm und reich. Es sind nicht nur die Weißen, die in ihrer überwiegenden Zahl wohlhabend sind. In Namibia sind es mehr die Schwarzen in der Regierung und den staatlichen und halbstaatlichen Organisationen, die sich über die bereits überzogenen Gehälter und Zuschüsse noch zusätzliche Einkommen in die Taschen schieben, und das im vollen Wissen um die beschämend-erbärmliche Rentenzuteilung an die stillen, alten und wehrlosen Menschen im Lande. Dass die Frauen der Minister andere hohe Posten bei bester Bezahlung und weiteren Vergünstigungen beziehen, ist mit der Unabhängigkeit gang und gäbe. Die in Großsprüchen laut getönte Gleichheit und Gerechtigkeit sieht in der Praxis anders und kümmerlich aus, wo sich die durch parteiinternen Handschluss in den enormen existentiellen Vorteil Gebrachten der hohen Nomenklatura diametral von der Gesellschaft mit den harten Alltagsproblemen der hohen und weiter steigenden Arbeitslosigkeit absetzt. Selbstbereicherung, Vetternwirtschaft und Skrupellosigkeit der Leute, die das Sagen haben, sind an der Tagesordnung, als gehören sie zu den fundamentalen, unveräußerlichen Imponderabilien afrikanischer Traditionen und ihrer Erfolgspraktiken. Die afrikanische Renaissance geht einher mit dem erhöhten Quantum an Dickschädeligkeit und Durchsetzungskraft. Die Achtung vor denen, die es existentiell ‘geschafft und zum Wohlstand gebracht’ haben, ist afrikanisch noch immer und erstaunlich groß. Achtung und Mitgefühl für die Menschen in Armut und Not sind dagegen gering, vernachlässigt worden, verkümmert oder verlorengegangen.

Der Inselsozialismus gibt gegenüber der afrikanischen Unabhängigkeitsgesellschaft doch mehr Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit und gegenseitige Hilfsbereitschaft mit dem stärkeren Zusammenhalt. Für Dr. Fernandez ist es keine Frage, dass er sich in einem solchen Land wie Namibia nicht zuhause fühlen würde. Hinzu kommt das harsche, aride Klima mit den heißen Sommermonaten und die fremde, für ihn hart klingende Sprache mit den kantigen Konsonanten und die monotone Art des Sprechens. Überhaupt erscheint ihm der kulturelle Aspekt, den Namibia im Norden bietet, eintönig-trocken, ja armselig und von Grund auf entwicklungsbedürftig. Seine ärztliche Mission ist auf zwei Jahre festgesetzt, von denen er erst vier Monate hinter sich gebracht hat. Auch wenn es die zweite Mission ist, wird es eine schwere Zeit werden, ohne Margarita und seinen dreijährigen Sohn George die Zeit durchzustehen.

Es stößt auf Widerstand, als medizinischer ‘Exportartikel’ in die Dritte Welt geschickt und ausgebeutet zu werden, wenn die namibischen Ärzte, die auf anderer Länder Kosten Medizin studiert haben, sich nach den ‘höheren’ und besser bezahlten Posten in klimatisierten Büros mit Telefonanschluss orientieren und die harte Arbeit am Patienten in den heißen Räumen mit den fehlenden oder defekten Klimaanlagen den nicht-namibischen Ärzten überlassen. Wo ist der viel gesprochene Patriotismus zum Wohle der Menschen? Das Absetzen nach ‘oben’ schließt das Absetzen von den Nacht- und Wochenenddiensten ein. Es ist kein Zweifel: Die besseren Posten mit der höheren Bezahlung und dem Mehr an Sagen in den bequemen, klimatisierten Büros waren vornehmlich den namibischen Exil-Ärzten vorbehalten, während die harte Arbeit am Patienten unter den extremen Bedingungen für die anderen Ärzte blieb. Da kommt die Frage auf, was in dem afrikanischen Land unter Gleichheit, Verantwortung, harter Arbeit, Fairness, Kollegialität und so weiter verstanden wird, und wie diese Art der Arbeitsauffassung mit der “Arbeitsteilung” noch weitergehen soll und kann. Wenn es aber um Privatpatienten geht, da werden die namibischen Ärzte doch aktiv. Das Geld hat für sie die Anziehungskraft, die der Patient mit den leeren Händen für sie nicht hat. Die alte Weisheit bestätigt sich aufs Neue: Über Gleichheit, Verantwortung, Disziplin und Bescheidenheit wird viel geredet. Doch die, die am meisten darüber reden, das Reden dann noch berufsmäßig tun, praktizieren es am wenigsten. Die Scherenblätter klaffen zwischen der schlichten Ehrlichkeit und der politisch-opportunistischen Großmäuligkeit; sie klaffen weit zwischen der Wahrheit und der Lüge. Es braucht die tiefere Einsicht in die Werte afrikanischer Traditionen, um das zu verstehen in einem Land, dem so viel Sympathie entgegengebracht und materielle Unterstützung gewährt wurde in den Jahren nach seiner Unabhängigkeitswerdung.

Es ist die Zeit, als in Darfur Millionen aus ihren Dörfern vertrieben werden und Hunderttausende den Hungertod sterben. Es ist die Zeit, als im Osten der Demokratischen Republik Kongo erneut die Machtkämpfe ausbrechen. Ruandische Tutsi-Rebellen kämpfen gegen die kongolesischen Regierungstruppen. Menschen werden aus ihren Dörfern und Städten vertrieben. Der Flüchtlingsstrom schwillt auf mehrere Hunderttausend an. Eine weitere afrikanische Katastrophe ist unter den Augen der Welt in vollem Gange. Afrika ist der Kontinent der reichen, der sehr reichen und sich trotzdem weiter bereichernden Präsidenten und der hungernden, in bitterer Armut vegetierenden Völker und der ständigen Kriege um die Bodenschätze und die Macht.

Die andere Merkwürdigkeit ist die hohe Selbstmordrate junger Menschen nach der Unabhängigkeit, die offensichtlich den Glauben in die bessere Zukunft verloren haben. Unter ihnen finden sich Schulabgänger mit Matrik und Studenten am Polytechnikum und der Universität. Es ist die hohe Arbeitslosigkeit und die Verfilzung der höheren Posten durch Vetternwirtschaft und andere skrupellose Machenschaften, die die Sicht mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz trüben, der dem Bildungs- und Ausbildungsstand entspricht. Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Verantwortung sind noch nicht bis auf den Stand der Zeit entwickelt, der nötig ist, um ein wirkliches Vertrauen in die Zukunft in der jungen Generation aufkommen zu lassen. Schamlose Korruption und rücksichtslose Selbstbereicherung der an den Hebeln der Macht Klebenden und Sitzenden haben gegen alle großmäuligen Reden, Bekenntnisse und Versprechungen die dunklen Wolken der existentiellen Unsicherheit auf die Straße der Zukunft gebracht.

Dem ständigen Anziehen der Kostenschraube für die ganz normale Lebenshaltung ohne jeglichen Luxus folgt die Skepsis, dass sich an den Verhältnissen der immer wieder gesprochenen Gleichheit und staatlich praktizierten Ungleichheit durch Korruption und Vetternwirtschaft in absehbarer Zeit etwas ändern wird, zumindest nicht, so lange die erste Garde der “Gefräßigen” sich weiter bereichert und sich mit den großen Worten vom heroischen Befreiungskampf die Hebel der Macht nach ihrer Willkür und zu ihrem Vorteil hin und her schaltet und zuschiebt. Diese “VIPs” sind von “hungrigen” Exilveteranen und von opportunistischen Speichelleckern umringt und umschwärmt, die in zweiter Front den Rest der Sahne für sich abschöpfen und sehr genau darauf achten, dass der ihnen zugesprochene Rest nicht vom Volk mit dem nagenden Existenzdruck durch die hohe Arbeitslosigkeit und den ständig steigenden Lebenshaltungskosten durch das lauthals verkündete Prinzip der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit reduziert oder vorher weggelöffelt wird. Es ist die Jugend, die nach Vorbildern verlangt und die Frage immer lauter stellt: “Was soll aus uns werden, wenn das so weitergeht mit der Korruption und Vetternwirtschaft?”

Dr. Fernandez hat die letzte Operation beendet und legt den Wundverband auf. Die OP-Liste hat sich durch den Notfall-Kaiserschnitt hinausgeschoben. Die Mittagszeit ist fast vorüber, und Dr. Fernandez eilt sich, um im Speiseraum noch etwas auf den Teller zu bekommen.

Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! [Heinrich von Kleist: Penthesilea]

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