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Das Samstagabendgespräch

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Der Verein zur Rettung Schiffbrüchiger und von Straßenkindern hat zum halbjährlichen Gespräch in den Saal der inneren Mission eingeladen. Diese Gespräche, die vor einigen Jahren vom Missionspfarrer Peter Bardenbrecht ins Leben gerufen wurden, sind zu einer festen Institution in der Stadt geworden. Pfarrer Bardenbrecht, ein schlanker hochgewachsener Herr der Endfünfziger mit vollem ergrauten Haar, begrüßt die Ankommenden mit Handschlag und erkundigt sich nach ihren Leben. Dabei sagt er, um den Menschen Mut zu machen, den Standardsatz: Wenn Gott an den Menschen so zweifeln würde, wie die Menschen an Gott zweifeln, dann wäre er sich sicher, dass morgen, spätestens übermorgen die Menschheit sich ganz umgebracht hätte.

Der Saal hat sich über die Hälfte gefüllt, als Pfarrer Bardenbrecht das Abendgespräch kurz nach halb acht eröffnet und die Anwesenden herzlich willkommen heißt. Er stellt das Thema des Abends vor und schickt dem Gespräch die ersten Verse des 106. Psalms voraus:

Danket Ihm, denn gütig ist Er,

und seine Huld währt in Weltzeit.

Wer kann die Größe seiner Taten ermessen

und all seine wunderbaren Werke preisen?

Glück sei ihnen, die das Gebot halten

und vom Weg der Bewährung nicht abweichen.

Denk mein, Du, in der Gnade zu deinem Volk,

wirke mir entgegen, befreie mich!

Ansehen möcht’ ich das Wohl deiner Erwählten,

mich erfreuen an der Freude deines Volkes.

Lass mich dein Erbteil und deinen Namen rühmen,

auch wenn wir mitsamt unseren Vätern gesündigt haben.

Das Thema lautet: Die kranke Gesellschaft und der Mangel an Menschlichkeit, die gebrochene Tragfähigkeit der Verantwortung und die schwindende Mitmenschlichkeit und die Konsequenzen. Pfarrer Bardenbrecht stellt die geladenen Gäste hinter dem langen Tisch vor: den Kinderpsychologen Wolfgang Bebenau, den Direktor Karl Schucht von der Friedrich Ebert-Grundschule, die Familienrichterin Gerlinde Fabian, den Soziologen Gerd Lange und den Leiter des Arbeitsamtes, Klaus Ungelenk.

In seiner Einführung weist Pfarrer Bardenbrecht auf die vielfältigen sozialen Probleme hin, die ihre Ursache in der anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit und den Folgen der unerwartet schweren Rezession haben, die besonders die alten Menschen und die kinderreichen Familien treffen. “Das Problem der Straßenkinder sei bis auf den Tag nicht nur ungelöst, sondern habe in erschreckender Weise zugenommen. Kinderkriminalität und Kinderprostitution seien einige der herausragenden und beschämenden Schwindsuchtsymptome der kranken Gesellschaft dieser Zeit. Die Zahl der existentiellen Schiffbrüche sei horrend, und die Folgen der Zusammenbrüche seien nicht absehbar. Die apokalyptische Annahme sei nicht abwegig, dass der Gesellschaft eine Katastrophe bevorsteht, deren Ausmaß alle bisherigen Katastrophen in den Schatten stellt. Der Bildungs- und Glaubensverlust haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen dem Materialismus verfallen sind und nun nicht wissen, wie sie die existentielle Durststrecke durchhalten, beziehungsweise durchstehen und aus dem Flaschenhals der existentiellen Krise herauskommen sollen. Denn, und daran gibt es keinen Zweifel mehr, dass die großen Bildungswerte so weit verkümmert sind, dass die Menschen den inneren Halt zur inneren Festigkeit verloren haben und nicht finden, mit den Händen quasi in die Luft greifen in einer Zeit, in der die Hände nach dem Geländer suchen, weil die innere Festigkeit gerade jetzt erforderlich ist. Ich darf den Kinderpsychologen um das erste Referat bitten.”

Der Kinderpsychologe Wolfgang Bebenau führt in seinem Referat das Folgende aus: “Auf die rasche Verwundbarkeit der Familien und ihre kritisch-bedrohlichen Situationen ist wiederholt hingewiesen worden. Was den meisten Familien abhanden gekommen ist, ist das Gespräch zwischen den Eltern und den Kindern. Die Menschen in der Familie haben sich kaum oder nichts mehr von Wert zu sagen. Sie sind unfähig geworden, einen Gedanken in seiner Vollständigkeit und dann verständlich auszusprechen. Dasselbe gilt für das Aussprechen der Empfindungen und der Gefühle. Da es die Eltern nicht oder nicht mehr tun, weil sie es nicht wollen oder nicht mehr können, ist das Gespräch verkümmert und die Kommunikation auf die Ebene vegetativer ‘Banalitäten’ abgerutscht. Darunter leiden vor allem die Kinder, die in solchen Familien vereinsamen, verwahrlosen und sich von den Eltern nicht verstanden und daher fremd und haltlos fühlen. Langfristig gehen die Kinder aus solch verstummten Familien mit oft bleibendem Bildungs- und Persönlichkeitsdefizit hervor, das auch die Schule nicht füllen kann. Das Bildungsdefizit ist so grundlegend und prägend, dass die Kinder den Wert und Inhalt der schulischen Ausbildung nicht begreifen und die Leistungen, die zu bringen sind, nicht bringen. Je nach Schwere und der körperlich-geistigen Verfassung bezüglich der Tragfähigkeit der familiären ‘Stumm’- oder Stress-Situation hat das Kind das Schuljahr zu wiederholen, was in der Regel auch nicht zu einem Leistungsanstieg führt. Dieses Defizit begleitet das Kind durch die Jahre von Schule und Jugend und den erwachsenen Menschen schließlich durchs ganze Leben.

Es ist das Mangelsyndrom, das die Familien wie die Gesellschaft als Ganzes erfasst und aus den Fugen reißt. Das Syndrom setzt sich aus den folgenden Symptomen zusammen:

1) Geprächsmangel und Mangel der Beziehungsbekundung und Beziehungsbereitschaft innerhalb der Familien mit der Vereinsamung voreinander und der Verwahrlosung unter- und gegeneinander;

2) Verlust der gegenseitigen Verantwortung. Das Nicht- oder Nicht-mehr-erkennen des Tragenmüssens der Verantwortung mit dem Kapazitätsverlust, Verantwortung zu tragen, tragen zu wollen und tragen zu können;

3) Das ‘ausdrückliche’ Schwinden der Zusammengehörigkeit im Denken, Fühlen und Aussprechen mit der Lockerung und Ausgleisung der besonderen Bindung der Ehepartner zueinander und innerhalb der Familie mit der Austrocknung und Verödung der Sprache führt zur Verengung der Gedankenwelt, zur Verkümmerung der Gefühlswelt, zur melancholischen oder leeren Vereinsamung mit dem Absinken und der Verstockung seelischer Abläufe und dem Defizit an Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit.

Das Mangelsyndrom ist Ursache ehelicher und familiärer Zerwürfnisse und Zerrüttungen. Wenn das ‘Vitamin’ der Liebe und Zusammengehörigkeit mit dem Füreinander-dasein fehlt, dann ist auch der Wille gebeugt, der gerade jetzt nötig ist, um die innere Kraft zu entfalten und den Mut aufzubringen, die existentielle Krise durchzustehen und nicht in die Sackgasse der Verzweiflung mit der steinschweren Depression hinabzusinken. Wird das Mangelsyndrom mit dem menschlichen und mitmenschlichen Defizit auf die Gesellschaft der Gegenwart projiziert, dann werden die Zerfallserscheinungen durch die leere oder fehlende Nachbarschaft mit der gegenseitig interesselosen Gleichgültigkeit, der zunehmenden Verfremdung und Vereinsamung verständlich. Die Menschen haben sich nichts zu sagen, fühlen nichts füreinander und verharren in der Ödnis der gegenseitigen Bezugslosigkeit. Die Gesellschaft ist zu einer Verdauungsgesellschaft abgesunken. Die Menschen eilen zur Arbeit und wieder nach Hause. Sie sprechen vom Stress. Vom Wert und der Bedeutung der Arbeit sagen sie wenig, meistens gar nichts.

Da die Wurzeln des Zerfalls in die Familien reichen beziehungsweise dort ihren Ursprung haben, müssen die Probleme in den Familien behandelt und gelöst werden. Das heißt, dass die Lösung in den Familien liegt und dort zu suchen ist. Das Gespräch muss wieder in Gang kommen und einen Inhalt bekommen, nämlich den Inhalt, dass die Familie der Schutzhort für die Familienmitglieder ist, wofür jeder seinen und ihren Beitrag zu leisten hat. Ohne das klärende Gespräch und den täglich neuen und aktiven Beitrag kann eine Familie nicht in den Zustand der ‘Schutzburg’ gebracht und auch nicht am Leben erhalten werden. Die Familienbande müssen neu erkannt und zur Gesundung und Stärkung der Familie und eines jeden Familienmitglieds neu geknüpft werden. Die Kinder müssen das Gefühl der Geborgenheit bekommen, das nur über das gegenseitige Achten und Beachten auf der Brücke der aufmerksamen Begegnung und des Miteinander-sprechens mit dem Zuhören und Verstehenwollen geht. Die Behandlung der kranken Gesellschaft hat deshalb in den Familien zu beginnen. Die Werte der Familie müssen neu entdeckt, verstanden und geformt werden. Die Renaissance der Familie ist vonnöten, wenn die Gesellschaft gesunden soll. Das Gespräch in der Familie muss den hohen Stellenwert bekommen, um die rasante Bildungstalfahrt zum Halten zu bringen und den Menschen aus der Sackgasse des Lärms und der inneren Leere mit der trostlosen Vereinsamung herauszuholen.”

Pfarrer Bardenbrecht dankt dem Kinderpsychologen für sein Referat und bittet den Schuldirektor um seinen Vortrag. Herr Schucht führt aus: “Ich stimme den Ausführungen des Kinderpsychologen voll und ganz zu. So lange es in den Familien nicht stimmt, kann es auch in den Schulen nicht stimmen. Das Kind muss in geordneten Verhältnissen aufwachsen, um in der Ordnung der Schule den Lernstoff vermittelt zu bekommen und das Rüstzeug der Bildung für das Leben in sich aufzunehmen. Die primäre Erziehung des Kindes fällt in den Verantwortungsbereich der Eltern, die diese Aufgabe wahrzunehmen und zu erfüllen haben. Es ist zu beklagen, dass die erzieherische Verantwortung nicht nur im Argen liegt, sondern dass sie von Jahr zu Jahr schlechter wird. Doch die Eltern können sich aus dieser Verantwortung nicht verdrücken oder fortstehlen. Es sind doch ihre Kinder, die zu selbstbewussten kritischen Staatsbürgern herangebildet werden sollen. Das verlangt den vollen Einsatz der Schule wie der Eltern. Die Eltern haben sich für das Kind mehr als bisher zu interessieren. Das Kind verdient die volle Aufmerksamkeit der Eltern. Das Bildungsgespräch muss im Elternhaus einsetzen und kontinuierlich fortgesetzt werden. Die Hausaufgaben müssen durchgesehen und in einer konstruktiven Weise mit dem Kind durchgesprochen werden. Auch das gehört in den Erziehungsbereich der Eltern. Die mangelnde Erziehung kann nicht noch den Lehrern angelastet werden, die mit ihrem Bildungsauftrag voll ausgelastet sind. Die Eltern müssen sich selbst viel mehr in die Verantwortung nehmen, statt ihr Leid über den nachlassenden Fleiß ihres Kindes und andere Probleme bezüglich der Disziplin beim Lehrer zu beklagen. Der Lehrer ist kein Ersatz für den fehlenden Erzieher. Er kann auch nicht verantwortlich gemacht werden für die missratene oder ‘vergessene’ Kindererziehung. Ich sage es aus der langjährigen Erfahrung in den Elternabenden, wo sich Eltern über das schlechte Verhalten und den mangelnden Fleiß ihrer Kinder beklagen. Da scheuen sich die Eltern nicht, die Schuld für das schlechte Erziehungsresultat der Schule im Allgemeinen und dem Klassenlehrer im Besonderen zu geben.

Aber so kann doch die Erziehung weder aussehen noch weiterhin vernachlässigt werden, wie es viele Eltern tun. Die Eltern sollen die Klagen vor dem Spiegel vorbringen und sich bei der Antwort auf die Fragen bezüglich der mangelnden Disziplin und des nachlassenden Fleißes ihrer Kinder in die eigenen Augen sehen. Denn ohne den elterlichen Erziehungseinsatz am Kind gibt es in der Schule keine guten oder befriedigenden Ergebnisse. Es muss das Gespräch geben, das die Eltern mit den Kindern führen. Denn ohne das Gespräch, was in vielen Familien die bedauernswerte Tatsache geworden ist, läuft überhaupt nichts. Die Schule bleibt eine Lehr- und Lerneinrichtung. Sie ist keine Erziehungsanstalt für zu Hause nicht erzogene oder schwer erziehbare Kinder. Die Aufgabenteilung zwischen Eltern und Lehrern ist unverzichtbar. Die Aufgabe der Schule ist klar definiert: Sie soll den Schülern die Bildung vermitteln, die sie fürs Leben brauchen, und sie zu verantwortungsbewussten Staatsbürgern heranzubilden.

Wenn die Dinge im Elternhaus in Ordnung gebracht sind, dann gibt es auch in der Schule die besseren Leistungen und Noten, die erforderlich sind, um aus den Kindern das zu machen, was für einen verantwortungsbewussten Staatsbürger erforderlich ist. Die Anstrengungen sind groß, um das Ziel zu erreichen. Doch Schüler, Eltern und Lehrer haben sich der Aufgabe zu stellen und sie zu erfüllen. Es geht nicht an, die Schuld für die Versäumnisse dem andern anzulasten. Nicht anders ist es später im Berufsleben, wenn Bildung, Motivation, Einsatz und Fleiß über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.

Aus dem Gesagten sind die Ursachen für das schulische Versagen ableitbar. Der Mangel an Erziehung führt zu Disziplinlosigkeit, mangelndem Fleiß und schlechten Leistungen. Der resultierende Bildungsmangel führt zur mangelhaften Ausformung der Persönlichkeit mit bleibenden Defekten, von denen die verkürzte oder gebrochene Belastungsfähigkeit mit dem Unbehagen und der Angst einhergehen, Verantwortung tragen zu müssen. Mit der Angst vor der Verantwortung als etwas Untragbares im Sinne des Unzumutbaren schrumpfen, verkümmern und zerfallen die hohen Werte und Aspekte der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit zu unansehnlich entstellten, leeren Gebilden und verschrumpelten schalenartigen Rudimenten.

Ich fasse zusammen: Die Aufgabentrennung zwischen Elternhaus und Schule in der Erziehung und Ausbildung des Kindes muss eingehalten werden. Die Aufgabentrennung entspricht den unterschiedlichen Verantwortungsbereichen, die die Eltern mit der Grunderziehung und die Schule mit der Grundausbildung zu übernehmen und zu erfüllen haben. Erst wenn diese Aufgaben erfüllt werden, die den großen Komplex der Heranbildung und Heranführung des Kindes an die Schwelle des Erwachsenseins umfassen, erst dann kann von einem Erfolg gesprochen werden. Die Art und Weise in der Führung des Kindes entscheidet über den Erfolg. Das Kind braucht die geordnete Familie und die Führung mit der elterlichen Aufmerksamkeit und dem ständigen Gespräch. Das Kind hat ein empfindliches Gespür, wenn es sich ungerecht beurteilt oder vernachlässigt fühlt.

Der Appell geht an alle, uns als Eltern und als Lehrer sich den Kindern motiviert und mit großem Einsatz zu widmen. Es sind die Kinder, die uns vertrauen, dass wir das Beste für sie wollen. Dann sollen wir auch das Beste für sie tun. Wenn wir die uns gestellten Aufgaben erfüllen und aus unseren Kindern gebildete, motivierte, Verantwortung tragende und fleißige Menschen machen, dann sind wir es, die zur Gesundung der materialistisch verengten und kranken Gesellschaft beitragen. Dann geben wir das Beispiel, das die Kinder von uns erwarten. Denn Kinder brauchen das Vorbild in punkto Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und persönlichem Einsatz. Das volle Maß der Menschlichkeit gehört in die Familie, um ihr den hohen Wert der Bergung und Geborgenheit und den Bestand der Dauerhaftigkeit zu geben. Der Zustand der Familien wirkt sich auf die Gesellschaft positiv aus, wenn der Schritt in die Richtung des inneren und äußeren Friedens getan wird und die Humanität im Miteinander das Mehr an sozialer Gerechtigkeit bringt.”

Pfarrer Bardenbrecht dankt dem Schuldirektor für sein Referat. Er fragt die Zuhörer, ob sie einverstanden sind, dass die übrigen Referate angeschlossen werden, um die anderen Aspekte zum Themenkomplex aufzuzeigen und die Diskussion dem letzten Referat anzuschließen. Es wird zugestimmt, und der Missionspfarrer bittet die Familienrichterin um ihr Referat.

Frau Fabian führt aus: “Es ist ein großes Thema, das dem heutigen Abend vorangestellt ist, denn das Prinzip ‘Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit’ ist das höchste, das die Gesellschaft auszeichnet, wenn es praktiziert wird, aber die Gesellschaft beschämt, wenn das Prinzip ein leeres Lippenbekenntnis bleibt. Doch wie es die Vorredner bereits sagten, mangelt es an der Durchführung dieses Prinzips, und das in den Familien im Kleinen wie in der Gesellschaft im Großen. Mit dem Gesprächsabbruch ist auch das Vertrauen zum anderen abgebrochen. Damit ist der Steg der Verantwortung weggerissen, weil er die Funktion des Verantwortungtragens nicht erfüllen kann. Entweder hängen die Dinge in der Luft, oder sie sind ins Wasser gefallen. Doch so lässt sich Verantwortung nicht praktizieren. Die Füße brauchen den Steg, wo sie aufsetzen können, wenn die Hände den Menschen aus dem Wasser ziehen sollen, der vor dem Ertrinken ist. Es lässt sich ganz allgemein so sagen, dass nichts geht, wenn der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Das ist in etwa die Beschreibung des Zustandes der Familien und der Gesellschaft. Der Boden ist weggezogen worden. Der Mensch weiß nicht, wo er die Füße hinsetzen kann, ohne einzubrechen. Der Zustand des Bodenlosen beziehungsweise der Bodenlosigkeit ist im Großen wie im Kleinen erreicht, und keiner weiß, wie der Boden wieder unter die Füße kommen soll. Das ist das Dilemma der Zeit. Die Familien zerbrechen in großer Zahl, und die Angst mit dem Gefühl des Nicht-verstanden-Seins und der trostlosen Vereinsamung nagt heillos an den Menschen. Sie nagt an den Resten der familiären Bande und der verbliebenen Menschlichkeit. Es ist der Zustand des Chaos, der durch die Gesellschaft reißt, sie splittert und tief verwundet.

Den Familien ist die Widerstandskraft genommen. Die Kräfte sind erschlafft, und die Familien erliegen den Widrigkeiten und Scherbengerichten der Zeit. Die Zerwürfnisse sind verheerend, denen die Kinder hilflos ausgesetzt sind. Die Scheidungsprozesse haben an Zahl zugenommen. Dabei wird um das Geld für den sogenannten Versorgungsausgleich gestritten. Dabei kommen die Kinder meist zu kurz und sind in der Auseinandersetzung oft nur eine Nebensache. Menschen aus geschiedenen Ehen, den gestrandeten Familien, deren Existenz bereits am dünnen Faden hing, fallen in die Armut und werden zu Sozialfällen, denen die Sozialhilfe den existentiellen Engpass nicht vom Tisch räumen kann. Alkohol und Drogen erschweren die Situation zusätzlich, obwohl das Geld zum Leben schon nicht reicht. Kriminalität und Prostitution sind die Waffen der Ab- und Aussteiger, deren letzte Strandung die Straße ist, wo sie auf Parkbänken und unter Brücken übernachten. Die Jugendkriminalität hat sich zur Kinderkriminalität weiter verjüngt, und die Raubüberfälle haben immer härtere Gangarten angenommen.

Viele Familien sind zerbrochen und stehen vor dem Ruin. Existentielle Nöte und Zwänge haben die letzte Menschlichkeit verzehrt. Die zerbrochene Familie hat ihren Sinn verloren, Ort der Freude und Liebe, Hort der Bergung und Geborgenheit zu sein. Quasi über Nacht finden sich die Menschen, die Frauen mit ihren Kindern und dem Rest der Habe auf der Straße und sind der Willkür anderer Menschen hilf- und wehrlos ausgesetzt. Der ganze Bau, damit ziele ich auf die Gesellschaft hin, gerät aus den Fugen. Respekt und die guten Sitten verkommen. Zwielichtige und unanständige Verhaltensweisen schieben sich durch die Risse und Spalten des zerfallenden Ehren- und Sittenkodex. Keiner will für den Zerfall die Verantwortung übernehmen. Jeder schiebt die Schuld dem andern zu. Es ist der Staat in seiner Anonymität, dem die Hauptschuld für die existentiellen Nöte und Zwänge mit ihren verheerenden Folgen zugeschoben wird. Da die Schere zwischen arm und reich weit auseinanderklafft, richtet sich der Protest gegen die soziale Ungerechtigkeit als Ursache für die Zunahme der sozialen Spannungen.

Große Anstrengungen sind erforderlich, um die Dinge ins Lot zu bringen. Doch dafür muss der Mensch bereit sein, die Verantwortung für sein Tun selbst zu tragen und nicht dem anderen aufzubürden. Ohne Motivation und Verantwortung lässt sich Zukunft nicht gestalten. Die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit müssen gezogen werden. Die Geschichte lehrt, was die Unmenschlichkeit anrichtet, wenn Respekt und die guten Sitten verkommen. Deshalb ist Bildung vonnöten, um aus den Unbilden, denen unschuldige Menschen und Kinder zum Opfer fielen, die Lehren für eine menschenwürdige Zukunft zu ziehen. Wie ich bei einem der früheren Gesprächsabende hervorhob, bedarf es der Disziplin und Ehrlichkeit und des Fleißes, wenn es dem Menschen in Zukunft besser gehen soll. Ein Leben ohne Menschlichkeit ist ein Vegetieren, das unter dem Niveau des Tierreichs ist. Dem Schweiß des Schachtsteigers muss wieder die gebührende Achtung entgegengebracht werden, weil es der Hände Arbeit ist, die den Lebensstandard der Gesellschaft bestimmt.

In der Zusammenfassung sind es Kenntnis und Lehren aus der Geschichte, die Motivation, der persönliche Einsatz, die Willenskraft und persönliche Bescheidenheit, die das Maß der Verantwortung und Menschlichkeit bestimmen. Die Bildung zur Umbildung ist der Eckstein, wo sich Toleranz und die guten Sitten niederlassen und den Weg in die Zukunft erhellen. Geborgenheit, Respekt und Menschlichkeit müssen in die Familien zurückkehren, wenn die Gesellschaft noch zu retten ist. Jeder hat bei der Rettungsaktion seinen Beitrag zu leisten und die Verantwortung für sein Tun selbst zu tragen.”

Missionspfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und bittet den Soziologen Lange um seinen Vortrag:

“Meine Damen und Herren! Es wurde bereits gesagt, dass sich der arme Mensch die Armut nicht immer selbst verdient hat, so wie sich der reiche Mensch den Reichtum nicht immer selbst verdient hat. Auch besteht kein Zweifel, dass die Schere zwischen arm und reich von Jahr zu Jahr weiter klafft, was den sozialen Frieden dauerhaft bedroht. Hinzu kommt, dass sich die einen hinter dem Wohlstand verstecken, während die anderen der Not und dem Elend schutzlos ausgesetzt sind. Auf beiden Seiten verkommt die Menschlichkeit: beim Verstecken der Reichen hinter den Bergen des Reichtums durch das Augenschließen vor den Menschen in Not und auf der andern Seite vor den Hütten der Armut in ihrer bedauernswerten und erbärmlichen Offenheit, was alles zum Leben fehlt. Die Menschlichkeit setzt voraus, dass die Mägen einmal am Tag eine warme Mahlzeit brauchen, wenn den Köpfen nicht das Hören und Sehen vergehen soll, weil der Blutzuckermangel das Bewusstsein trübt.

So wie die Gerechtigkeit mit der Menschlichkeit einhergeht, so schließt das Unrecht der Ungerechtigkeit das Prinzip ‘Menschlichkeit’ samt ihrer Herkunft aus. Das Eine gilt dem Mit- und Füreinander, das Andere führt zum Gegeneinander. Wie bereits gesagt wurde, gibt es keine Armut ohne Schuld. Sie ist entweder selbst- oder fremdverschuldet. Im Kern der Armut ist das Ringen ums Überleben. Der Ringende braucht in der Daseinsnot die Mitmenschlichkeit, was die praktizierte Menschlichkeit des Helfens ist. Menschen helfen auch dann, wenn es ihnen selbst existentiell so gut gar nicht geht. In dieser Mitmenschlichkeit liegt das Prinzip des Teilens, dass jeder auf den Beinen bleibt und ein Stück Brot zum Leben hat. Dagegen liegt in der Ungerechtigkeit die blinde Raffgier mit dem Horten der Güter, was bis zum Ekel des aufsitzenden Geiers führt. Wenn das mit dem Überleben immer fraglicher und das Leben immer dürftiger wird, dann folgt dem Kraftverlust im Ringen die Bitternis der Not mit der Verzweiflung, dass der Kampf ums Überleben verloren wird beziehungsweise schon verloren ist.

Es steht außer Frage, dass die Arbeitslosigkeit härter denn je in das Leben der Familien eingreift. Da sind Spannungen aufgrund der Frustration des Mannes, der nach Arbeit sucht, aber keine Arbeit findet. Die Sozialhilfe, wenn sie überhaupt zur Anwendung kommt, zwingt vor allem die Rentner und kinderreichen Familien, den Lebensgürtel immer enger, zum Teil so eng zu schnallen, dass die Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Es kommt zu Auseinandersetzungen, was bei der prekären Geldknappheit noch gekauft werden soll, aber nicht gekauft werden kann. Die Grenze der Scham wird überschritten, wenn die Auseinandersetzungen vor den Kindern ausgetragen werden, was zur Verunsicherung führt, dass die Kinder das Vertrauen in die Eltern und das Gefühl der Geborgenheit in der Familie verlieren. Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Konzentrationsschwächen sind die Folgen, die sich im hohen Maße negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Wie schon erwähnt, gehen Jugendprostitution und Jugendkriminalität mit der Arbeitslosigkeit und dem eng geschnürten Existenzgürtel parallel einher. Bis zur Drogenszene ist es nur ein kleiner Schritt, der für den Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes von großer Bedeutung ist.

Die Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung für den Zerfall zu tragen hat, ist aus soziologischer Sicht oft sehr schwierig, weil die individuell-sozialen Beziehungen so vielseitig und ineinander verknüpft sind. Die Konflikte haben ihre Vorgeschichte, und je länger sie ist, desto schwieriger ist es, die Problemzöpfe zu entflechten. Das soziale Problem wird durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit weiter erschwert, von der besonders die Berufs- und Hochschulabgänger in großer Zahl betroffen sind. Die klaffende Schere zwischen arm und reich und die Erfahrung, dass sich die ungleichen Verhältnisse in absehbarer Zeit nicht angleichen werden, führen zur Frustration und Resignation. Der Einzelne steht der Arbeitsplatzstreichung wehrlos gegenüber. Diese Negativentwicklung führt zur Radikalisierung der Jugend, die der Politik der Rechtsstaatlichkeit misstraut und den tönenden Politikern kein Wort glaubt.

Um beim Bild zu bleiben: Das Band der Mitmenschlichkeit ist zwischen den klaffenden Scherenblättern überspannt und zerrissen worden. Die Gründe der familiären und gesellschaftlichen Zerreißungen reichen von den ökonomischen Veränderungen bis zum Bildungsmangel, von der Willensschwäche über die ausbleibende Motivation und den mangelnden Arbeitseinsatz bis zum Angstmonster, die Verantwortung für das Desaster zu tragen beziehungsweise aufgehalst zu bekommen.”

Pfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und bittet den Leiter des Arbeitsamtes, Herrn Ungelenk, um den letzten Vortrag.

Er führt aus: “Vieles wurde gesagt, dass für mich nur wenig zu sagen bleibt, um das Bild über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft abzurunden. Ich stimme der bisherigen Bildbeschreibung mit den Rissen und Verwerfungen zu, die von unten nach oben durch alle Gesellschaftsschichten ziehen und das Leben jedes Einzelnen berühren und zum Teil hart erschweren. Es sind vor allem die jungen Menschen, die nach Schul- und Hochschulabschluss einen Arbeitsplatz suchen, aber nicht finden. Wir bemühen uns, den Menschen bei der Arbeitsplatzsuche zu helfen. Doch oft stellt sich die deprimierende Situation ein, dass ein Arbeitsplatz noch nach Monaten nicht gefunden wird, der den Qualifikationen der Schulabgänger entspricht. Junge Akademiker arbeiten im Postamt, auf dem Bau oder als Gelegenheitsarbeiter und Taxifahrer, um das Geld zu verdienen, das zum Leben gebraucht wird, aber zum Leben meist nicht reicht. Der anfängliche Optimismus auf den Gesichtern der Arbeitsuchenden weicht nach Monaten den düsteren, pessimistisch blickenden Gesichtern. Die Menschen glauben nicht mehr daran, dass es für sie Arbeit in dem Land gibt, in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Was uns im Amt beim Versuch, einen Arbeitsplatz zu vermitteln, noch auffällt, ist die Feststellung, wie aus klaren und sauberen Gesichter nach Monaten der frustrierenden Wartezeit ungepflegte, quasi verkommene Gesichter werden. Junge Menschen kommen mit Bärten und sehen nach Monaten vorgealtert und runtergekommen aus, denen man die Schul- und Hochschulqualifikationen kaum oder nicht zutraut. Der Gruppe der Arbeitsuchenden steht die Gruppe der Arbeitsverweigerer gegenüber, die sich in das Heer der Sozialfälle rekrutieren und sich das Nichtarbeiten vom Staat bezahlen lassen. Die Unterhaltung des Arbeitslosenheeres kostet dem Staat jährlich viele Milliarden, die der Steuerzahler aufzubringen hat. Der asoziale Aspekt gilt für beide Gruppen. Für die Arbeitsuchenden ist es das System des Kapitalismus, und für die andern im großen Heer der Sozialfälle ist es die Arbeitsscheu beziehungsweise Arbeitsverweigerung des Einzelnen.

Die Stellenvermittlung ist schwierig, wenn es für die Gruppe der Arbeitsuchenden keine Stellen gibt, die den Qualifikationen entsprechen, und die angebotenen freien Stellen von der anderen Gruppe mit immer neuen ‘Argumenten’ ausgeschlagen werden, dass der Zweifel aufkommt, ob bei jenen Menschen überhaupt der Wille zur Arbeit besteht. Es gibt wenig Zweifel, dass die Gesellschaft unter der Profitmaximierung, was Inhalt des Kapitalismus ist, krank geworden ist und tiefe Risse aufweist, die durch alle Schichten des Volkes ziehen. Die Menschlichkeit ist rar geworden, wenn Menschen ums Überleben ringen. Das Tragenwollen der Verantwortung ist verkümmert. Jeder sucht die Schuld woanders, nur nicht bei sich. Die Konsequenzen, die aus dem Sich-unsichtbar-machen mit der Angst resultieren, zumindest die Teilverantwortung für die prekäre Situation zu übernehmen, gehen mit dem Mangel der praktizierten Menschlichkeit und dem Grassieren des allgemeinen Misstrauens einher. Die Friktion mit den quer durch die Gesellschaft ziehenden Existenzrissen, wie sie auf dem Arbeitsmarkt bei der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu beobachten ist, brennt, wenn ich das zweite Bild gebrauchen darf, den noch verbliebenen Rest an Menschlichkeit nieder.”

Missionspfarrer Bardenbrecht dankt für das Referat und eröffnet die Diskussion.

Ein Herr im mittleren Alter sagt: “In den Referaten wurde wiederholt darauf verwiesen, dass das Gespräch in den Familien verstummt beziehungsweise abhanden gekommen sei. Ist denn die Annahme so abwegig, dass die Schwere der Existenzkrise den Menschen die Sprache so verschlagen hat, dass er sprachlos geworden ist, wenn er am mager gedeckten Tisch anderen Menschen gegenübersitzt?”

Der Kinderpsychologe antwortet: “Für den Erwachsenen mag die existentielle Krise zur Sprachlosigkeit führen, weil er das Problem aus eigener Kraft nicht lösen kann. Aber die Sprachlosigkeit am Familientisch muss ihre Grenzen haben, wenn Kinder mit am mager gedeckten Tisch sitzen. Denn die Kinder wollen wissen, wozu sie doch berechtigt sind, was es mit dem Tisch auf sich hat, der so mager gedeckt ist, dass er den Hunger nicht mehr stillen kann. Das muss den Kindern in einer ruhigen und verständlichen Sprache erklärt werden. Kinder sind gute und verlässliche Kameraden auch dann, wenn das Leben der Familie Probleme aufgibt, die unlösbar erscheinen. Deshalb hat das Gespräch die elementare Bedeutung der Verständigung mit dem Verständlichmachen der Probleme, warum die Existenz der Familie bedroht ist.”

Eine ältere Dame mit weißem Haar: “Ich möchte den Herrn Pfarrer fragen, ob nicht auch der Lärm von den Straßen sich negativ auf das Gespräch auswirkt. Es ist doch so, dass der Lärm eine ohrenbetäubende Lautstärke während der Hauptverkehrszeiten annimmt.”

Pfarrer Bardenbrecht bejaht die Frage, weist aber darauf hin, dass der Tag auch stillere Zeiten hat und genug Gelegenheit gibt, das Gespräch am Familientisch zu führen. Das Gespräch als Brücke der Kommunikation ist von vitaler Bedeutung für jede Familie. Das Kind fühlt sich verloren und verwaist, wenn es diese Brücke nicht gibt. Es braucht die Aufmerksamkeit und Andacht durch das Gespräch, das die Richtung durch die Kinder- und die Schuljahre weist und ihm das Gefühl der Geborgenheit und Hilfe gibt.

Der Kinderpsychologe fügt hinzu, dass der Lärm nicht nur von der Straße, sondern auch von den bis hintenhin aufgedrehten Radios und Lautsprecherboxen komme. Manchmal sei die Lautstärke so weit hochgedreht, dass man sein eigenes Wort nicht höre. Es sei bekannt, dass Kinder durch den permanenten Lärm früh unter Hörstörungen leiden, wenn sie das normal gesprochene Wort nicht mehr hören.

Eine Lehrerin beklagt das unfreundliche Verhalten einiger Kinder, die nicht bei der Sache sind, ihre Hausaufgaben nicht machen und durch Zwischenrufe den Unterricht stören. Diese Störenfriede machen die Disziplin zunichte und bringen die Klasse durcheinander. Jungen hänseln Klassenkameraden aufgrund ihrer gestopften und anderswie abgetragenen Hemden, Jacken und Hosen. Kräftige Jungen toben ihre Gewalt an schwächeren Jungen aus. Der Klassengeist, wie er früher die Kinder zur Ordnung, Disziplin und Gemeinschaft führte, existiert nicht mehr. Die Ursache liege im Elternhaus, wo die Kinder sich selbst überlassen sind und eine Erziehung durch die Eltern nicht stattfindet.

Schuldirektor Schucht stimmt der Beobachtung zu und unterstreicht noch einmal die Rolle der Eltern, die diese in der Erziehung ihrer Kinder zu erfüllen haben. “Es ist die höchste Zeit, dass Eltern die erzieherische Verantwortung an ihren Kindern wieder wahrnehmen und erfüllen. Denn die Erziehung beginnt im Elternhaus und nicht in der Schule. Wie oft habe ich es erfahren, dass sich Eltern über das schlechte Verhalten und den mangelnden Fleiß ihrer Kinder beklagen. Das geht so weit, dass sie die Schule und den Klassenlehrer dafür verantwortlich machen, was natürlich nicht geht. Denn die Schule ist eine Lehr- und Lerneinrichtung und keine Erziehungsanstalt für zu Hause nicht erzogene oder sonst wie schwer erziehbare Kinder.

Die Eltern können doch an ihren Kindern nicht einfach vorbeileben. Die Kinder müssen Inhalt ihres Lebens sein, und wenn sie es nicht sind, dann wird es höchste Zeit, dass Kinder den Lebensinhalt der Eltern füllen. Wie schon gesagt, spielt dabei das Gespräch in der Familie die ganz wesentliche Rolle. Die Eltern haben den erzieherischen Teil zu erfüllen und nicht auf die Schule abzuladen, die mit der Bildungsarbeit voll ausgelastet ist. Eltern haben den Lehrer in seiner Arbeit zu unterstützen und sich zu vergewissern, dass ihr Kind die Hausaufgaben macht. Lehrer und Eltern müssen verständnisvoll und verantwortlich zusammenarbeiten, wenn aus dem Schüler ein verantwortungsbewusster und motivierter Staatsbürger werden soll. Das ist ohne die Aufgabenteilung Erziehung und Schulbildung nicht möglich.”

Die Lehrerin stimmt dem Kommentar des Schuldirektors zu. Sie sagt, dass das Prinzip ‘Menschlichkeit’ wieder in die Schule gehört und mit dem Kind auch in die Schule kommt, wenn es vorher in den Familien wieder geweckt und “großgezogen” wird. Wenn die Dinge im Elternhaus in Ordnung gebracht und in Ordnung gehalten werden, dann gibt es auch in der Schule die besseren Leistungen mit den besseren Noten.

Andere Teilnehmer des Samstagabendgesprächs sprechen die Jugendkriminalität und die Kinderprostitution und Kinderpornographie an, die in alarmierender Weise Ausdruck der gesellschaftlichen Entgleisung und Schieflage sowie des gesellschaftlichen Zerfalls sind. Missionspfarrer Bardenbrecht meint, dass sich die Situation nicht bessern werde, so lange die Eltern die Verantwortung für ihre Kinder nicht wahrnehmen. Große Aufgaben sind zu bewältigen, um die Kinder von der Straße wegzuholen und wieder in die Familien und Schulen zurückzuführen und einzugliedern. Pfarrer Bardenbrecht dankt für die Vorträge und Diskussionsbeiträge und schließt den Abend mit dem hundertsten Psalm:

Schmettert Ihm zu, alle Lande,

dient Ihm zur Freude!

Kommt mit Jubel vor sein Antlitz!

Erkennt an, dass Er Gott ist,

der uns gemacht hat.

Wir sind sein,

sein Volk, seine Schafe auf seiner Weide.

Kommt mit Dank in seine Tore

mit Preisung in seine Höfe!

Ihm dankt, und segnet seinen Namen!

Denn Er ist gütig.

Seine Huld währt über die Tage hinaus,

und seine Treue hält von Geschlecht zu Geschlecht.

Es gibt noch einige Gespräche mit den Menschen im kleinen Missionssaal, die Pfarrer Bardenbrecht mit der zuvorkommenden Geduld des Zuhörens verfolgt und die an ihn gestellten Fragen auf die verständlichste Art und Weise beantwortet. Eine Teilnehmerin, eine Dame im mittleren Alter mit den frühen Grausträhnen im zurückgekämmten braunen Haar, berichtet über die zusätzlichen Probleme durch ihr hirngeschädigtes Kind, das mit einem Down-Syndrom geboren wurde. Pfarrer Bardenbrecht denkt bei dieser traurigen Schilderung an seine Tochter, die nach einem Autounfall an epileptischen Anfällen leidet, und wünscht der Mutter Kraft und Zuversicht, nicht zu verzweifeln und dem Kind das Leben mit der verkürzten Lebenserwartung so gut wie möglich zu gestalten.

Ein Herr, der noch vor der Lebensmitte steht, erwähnt seine Frau, die an einem Brustkrebs erkrankt ist und nach der Operation, bei der ihr eine Brust entfernt wurde, sich der Bestrahlung und Chemotherapie zu unterziehen hat, die ihr den totalen Haarausfall beschert habe. Der Eingriff sei deshalb so dramatisch, weil es zwei kleine Kinder in der Familie gibt, die auf die mütterliche Fürsorge angewiesen sind. Pfarrer Bardenbrecht ist von der Schilderung sichtlich ergriffen. Er fasst die Hände des Vaters und wünscht ihm die Kraft, um die schwere Zeit durchzustehen und seiner Frau beizustehen, und der jungen Mutter die baldige Genesung mit der Heilung von dem bösartigen Tumor.

Der Saal hat sich geleert, als Pfarrer Bardenbrecht die Fenster schließt, das Licht auslöscht und die Saaltür abschließt.

Leben, Lucilius, heißt kämpfen. [Atqui vivere, Lucili, militare est. Seneca: Epistulae morales]

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