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Ahnungslos auf abgelaufenen Sandalen

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Was ich hatte, trug ich, so das weiße Hemd mit den kurzen Ärmeln, die weiße Arzthose und die Birkenstocksandalen, oder es lag mit dem andern Plunder noch in zwei Koffern verpackt. Die Gegenwart schob einen Tag vor den andern. Sie tat es ohne Rücksicht auf die Nacht mit ihren Stunden, von denen nur wenige zum Schlafen waren und die überwiegende Zahl bei der Arbeit zugebracht wurden. Ob ausgeschlafen oder müde mit dem >Sand< in den Augen, jeder Tag ging wie ein junges Mädchen aus dem Morgen hervor und sank wie eine alte, gebrochene Frau in die Abenddämmerung zurück. Es war der Gang mit dem Kommen und Gehen, der sich mit dem Stufauf und Stufab die Tagesscheibe aus dem >Brot< der Zukunft schnitt. Dabei schob er sich immer tiefer in die vorausgedachte und dunkel vorgestellte, nach jedem Scheibenschnitt anders aussehende Zukunft hinein. Ihr Anblick entsprach nicht den Vorstellungen und Wünschen zur Erleichterung des Lebens und des Alltags. Ich hatte wenig und noch weniger, was zu gebrauchen war.

Denn da waren nicht nur die veralteten, defekten und unbrauchbaren Arbeitsgeräte und die Aufgaben in ihrer unübersehbaren Fülle schon beim ersten Anblick, sondern es gab auch die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle an das Gestern und Vorgestern. Deshalb war Vorsicht geboten beim Abkoppeln von der Vergangenheit. Auch in der Annahme war Vorsicht geboten, dass es ohne Gegenwart keine Vergangenheit gibt, was so selbstverständlich gar nicht war. Es ist die Macht des Traumes, wenn dem verängstigten Gemüt qualvoll die Dinge mit der unverrückbaren Zerstörungsabsicht aufs Auge gedrückt werden oder hautnah auf den Fersen folgen. Oft geht alles nicht schnell genug. Und gerade dann purzeln die unaufgeräumten Dinge und alles, was sich einfach nicht wegräumen oder vergessen lässt, in das Durcheinander von heute. Der Tast- und Riechsinn sind irritiert, dass man nicht weiß, was man in den Händen hält und aus dem Wust hervorzieht, oder was sich schlierig oder sonst wie gewunden dahinter versteckt. Die Schattenbilder schwimmen und schaukeln hin und her. Sie verwischen die Aktionen des An- und Abkoppelns nach hinten mit dem Hineinschieben nach vorn, wenn sich hängende Dinge im Nebel dem aufwachenden und schließlich erwachten Tagesbewusstsein erneut entziehen.

Mit dem neuen Tag erwacht auch die Sprache neu, die sich mit neuen Varianten durch den Tag windet, springt, schlürft und quält und in nächtlicher Ermüdung dann erschlafft und einschläft. Die Sprache nimmt die Erlebnisse des Tages verpackt und die unerledigten Dinge ohne Verpackung mit in die Dämmerung und legt beides für die Nacht unters Bett. Oft rütteln Träume die abgelegten Dinge unterm Bett nach oben bis aufs Kopfkissen und zwischen die verknautschte, weggerutschte Bettdecke, um sich mit ihnen in anstrengenden Bildern auseinanderzusetzen oder anders, doch meist kämpfend zu beschäftigen. Riesenhöhen und Riesentiefen in Riesenentfernungen und Riesengestalten treten auf- und nebeneinander und gegenüber, die den Angstschweiß über den ganzen Körper drücken.

Kommende und hereinbrechende Sprachverschiebungen und Sprachstörungen sind nicht zu umgehen und nicht zu überhören, von denen eine frühe an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend stattfindet. Die Verbindung von Ding und Wort, dass Dinge so sind und heißen, wie sie genannt werden, das erfährt an jener frühen Schwelle die erste >Korrektur<. Hier kommt es zum genauer beschreibenden und komplizierteren und längeren Nennwort oder zum Ersatz durch ein ganz anderes Wort, das für das Kind neu und unverständlich und oft unaussprechbar ist. Der Bezugskreis zwischen Ding und Wort, der für das Kind selbstverständlich, heil und geschlossen ist, bricht durch das Gesetz der revoltierenden Querstellung an der Jugenschwelle jäh auf, wo das Verquerte im erhöht bewussten Erleben großer Höhen und Weiten die Ursache zur tieferen Gründlichkeit mit der ballernden Dickköpfigkeit und dem klopfenden Kopfschmerz wird. Mit der wachsenden Genauigkeit im Trachten und Betrachten sowie im Zugriff nach den großen Dingen machen sich auch die Lücken und die unerklärlichen Verstrebungen im Bewusstsein bemerkbar, was zum Fass der immer neuen Fragen führt. Der Kopfschmerz wird umso heftiger, je stärker sich der Dickkopf zwischen die Schultern setzt. Das trifft auf die Licht- und Schattenbilder gleichermaßen zu, wenn dort Schatten ist, wo Licht sein sollte, und dort Licht ist, wo es nichts zu sehen gibt.

Wörter gibt es, die sind kurz und stark. Dazu gehören die Worte wie >gut<, >Brot< und >Liebe<. Letzteres schwingt lebendig hin und her zwischen Menschen, die sich lieben und um die Gegenseitigkeit der Liebe bemüht sind, weil in der Liebe einer auf den andern angewiesen ist. Wörter werden Arbeitswörter, wenn Menschen zusammen etwas tun, wo sie aufeinander angewiesen sind. Worte können ausgerufen werden, wenn sich der Schmerz Luft macht oder es sich um eine Notsituation handelt und Hilfe von anderen Menschen erforderlich ist, weil man sich selbst nicht mehr helfen kann. Diese Ausrufworte gab es in der Kindheit während der Bombennächte über Köln oder beim zu schweren Tragen von zwei Rucksäcken und zwei vollen Taschen als Elfjähriger auf der missglückten Flucht vor den anrollenden russischen T33 und T34 Panzern mit dem ohrenbetäubenden Rattern und Kettenquietschen über dem Steinpflaster der Durchgangsstraße im Dorf Kosten bei Aussig im ehemaligen Böhmen der Tschechoslowakei. Schreckensrufe gab es, als ich beim >Organisieren< von Kartoffeln, Rüben, anderen essbaren Produkten vom Feld oder mit dem halb gefüllten Sack Braunkohle auf dem Leiterwagen von russischen Soldaten angehalten wurde.

Es war kein Abenteuer, als ich fünfzigjährig mit leeren Taschen auf dem andern Kontinent ankam, der der Kontinent der Armen oder der schwarze Kontinent genannt wird. Das Wort >Morgenteuer< trifft mindestens ebenso zu, weil ich weder eine Arbeitserlaubnis noch das Geld hatte für die Scheibe Brot mit dünnstem Aufstrich und der Tasse Kaffee, die ich dringend brauchte. Da gab es den Menschenfreund, ein musikalischer dazu, der mir das Ess- und Trinkbare sowie ein Bett in einem mit Kartons vollgestellten Schlafkabinett anbot. Sein Kalmieren bestand im wesentlichen aus dem überdurchschnittlichen Verständnis für die Schräglagen des Lebens um die Lebensmitte, ob sie gewollt waren oder nicht. Seine ungewöhnliche, in jenem Augenblick als übermenschlich empfundene und herzliche Großzügigkeit mündete in die bald standardisierte Redewendung: “Es ist alles nicht so schlimm.”

Wochen vergingen, bis die auf ein Jahr befristete und auf das Hospital im Kriegsgebiet vor der angolanischen Grenze begrenzte Arbeitserlaubnis eintraf. Es hätte wahrscheinlich Monate gedauert, wenn nicht der amtierende Superintendent aus dem hohen Norden des damaligen Südwest-Afrika die Sachbearbeiterin im über zweitausend Kilometer südlichen Pretoria, der Kommandozentrale der weißen Apartheid, wiederholte Male telefonisch erinnert hätte. Das Facharztzertifikat, weil es ein deutsches und kein britisches war, wurde vom Medical & Dental Council in Pretoria gar nicht zur Kenntnis genommen.

Das Hospital lag nicht weit von der angolanischen Grenze entfernt im Kriegsgebiet, und der Krieg ging weit über die Grenze bis tief nach Angola hinein. In der Wartezeit, die mit Gewichten der Ungewissheit um das bloße Dasein beschwert war, gab es die täglichen Wettläufe und nächtlichen Wettkämpfe zwischen den Worten und den Füßen. Weil die Hände nicht mit den für die Patienten im Hospital dringendst notwendigen Handgriffen in Aktion treten konnten, blieb es dem Wissen mit dem Unwissen vorbehalten, sich mit der Verzögerung und Wartezeit, seiner tieferen Bedeutung und den sich daraus ableitbaren Schikanen schon theoretisch zu befassen, wie sie dann später in der Praxis zu erwarten waren. Es ist der Schatten, als wäre er ein Hund, der ständig nebenher läuft. Die Ungewissheit war weniger, die existentielle Angst dagegen mehr begründet. Beide waren die verlängerten Schatten, die den Daseinsbeginn auf dem neuen, dem unbekannten schwarzen oder armen Kontinent begleiteten. Die Schatten waren so gewaltig, dass sie ein Eigenleben entwickelten, dem das Dasein kümmerlich und hilflos gegenüberstand. Sie hoben und senkten, schoben und drückten sich unheilvoll an den Seiten des Seins entlang. Die langen Schattenarme zogen unter immer neuen Winkeln der Betrachtungsweisen auf und ab und von einer Seite zur andern.

Es war die ziehend-zerrende Dissonanz zwischen dem Wollen der Hände und dem Sollen im Kopf. Dass solch ein Wissen die Schräglage nicht beseitigte, sondern weiter vertiefte, ergab sich aus dem Abzählen der Finger an einer Hand. Die Probleme mussten nicht erst im Kopf sortiert und nebeneinander gerückt werden, sie waren als Schatten unterschiedlicher Stärken eine Realität, die sich in den Schattierungen großflächig und weit nach vorn vor den Füßen auszog. Diese Realität hob sich gegen den glutroten Sonnenauf- und -untergang kontraststark ab, dass sie den Existentialismus mit dem Unsinn und den perversen Schikanen einer lähmenden Apartheid in das Blau des Himmels brannte. Dabei war rasch erkennbar, dass man den Unsinn mit dem verfilzten Drum und Dran, was mit der bloßen Lächerlichkeit begann und sich bis zur Unerträglichkeit steigerte, nicht wie den steckengebliebenen Nagel aus dem zurückgelassenen Brett herausziehen konnte.

In der Nacht wuchsen die Spannungen zwischen Wollen und Sollen ins Unerträgliche, dass erst die frühen Morgenstunden den verkürzten Schlaf hergaben. Das, was sich im Traum stemmte und wehrte, ließ sich wörtlich etwa so fassen:

Der Raum, er weitet sich ins Unendliche.

Weggesprengte Wände mit dem Erdgeschmack der Bitternis,

dem Sand, den Steinen,

je länger und tiefer es geht.

In der Weitung brauchst du nicht fliegen,

aber ruhig liegen musst du.

Ich weiß, dass auch du es tun wirst,

nicht anders wie die andern

mit angelegten Armen und gestreckten Beinen.

Beieinander liegen die Körper

in Leinen verschnürt.

Und weiter, immer weiter dehnt sich der Raum

und noch viel weiter, weil es kein Ende nimmt.

So etwa trug der Kopf die Last ums Dasein durch die Nacht. Die normale Physiologie des Wechselrhythmus von Tag und Nacht war abhanden gekommen. Die Tage zogen sich in die Länge, begonnen und begrenzt von den feuerroten Auf- und Untergängen. Die Gefühle schaukelten und trieben das Innerste hin und her beziehungsweise auf und ab. Ihnen drückte sich als weiterer Teil die kochende Hitze auf. Der Wecker war der knurrende Magen. Von Mücken zerstochen, weil das Gitternetz zerrissen und gelöchert war, ging es aus dem Bett, und aus der Brause kam das heiße Wasser, sonnenheiß vom Vortag.

Ich betrachtete abgemagerte Frauen und Kinder in den schweigenden Menschentrauben auf dem Vorplatz vor der Rezeption um sieben Uhr morgens, später dann im Wartesaal des

>Outpatient department<. Die Erkenntnis, dass allgemeiner Hunger die Menschen an der Leine hat, hatte hier seine volle Gültigkeit. Spontan kam die Vermutung auf, dass Menschen im Zustand dieser Magerkeit sich nicht im Reden verausgaben, weil sie die Kräfte zur Geduld brauchen, um die Stunden hindurch zu warten, bis sie vom Arzt gesehen werden.

Die fragenden Blicke zum Himmel blieben so unbeantwortet wie die Orientierungsblicke in die in beißendem Schweiß gehüllten, dünnbeinig und dünnarmig, armselig gekleidet stehenden, vor mageren Bäuchen und auf knorrigen Rücken kindertragenden Müttern und auf dem Boden sitzenden alten und behinderten Menschen. Es war noch keine neun, als das Hemd auf der Haut klebte und der Mund trocken war. Heiß und drückend stand die Luft über Kopf und Kragen in einer dichten Menschenmenge, dass ein Kompass nötig war, um zu zeigen, wo es langgeht. Die Augen waren gerötet vom wenigen Schlaf und eingeriebenen Sand, von dem es außer den Steinen und zu jeder Zeit im Überfluss gab. Wo man hin und wie weit man sah, wo man ging, man trat auf Sand und Steine als den afrikanischen Wegerich, der gesäumt war von sperrigen Langdornbüschen.

Ich forderte das Dasein auf dem Sand über dem zerbröckelnden Urgestein im verschwitzten Hemd mit schwitznassen Füßen auf den Korksohlen der Birkenstock-Sandalen und den leeren Taschen und zwei Koffern mit dem unnützen Plunder geradezu heraus. Es war die unvorbereitete und ungewollte Herausforderung mit der Unsicherheit und Bodenlosigkeit durch das Fehlen von Grundwissen und Grunderfahrung, was Afrika und seine Menschen betraf. Da musste das kleine, aus Europa mitgebrachte Daseins-Einmaleins ins Auge gehn, wie es zu bewerkstelligen war, sich unter diesen Umständen am Leben zu erhalten.

Im Grundgefühl war das Wegrutschen ins Leere, eben in das Bodenlose. Wie sollte ich da auf dem kargen, rissig vertrockneten Boden den schweißüberzogenen wartenden Trauben magerer Menschen als Arzt näherkommen oder gar auf Hautfühlung gehen? Oder andersherum: Gab ich der Umgebung und ihren Menschen die Chance, an mich heranzukommen? Die Absicht war doch, dass ich gekommen bin, um mit den Händen die Chirurgie an diesen Menschen auszuführen. Und das in der Kriegszone mit den Granateinschlägen nicht nur in der Ferne, sondern bis an das Hospital heran, wo es wegen der Gefahr fürs eigene Leben nur wenige Ärzte gab. Andererseits war das Hospital heruntergekommen und überfüllt. In den Krankensälen roch es nach Urin. Patienten lagen zwischen den Betten auf dem Boden. Kleinkinder teilten sich zu zweit und zu dritt ein Kinderbett. Wie sollte man da die Beobachtungen verstehen und halten unter den Umständen des ausgerutschten, aus der Normalität weggerutschten Lebens? Und wie sollte man sich selbst einbringen und sich als Arzt und Chirurg nützlich machen, wenn es vom Medical Council in Pretoria, dem Machtzentrum der anachronistisch übergestülpten Apartheid mit den strammgezogenen Verbotsleinen noch keine Arbeitserlaubnis gab?

Die innere Stille gab es nicht, ganz abgesehen von der nötigen Schlafstille, die durch nächtliche Granateinschläge und den Antwortabschüssen aus den schweren Haubitzen unterbrochen war. Jäh wurde der Schlaf zerrissen, und Angst und Schrecken wälzten sich durch die Betten. Es gab das Ringen ums innere Stillhalten, den Kampf um die innere Disziplin, sich still zu verhalten, ohne Koller und ohne Rückzugs-, Rückkehr- und andere Fluchtgedanken.

Tagsüber starrten Armut, Hunger und Erbärmlichkeit in die übermüdeten Augen, dass die Knie weich wurden und der Kopf vorzeitig resignierte. Vieles am reißend-stechenden Gestrüpp und sonstig nutzlosen Beiwerk gehörte dazu, um die Situation widerspenstig zu machen, sie zunächst gefühlsmäßig in den Griff zu bekommen. Im Denken des Fremden ist vieles undenkbar. Und weil sich die Dinge im Verstand verhaken, haken auch die Worte, bevor die Bildersprache sich verständlich machen kann. Oft reichen die Worte nicht, um die Bedeutung der Situation vor Ort verstehbar zu machen mit ihren Fallen, Intrigen, den Engpässen und Dunkelheiten, wie sie als Komplex der Dinge vorlagen, um sie in ihrer Nacktheit sichtbar und in ihrer Dürftigkeit ruchbar zu machen. Die >Wortgebrechlichkeit<, ohne dass es gleich ein Wortbruch sein muss, wird noch bedeutsamer, wenn verschiedene Sprachen im gleichen Raum gesprochen werden, dass einer den andern nicht versteht.

Es gibt Bereiche, die sich mit Worten trotz Einstreuung meist unnützer Fremdwörter nicht abdecken lassen. Die Deckungsungleichheit ist die Regel, wo sprachliche Angleichungsversuche auch vergleichsweise erfolglos bleiben. Sprachlosigkeit setzt ein, wenn die Dinge davoneilen und sich zuspitzen bis auf die Höhe der makabren Entscheidung.

Die Wortverlegenheit ist der Fall, wenn freundliche und bedeutende Impulse kommen und gehen, ohne dass dazwischen gesprochen wird. Vieles Reden über Dinge, die zu tun sind, ist dagegen ein Hinweis dafür, dass es sich um die Verspätung handelt, wenn der Zug des Impulses schon davongefahren ist. Und wenn der Zug erst abgefahren ist, verlieren die Worte die Wirklichkeit des Gegenwärtigen. Sie liegen neben den Gleisen, wo sie verschrumpeln und verwehen, vom Wetter verwittern und der Rest vom Boden vertilgt werden. Das gilt nicht weniger für den Großteil des Lebens, weshalb vieles an ihm nicht stimmt.

Ich hatte Worte vertrocknen, schrumpeln, verwehen, verwittern und vertilgen lassen, ohne dass sich im Leben etwas verändert hatte. Da ging die Sprachverlegenheit in die Sprachlosigkeit hinein, deren vorgedachte Wortbündel irgendwo hängengeblieben oder aus dem Fenster geworfen worden waren, wo sie unbedacht und unbeachtet liegengeblieben sind und mit den angehängten Hoffnungen und Enttäuschungen vom Boden verschluckt und unter den Schuhsohlen zerrieben worden waren. Da kann man mit Worten nur noch hinterherreden, was an Kraft, Absicht und Genauigkeit an das aus dem Fenster Geworfene, Zertretene und schließlich Verlorengegangene bei weitem nicht heranreicht.

Irrläufer kommen neben Tausenden von Läufern vor, sie gibt es inner- und interkontinental. Dagegen sind Fensterstürze in Afrika selten. Diese beziehen sich mehr auf die höheren Stockwerke auf der nördlichen Halbkugel. Sie sind in Europa häufiger als in Afrika, weil in Afrika die Hütten mit den Strohdächern ebenerdig geblieben sind. Die Hütten sind türlos, dass sie mit eingezogenen Köpfen in gebückter Körperhaltung zu betreten sind. Ein oder zwei kleine Öffnungen gibt es zum Hinaussehen. Glasfenster des Kleinformats sind dagegen die Ausnahme. Wie es mit den Kralen bestellt ist, so ist das afrikanische Denken anders als das europäische, wenn es >Schwarz< im Sinne alter afrikanischer Sitten und Gebräuche gedacht wird, wo die Anbindung – wenn überhaupt – am materiellen Gegenstand im Gegensatz zur europäischen Gewichtung weniger bedeutend und nur sehr locker ist. Wie gesagt, das im Sinne des alten afrikanischen Denkens.

Die afrikanische Gewichtung der Dinge war seit der ersten Betrachtung des Bodens und seiner Menschen nicht von den Augen zu wischen. Angestrengt und geduldig standen dünnbeinig und arm gekleidet in Warteschlangen und schweißumwölkte Trauben in ihrer Dürftigkeit die alten Menschen, die alt aussehenden jungen Menschen und die Mütter und Großmütter mit den mageren Kindern auf ihren Rücken und den Babys auf den Armen oder vor den schlaffen Brüsten. Die Warteschlangen bildeten sich kurz nach Sonnenaufgang vor der Rezeption und danach in der Wartehalle. Ihre Länge nahm mit den Stunden zu und hielt sich bis kurz vor Sonnenuntergang, wenn die Sperrstunde für die Menschen der schwarzen Haut einsetzte, dass sie nicht zu ihren Dörfern und Krälen zurückkehren konnten.

Für die Nacht legten sie Tücher, Pappen und Zeitungspapier auf den Betonboden vor der Rezeption, um mit ihren Kindern und Babys und den gebrechlichen Alten dort zu schlafen. Die Betrachtung Afrikas und seiner Menschen erschütterte durch die Kargheit in der Erbärmlichkeit mit den dünnen Armen und Beinen und den aufgetriebenen Wasserbäuchen von Kindern mit den großen Augen in den eingefallenen Gesichtern. Zur Beschreibung des Zustands dieser Menschen wirken Worte oberflächlich und unglaubhaft, besonders wenn sie aus der Sprache kommen, die zu lange für belanglose Alltagsdinge nördlich des Äquators beansprucht worden ist. Die Sicht mit der unverwischbaren Einsicht in die Armut drückte den harten Denkstempel des Niedergangs durch die soziale Verformung in der Entartung und völligen Hilflosigkeit ins Hirn. Die drängende Frage der Rückkehr zu jenen Gemeinschaftsstrukturen ließ sich nicht beantworten, wo die Achtung vor dem Wert und der Würde des Menschen noch gilt.

Der Schreckensblick der Tristesse gehörte zum Erscheinungsbild der mageren Menschen auf dem steinig kargen Boden. Da verflog gleich beim ersten Hinsehen jeder Zweifel an der Nichtzugehörigkeit oder Nichtzusammengehörigkeit. Es wurde klar, dass das Eine zum anderen gehört, es mit sich mitbedingt, dass das Eine ohne das andere nicht sein kann, beziehungsweise es nicht aus seinen Klauen lässt. Nicht im Traum ließ sich zwischen beiden eine Trennungslinie von oben nach unten oder von links nach rechts ziehen. Im Gegenteil: Dürre Gestalten trugen auf den Köpfen große Körbe mit Sand und Steinen davon, und das eben nicht nur im Traum. Sie kamen mit Kannen und verbeulten Eimern auf ihren Köpfen zurück, in denen sie das Wasser von weitab gelegenen Brunnen herbeischafften, das zum Trinken, Kochen und Waschen gebraucht wurde. Es gab bezüglich der Schattenbilder keinen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Nur dass im Traum das Gewicht weniger schwer war. Jedenfalls gab es in dem Afrika nichts, was sich von der Haut und vom Hirn so ohne weiteres abheben ließ.

Nach Eintreffen der begrenzten und diskriminierenden Arbeitserlaubnis im System der anachronistisch verbohrten Apartheid ging es ins Innere des Hospitals mit dem sandig-körnigen Reiben und Quietschen des ‘Räderwerks’ in der Bewältigung der Tag- und Nachtarbeit. Verletzt und getötet wurden Erwachsene und Kinder in ihrer Unschuld und Unerfahrenheit vor den Gefahren der versteckten Minen. Es waren Kinder, die statt zur Schule zum Hüten der Ziegen aufs dürftige Grasland geschickt wurden, wo die Vierbeiner das letzte Gras aus dem Boden rissen und die Büsche und erreichbaren Baumäste kahlfraßen. Dazu stellte der Vierbeiner die Vorderfüße auf den Rücken des anderen Vierbeiners und streckte den Hals, so weit es ging. Auch kletterte er aufs Dach der Hütte oder auf die Ladefläche der Eselskarre, um an die letzten Blätter heranzukommen.

Mit Zugang zum Hospitalinnern wuchs das Staunen vor dem alten Gerät und den verrosteten, verbogenen und anderswie für den chirurgischen Gebrauch minderwertigen oder unbrauchbaren Instrumenten. Die Türen zu den Krankensälen klemmten. Viele Türen waren ohne Schlösser und Klinken. Die Fenster hatten Risse oder waren zerscherbt. Die wenigen noch ganzen Scheiben waren verschmiert. Nicht anders sah es in den Sälen aus. Die Betten waren aus alten Rohrgestellen und hatten Rostflecken und waren mit braunen Decken dürftig überzogen. Aus alten, fleckigen, angerissenen Schaumgummimatratzen kam ein penetranter Uringeruch. Im Duschraum waren die Wandfliesen verschmiert oder gerissen oder ganz herausgebrochen. Die Asbestdecken hatten Wasserflecken, und die Wasserhähne über den Waschbecken klemmten und tropften. Das Tropfen der Brause ließ sich nicht abstellen. Die Toiletten stanken, und der Gestank überstieg die Grenze des Ekels, wenn die Schüsseln verstopft waren. Die erste Betrachtung verschlug die Sprache wie nach einem heftigen Hammerschlag. Der verwahrloste Zustand der Gebäude, die überfüllten Säle und die minderwertigen und unbrauchbaren Geräte waren für die Augen und den Verstand beispiellos. Es traf zu, dass es Dinge im Verband mit Menschen gab, für deren Ausmaße die Worte nur mühsam zu finden, geschweige denn auszusprechen sind. Das ist dann der Fall, wenn der Nagel auf die >Köpfe< der Ursachen dieser Missstände treffen soll.

Im letzten Krankenraum des orthopädischen Männersaals lagen acht Patienten, die Grund zu ernster Sorge gaben, entweder weil die Wundinfektionen unbeherrschbar schienen oder weil andere Komplikationen die Wundheilung verzögerten. Unter den Patienten waren jene, deren Amputationsstümpfe am Unterschenkel infolge einer mangelhaften Blutzirkulation klafften und den süßlichen Fäulnisgeruch des toten Gewebes verströmten. Andere Patienten hielten die Hand mit gerunzelten, mumifizierten Fingern entgegen. Ein etwa fünfundzwanzigjähriger Patient brachte bereits sein drittes Jahr im selben Bett zu. Er saß mit großen Druckgeschwüren über dem rechten Gesäß auf unnatürlich verbogenen Beinen und bewegte seine weniger verbogenen Arme auf unnatürliche Weise, fast gespenstig. Die Ursache des Leidens war die unvollständige Knochenbildung [Osteogenesis imperfecta], ein angeborenes Leiden, weshalb er schon als Kind mit Schienen und Operationen, insbesondere an den Beinen, behandelt wurde. Doch das alles führte zu keinem Erfolg auf Dauer. Das Gehen an Stöcken und Krücken, das in den Kinderjahren möglich war, bescherte ihm die Brüche an den Armen, die trotz der Behandlungsversuche in Fehlstellungen endeten, so dass er seit über zehn Jahren gehunfähig war. Vater und Bruder brachten ihn auf dem Eselskarren zum Hospital, da sie ihn zu Hause nicht mehr versorgen konnten. Einen Rollstuhl gab es nicht.

Die Saalrunde erwies sich als ein afrikanischer Augenöffner. Ich sah eine Wirklichkeit, die ich in Deutschland nur aus Büchern kannte. Nach der Saalrunde erfolgte ein Gespräch bei einer Tasse Tee im >Doctors tearoom<, der neben dem Umkleideraum und durch ein großes Glasfenster vom OP-Korridor mit den gegenüberliegenden Operationsräumen getrennt war. Hier sprach Dr. van der Merwe in natürlicher und menschlicher Weise von der Komplexität der Probleme und den daraus resultierenden Schwierigkeiten in der Behandlung der Patienten, für die er zuständig war. “Die meisten Frakturen behandeln wir konservativ mit Gipsen und Schienen. Bei einigen Patienten habe ich eine Knöchelfraktur mit einer Schraube versorgt.” So schilderte er die Situation, für die der Mangel an Instrumenten und Material sowie die fehlende praktische Erfahrung die Gründe waren, weshalb Verletzungen mit schweren und Mehrfachbrüchen über siebenhundert Kilometer weit nach Windhoek gebracht wurden.

In einigen Fällen assitierten ihm bei den Operationen die >Consultants<, die zweimal in der Woche vom Lazarett des Militärflughafens in Ondangwa, etwa vierizg Kilometer östlich von Oshakati, gebracht wurden. Doch diese >Consultants<, in Offiziersrängen nicht unter einem Colonel, waren in der Regel Spezialisten der Chirurgie, die derartige Verletzungen mit Frakturen direkt ins Militähospital nach Pretoria fliegen ließen. Auf die Frage, ob die Arbeit ihn nicht überfordere, antwortete Dr. Van der Merwe, dass er froh sei, seine Dienstzeit als Arzt in Oshakati zu verbringen, denn hier könne er die Erfahrungen sammeln, die ihm später in Südafrika zugute kämen. “Auch gibt es hier Weiterbildung”, fuhr er fort, “jeden Freitag halten die Spezialisten einen Vortrag über aktuelle Themen aus der Chirurgie, dem sich eine Diskussion anschließt. Das ist für uns, die wir noch in der Ausbildung sind, sehr nützlich.”

Nichts erinnerte in der ersten Orientierungsrunde aufgrund der allgemeinen Armut und der breiten, oft erschreckenden Erbärmlichkeit an Land und Leben der Menschen meiner Herkunft. Gärten und Grünanlagen in der Umgebung sauberer und funktionstüchtiger Krankenhäuser, was zur Stärkung der Patienten beitrug, musste in der Kargheit des ariden afrikanischen Bodens abgeschrieben werden. Wie draußen, so war es drinnen. Der Arbeitstag entpuppte sich als heiß, steinig, mühsam und zehrend. Dazu der wenige und gestörte Schlaf, die Granateinschläge im Dorf und um das Hospital herum und die donnernden Erwiderungsabschüsse aus den schweren Haubitzen aus dem nahegelegenen Camp.

Eine Granate schlug in den Wasserturm am anderen Dorfausgang ein, eine andere den Wasserturmkopf hinter dem Hospital “lack”. Der Wasserturm am Dorfausgang erhielt einen Treffer, dass ihm der >Wasserkopf< in den Schiefstand rutschte. Auf dem Hospitalgelände entstand ein knöchelhoher See vor den Wohnbaracken des Personals und den drei Arzthäusern, dass Schwestern und Ärzte mit dem klappernden Kleintransporter zur Arbeit geholt und nach dem Dienst zurückgebracht wurden. Die Reparatur nahm vier bis fünf Tage in Anspruch, währenddessen das Hospital ohne Wasser war. Hinzu kamen die unvorhergesehenen Stromausfälle. Von den zwei Dieselgeneratoren für den Notstrom war einer defekt, und für den andern, der es tat, fehlte der Dieselkraftstoff.

Vieles kam zusammen, dass es im Kopf schwirrte und unter den Sandalen knirschte. Es war kein Wunder, dass der Gewichtsverlust den rapiden Verlauf nahm, dass in Abständen von wenigen Wochen der Gürtel enger geschnallt werden musste. Zu den vier ursprünglichen Löchern kamen mit den ersten zwei Jahren vier weitere hinzu, die mit dem Pfriem in gleichen Abständen durch das Gürtelleder gestochen wurden.

Das ist eine Notiz im ersten Jahr:

Du,

in schwimmenden Gedanken,

ob in Rückenlage,

ob im Schmetterling.

Weit greifen sie aus,

mager gewordene Arme schlagen das Rad

durchs Wasser,

durch die Luft.

Anderes ging, doch anderes kam,

das draußen wie auch drinnen.

Ziffern fielen von den Wänden,

andere steckten sie sich weg.

Als schmückten sie sich mit dem Gekämmten,

denn zu gewinnen gab es nichts.

Es war das Erlebnis der ersten Tage in Afrika: Gegenständlich blieben die Menschen draußen vor dem Hospital wie drinnen im Wartesaal und in den Krankensälen die Wiederholung des Vortages, dann der Vortage. Die Schwarzhäutigkeit der Warteschlangen und der Trauben auf den Wartebänken in den scharfen Schweißwolken war arm und grau und geflickt gekleidet. Das Spindeldürre der Arme und Beine der kleinen, meist nackten Kinder stach schmerzlich in die Augen. Spindeldürre Kinderbeine sahen wie Stöcke aus. Die Augen in den abgemagerten Kindergesichtern waren groß. Andere Augen waren eingesunken, vor allem bei jenen Kindern, die die ausgebuchteten Kwashiorkor-Wasserbäuche vor sich hertrugen.

Es musste erst verstanden werden, dass es die letzte Phase mit den Mängeln war. Die Kinder waren zu schwach, um länger zu stehen. So saßen sie auf dem Boden zwischen den Erwachsenen, ihrerseits mit den Sorgenfalten in den Stirnen und den Hungerfalten um ihre Jochbögen. Es war das Warten auf die Befreiung, die oft noch am selben Tage eintrat. Dann lagen sie auf dem Rücken oder auf der Seite mit ihren kleinen, eingefallenen Gesichtern und den großen glanzlosen Augen, die zu schließen sie nicht mehr geschafft hatten.

Das europäische Auge brauchte länger, um die schwarzen Gesichter voneinander zu unterscheiden. Nach Monaten begann es, dass sich der Mensch in diesem Winkel der Welt gegenständlich und physiognomisch entfaltete. So wurde aus dem Unterscheiden ein Lernprozess ohne Ende, der durch das schwarzadaptierte Hin- und Hineinsehen die tieferen afrikanischen Erkenntnisse vom Menschen brachte. Sie erst machten das Leben und seine Umstände verständlich, wie sie von den Machthabern der weißen Apartheid durch die pigmentbedingte Wegnahme von Integrität und Menschenwürde den schwarzen Gesichtern aufgezwungen worden waren.

Das Kräuselhaar entsprang dem Genbrunnen ebenso wie der Melanozytenreichtum in der Haut und das Dunkelbraun der Regenbogenhäute. Doch gab es Scheitelmitten, wo sich ergraute Haare sträubten, als würden die Gedanken darunter aus den Köpfen schießen. Leute mit Hüten, um was zu verstecken, die gab es nicht, sie wären hier auch fehl am Platz gewesen. Die Hälse der Menschen waren dünn und faltig. Schon die jüngeren Menschen sahen älter oder alt zum Erschrecken aus. Auch Kinder trugen die Zeichen des vorzeitigen Alterns mit sich herum. Die Wangen der Menschen waren durchweg eingefallen, und die Zeichen der Lebensverkürzung markierten über jeden Zweifel die Gesichter. Diesen Menschen musste geholfen werden, und das so schnell wie möglich. Jedes Zögern in der Hilfeleistung war ein Vergehen an den Menschen in dieser trostlosen Erbärmlichkeit gewesen.

Selbst in der Muttersprache machten Worte große Augen, wenn sie den Verschrägungen und Verzwingungen des Lebens konfrontiert wurden. Da kamen Worte herüber, die über die Brücke der vertrauten Sprache nachgereicht wurden. Beim Hineinhören trafen diese Worte oft nicht zu. Sie fielen, als seien die Brückenpfeiler weggesprengt worden, nach dem Herausdenken schon ins Wasser, bevor sie die Zunge ausgestoßen hatte oder sie an der Zahnfestung steckengeblieben waren. Worte konnte man sich sparen, wenn die Treffsicherheit auf den Kern mehr unwahrscheinlich als wahrscheinlich war. Man sollte Worte, weil sie verkehrt sein werden, früh genug ins Hirn zurückheben, selbst dann, wenn man sich in der Muttersprache zuhause zu fühlen glaubt. Was sollte man sagen, wenn man sich in den Augen des andern bereits spiegelt und das nachgesetzte Wort auf dem Spiegel verschwimmt und sich verzerrt? Nichts sollte man sagen, solange die Augenspiegelung noch im Gange war. So ging vieles über die Hutschnur bei Sachen, ob Haupt- oder Nebensachen, die eigentlich darunter waren.

Auch wenn das Netz der Muttersprache einem vertraut war, rutschten trotzdem Worte oder Wortteile durch die Maschen. So rutschte beim Auseinanderbrechen des Wortes >Abfall< das Teil >Ab< oder das Teil >fall< durch das Silbenfilter, was meist dann geschah, wenn man es nicht wollte. Wie sich in der Musik Tonreihen von Akkorden unterscheiden, das Horizontale im Fugalen gegen das Vertikale des Akkords absetzt, so ging es in der Sprache mit den Worten >aufstehen< und >liegenbleiben<’ oder >schwimmen< und >hochklettern<. Im Leben kommt es beim Sprechen auf die richtige Atmung an. Das Ankoppeln der Worte muss so ausgesprochen werden, als bewege sich alles im Fluss. Da ist es das Kommen und Gehen, das doch fließend bleibt, wenn ein Wort dem andern in enger Anbindung hinterherfließt. Sie werden auf den Sprachwellen getragen und das bis weit weg. Das Sprachbett ist da, bevor die Worte zu fließen beginnen. Die Konturen sind vorgegeben, auch wenn sie unausgesprochen sind, als schwebe die Sprache über den Dingen, verbindet die Worte und löst sie voneinander bis ins Silbige zurück. Auch ist denkbar, dass Sprache in den Dingen drinsteckt. Es war oft schwer, das treffende Wort für die Situation im An- und Abkoppeln zu finden. Es musste gesucht, der Faden geschnürt und in der richtigen Höhe gefühlt werden, wenn das Wort aus dem Ganzen wie aus einem Fels oder dem Eisberg herausgebrochen oder >losgeeist< werden sollte, um über die Brücke zu kommen, wobei es auf dem Gleis vom einen Brückenende zum andern gefahren wurde. Es war die Mitteilung, dass es das Leben auf beiden Seiten der Brücke gab, dass auf beiden Seiten das Leben geatmet wurde. Man konnte es über die Brücke herüberhören, um in der Antwort das Wort zurückzusprechen.

Aus der Vielbödigkeit der Sprache trotz des Zurufs:

Sprache,

bleib mir nah,

ich möchte noch erzählen,

wie’s war, als ich in die Steppe ging.

Sprache,

auch du bist verwundet

nach dem, was geschehen ist.

Auch du bist wirklichkeitsverwundet.

Sprache,

führ mich zum Wort zurück

oder lass mich ein neues finden,

um aus der Antwortlosigkeit herauszukommen.

Sprache,

wenn du verstummst,

verglüht der Stein

und mit ihm der Mensch,

der fürchterlich erschrak,

als er hindurchging,

dir das Vermächtnis anvertraute,

weil er selbst die Sprache verlor.

Sprache,

sag, wie Reden gesprochen wurden

mit den tausend Finsternissen.

Sag an, was nach den Reden kam,

als Augen in Tränenmeeren versanken,

dass Kinderstimmen mit ihren Müttern verstummten. *1

In der Sprache steckt die Rache der Rechtfertigung und des Widerspruchs ebenso drin wie das Ach des Erstauntseins mit dem Aber des Zweifelns. Es führt über den Nennweg des Gegenstands in der Sache, in dem das Verhalten drinsteckt hin zur Definition in der Relation von Ding und Idee in der Ganzheit seiner Sinnhaftigkeit. Aus dem Problem der Wortfindung mit den hundert Prozent der Treffgenauigkeit wird ableitbar, dass das Maß der Dinge in der Vollständigkeit mit Worten nur begrenzt zu fassen ist. Der Großteil mit dem Nicht-mehr-Messbaren liegt weiter in der Idee, als sei er in ihr zurückgeblieben. Deshalb gibt es noch die Hoffnung, dass neue Entdeckungen an den Tag kommen und mit Hilfe der bisherigen Erfahrungen in den Raum des Nenn- und Messbaren befördert werden.

In der Sprache der Entdeckungen, der Literatur und der Kunst lauert aber auch der Teufel in Menschengestalt, um zu töten und das zu zerstören, was durch Schöpfungen der Menschheit zugute kam. Oft sprechen Verräter und Mörder, und das nicht nur in der Grammatik, dieselbe Sprache wie die Menschen der ehrlichen Absicht und Arbeit, des Anstands und Respekts mit der spontanen Hilfsbereitschaft. Es gibt stille und verstummte Gräben, Schneisen und Schächte, die nicht zu übersehen sind. Es bleibt eine Binsenwahrheit, dass sich die Sprache in sich selbst wegstürzt, wenn es mit dem Leben nicht mehr stimmt, beziehungsweise die Sprache mit dem Leben nicht mehr übereinstimmt. Nicht anders ist es mit dem Begriff >Heimat<, der seine Flecken und Löcher dann bekommt, wenn die Sprache heimatlos und die eines Emigranten geworden ist. Da werden Zusammenhänge mit Kürzeln und der Bildsprache zugedeckt, weil die Worte im Kopf und auf der Zunge, wie sie in der Kindheit und Jugend noch gesprochen wurden, nicht mehr gesagt werden können, ohne die Agenten als die scharf abgerichteten Hunde der Diktatur auf den Hals zu bekommen.

Wenn der Ernst, der tödliche, im bunten Gewand des Clowns daherkommt und seine Witze zum Besten gibt, dann ist auch die Endphase erreicht. Die Sprache des zweiten Bodens kommt zum Tragen, wenn vom >Kartoffelputzer< auf dem Diamantenfeld die Rede ist. Ein verbales Funkeln entzündet noch keinen Blitz, und ein Blitz macht noch keinen Trompetendonner, der furchtbar dröhnen soll, damit der Sturzregen einsetzt, um das Ungeziefer zu ertränken, die Luft klar und den Weg frei zu machen für das, was für die Menschen nützlich ist. Wenn hier von den Menschen die Rede ist, dann sind es jene, die hilf- und wehrlos, die verletzt und krank waren. Es sind die Menschen mit den >leeren< Händen, die verbraucht und schwach geworden sind, um aus den Tiefen des Elends und der Armut herauszukommen.

Unter der weißen Vorherrschaft musste sich der Schwarze von dem Gedanken freimachen, dass es für ihn und seine Familie ein Leben geben wird, in dem es Sicherheit und die Chancen des Aufstiegs und überhaupt die Aussichten auf ein besseres und lebenswerteres Leben für seine Kinder gibt. An den bescheidenen Wohlstand sollte er gar nicht denken, das sollte er sich aus dem Kopf schlagen. Er ist nicht in dieser Welt, um so etwas erwarten zu dürfen, weil es nicht dem burischen und nicht dem europäischen Denken entsprach.

Dass der Herren- und Herrschaftsgeist, der mit der Zerstörung afrikanischer Traditionen einherging, sich tief in die weißen Hirnwindungen eingegraben hatte, konnte deshalb nicht verwundern. Dass die Herrschsucht die Köpfe aber bis zum Wahnsinn trieb und nach dem Ableben in den von Alzheimer geschrumpften Windungen neben anderen Verkalkungen noch nachweisbar war, das ging dann doch zu weit. So war die weiße Macht-Parabel vom Anfang bis zum Ende ein Kreis, auf dem Bildung und Einbildung als zwei Punkte auf dem Kreisumfang hintereinander herjagten, sich aber nie berührten und schon in der ersten Differentialgleichung ins Nichts verschwanden. In einer solchen Parabel musste die Sprache der Vernunft doch noch gesucht werden. So schüttelte ich am Ende eines Gespräches mit dem weißen, noch zivilen Superintendenten den Kopf und stellte ihm die Frage: “Was hilft es den Schwarzen, die sich auf eine Ewigkeit ohne Hoffnung einzustellen haben?”

Das Wissen vom Frieden war auch in Afrika vorangekommen. Global gesehen war das Wissen so immens, dass es sich in seiner Fülle kaum noch abfragen ließ. Die Erkenntnisse in den Friedenswissenschaften gab es in Büchern gedruckt, die sich in den Bibliotheken bis an die Decke stapelten, dass vom eigentlichen Frieden nichts mehr zu sehen war. Aus der Diskrepanz von Theorie und Praxis erhärtete sich der Verdacht, dass die Friedensforscher Zwillingsbrüder der Politiker waren, da beide viel über den Frieden redeten, aber solange die Erinnerung reicht, das Wort nicht hielten, wenn es um die Friedensumsetzung in die Praxis ging. Es wäre recht und billig, diese Zwillingsbrüder für die Zerstörung von Mensch, Natur und Kultur haftbar zu machen, die sie mit ihrem Wortsalat der Halbherzigkeit angerichtet hatten.

Wie die Politiker waren Friedensforscher gut gekleidete Damen und Herren, dass man ihnen irgendwelche handwerklichen Geschicklichkeiten nicht unterstellen mochte, sei es den Nagel in die Wand zu klopfen oder das Kleinhacken von Holz oder irgendwelche gärtnerischen Fähigkeiten wie das Umgraben mit dem Spaten. Kollegen versicherten sich der Übelkeit, wenn sie die Luftredner beim Wort nahmen, weil sie wussten, wie schäbig sich Großmäuler zu Hause aufführen. Worte wie >Anstand<, >Arbeit<, >Wahrheit<, >Würde< und >Gott< wurden von den Banausen in den Mund genommen, um darauf wie auf einem Kaugummi herumzukauen. Später spuckten sie das Kleingekaute aus, dass mit dem Ausgespuckten auch die Schalenstücke der großen Dinge auf dem Boden herumlagen.

Freunde äußerten beim Glas Rotwein, dass sie sich vorstellen könnten, dass die gut dotierten Stellen in den Laboratorien der Friedensforschung von diesen Typen besetzt würden, die menschlich gesehen dem feigen Pack und arbeitsscheuen Gesindel, als auch den Verrückten des Geltungswahnsinns angehörten. Sie sind aufs Geld aus und lassen sich für das Leben im Luxus gut bezahlen. Sie bedienen sich auf dem Markt der freien Meinungen und handeln unter der Hand mit den Markenzeichen der beschränkten Haftung. Ihnen schwebt die Vergrößerung des Namens vor, die in die Friedensforschung einzugehen hat. Dabei wissen sie sehr wohl, dass deshalb der Frieden auch nicht kommt. Friedensforscher und Friedensredner sind für Preise und Preisungen jeglicher Art sehr empfänglich, dass die Frage, ob sie denn immun gegen Korruption sind, durchaus berechtigt ist. Ihnen schwebt weniger oder gar nicht vor, für den Frieden mit dem Spaten oder dem Minensucher in der Hand zu arbeiten und so als Vorbild dem Frieden durch Mut, Einsatz und Fleiß zu dienen. So weit ging und geht ihre Liebe zum Frieden eben nicht.

Die Freunde blätterten in der Erinnerung und sahen die Gurus und Seher, die pharisäischen Schriftgelehrten und Künder des Friedens. Sie alle waren feige und falsch, weil sie das bessere Leben für sich im Auge haben, das sie für den Frieden nicht eintauschen wollen. Sie hörten die Gelehrten der Theologie und Philosophie und folgten den analytischen >Galbelsuchern< bei der Arbeit, wie sie Datenspeicher durchwühlen, putative Puzzles schmeißen, kodierte Detektoren und andere Filter über die >Windows< setzen und mit dem elektronischen Fummelzeug dazwischenmengten. Sie machten Striche, Kreise und Spiralen auf dem Bildschirm, drehen nach links und kurven nach rechts, rasen runter und wieder rauf, dass die >Windows< nur so zucken.

Sie kreisen ein und nennen es Ziel, als würde der Mensch als Friedensstifter im nächsten Moment mit der Festplatte in der Hand aus dem Turm steigen. Die Gabelsucher in den vollen Datenspeichern mit den eingebauten >burglar bars< geben sich da mehr Mühe, weil es ohne Mühe für sie nichts gibt. Nur bleibt auch ihnen der direkte Zugang zum Frieden verwehrt. Der Frieden ist eben nicht auffindbar. Darin sind sich die Gelehrten einig, ob Künder oder Seher des Intuitiven, ob Forscher oder Redner mit der beschränkten Haftung in den Laboretagen der organischen und anorganischen Friedensforschung oder die rumfuhrwerkenden Gabelsucher mit der aufgesteckten Suchfilter-Elektronik.

Der Absicht folgte der Zweifel, doch sollte der Absicht das Gute nicht abgesprochen werden, dafür lief die Geschichte mit dem ausbleibenden Frieden schon zu lange. Darin unterschied sich Oshakati mit dem runtergekommenen Hospital nicht vom angestrahlten Luxushotel in Vancouver oder Monte Carlo oder woanders an der Côte d’Azur. Dass hochkarätige Leute an die angolanische Grenze überhaupt angereist kamen, hatte seine Gründe. Denn an dieser Grenze musste der Krieg mit der wahnsinnigen Verminung und der Hinterhältigkeit des Tötens gestoppt werden. Es waren die afrikanischen Stellvertreter der Supermächte in der globalen Ost-West-Eskalation, die Angola so gründlich zerstört hatten. Die Waffen für die Megazerstörung wurden mit Rohöl an den Osten und mit Rohdiamanten an den Westen gezahlt. Für dieses Kriegsgeschäft wurden der leidvollen Bevölkerung unsägliche Opfer abverlangt.

Das konnten die Kundigen, die Künder und die Gelehrten bereits aus den Fenstern des fahrenden Busses auf der zweihundert Kilometer langen Strecke von Oshivelo, der bewachten Zufahrt in die Kriegszone, sehen, als sie im Konvoi der gepanzerten ‘Casspirs’ fuhren. Auf der Fahrt konnten sie die Not um den Frieden durch die Fenster betrachten, was sie auf der Fahrt nach Monte Carlo so nah vor Augen nicht sahen. Im >International Guesthouse< über den Frieden nachzudenken, war eine historische Chance für die Teilnehmer des Symposiums wie für die Menschen, die vom Straßenrand den Bus kommen, vorbeifahren und wieder verschwinden sahen. Das Friedenssymposium mit den seherisch Wissenden und den wissenschaftlich Suchenden ging nach zwei Tagen zu Ende, ohne dass Seher und Gelehrte sich in puncto Frieden nähergekommen waren und den wartenden Menschen draußen Worte der Hoffnung aus den kostspieligen Friedensbemühungen geben konnten.

Die Zusammenfassung des Zusammengefassten lautete etwa so: “Wir wissen viel, vielleicht zu viel, doch was Frieden ist, das wissen wir nicht.”

Den Gesichtern waren die Anstrengungen um den Frieden ebenso anzusehen wie die Unsicherheit, ihn zu erreichen. Es gab kein Lächeln mehr auf dem Gruppenfoto, das es auf dem ersten Foto gab. Auch gab es keinen Aufruf zum Frieden, weil keiner den Frieden kannte. Doch über alles Gerede hinaus war den Teilnehmern bekannt, dass es Männer und Frauen gab, die mit ihren Händen und Füßen für den Frieden arbeiteten. Sie trugen Wasser, Decken, Nahrung und Medikamente zu den Menschen in Not; sie bauten Unterkünfte, halfen den Hilflosen, betreuten Kranke, verbanden Verwundete, teilten Malariatabletten, Lebensmittel und sauberes Trinkwasser aus.

Diese Männer und Frauen mit den arbeitenden Händen und Füßen strengten sich an und liefen vor dem Risiko fürs eigene Leben nicht weg. Sie waren die wirklichen Friedensarbeiter, die an die Menschen in Not und nicht an die Vergrößerung des eigenen Namens dachten. Ihnen mit den >kleinen Namen< und den vielen Namenlosen, die sich durch Hingabe, Mut und Fleiß bei der Arbeit an den leidenden Menschen unter oft widrigen Umständen und Gefahren auszeichneten, gelten Dank und der höchste Respekt. Dass es solche Menschen gab, ahnen konnte man es. Aber die Welt in ihrem platten Verständnis vom Frieden versteht es nicht, begreift diese Menschen und den Wert ihrer opfervollen Arbeit nicht, und kann die tätigen Friedensbringer daher nicht als Vorbilder in ihr Leben mit der Bequemlichkeit und dem Luxus einordnen.

Im Zwielicht der Gleichheit

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