Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 6

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Henrik wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ihm wurden zwei Brandstiftungen an Simons Kai und den dazugehörigen Gebäuden zur Last gelegt. Die erste Brandstiftung wog angeblich schwerer. Bei den Vernehmungen hatte sich herausgestellt, dass Henrik gewusst hatte, dass zu der fraglichen Zeit Menschen in den Fischerhütten schliefen. Insgesamt hätten sieben Männer den Tod finden können. Als bekannt wurde, dass Rakel als Zeugin über ihren Schwager nur Gutes gesagt hatte, obwohl es doch gerade Simon gewesen war, der ihn angezeigt hatte, war das Erstaunen groß. Leise und augenzwinkernd wurde darüber getuschelt.

Als mildernde Umstände war geltend gemacht worden, dass der Brandstifter seit langem an Depressionen litt und deshalb auch über längere Zeit hinweg stark getrunken hatte. Und dass er das Verbrechen unter Alkoholeinfluss begangen hatte.

Die Leute auf der Insel murrten und wussten nichts von Henriks Depressionen. Entschuldigungen würden immer gefunden, wenn es galt, den Abschaum der Menschheit zu retten. Depressionen! Henrik! Ein Narr und ein Schmarotzer. Das war er. Ein Parasit. Die Männer standen in Ottars Laden und erinnerten sich daran, wie großspurig Henrik gewesen war, als davon gesprochen wurde, dass Simon nach dem Brand in der Webstube saß und jammerte. Die Männer winkten verächtlich ab. Und es war, als ob Ingrid in ihren Augen wuchs, je mehr sie sich über den Faulenzer ausließen, über diesen Henrik – und seine Meriten. Die Geschichten waren lang und verwickelt und wurden in ihrer ganzen breiten Vielfalt aus der Zeit ausgegraben, als Henrik und Ingrid noch nicht zusammen gewesen waren. Einige wussten auch zu berichten, dass es vor der Heirat eine Art Tausch gegeben habe. Ob Simon und Ingrid früher ein Paar gewesen waren – oder Rakel und Henrik, darüber war man sich nicht einig. Aber es hatte einen Tausch gegeben! Es konnte passieren, dass einer von ihnen ernstlich wütend auf einen anderen wurde, weil der etwas Falsches erzählte. Und die Übrigen fuhren dazwischen, und der Vormittag ging vor lauter Diskutieren schnell herum. Über eines waren sich alle einig: Henrik war und blieb ein Taugenichts. Und niemand verstand, wie Ingrid es mit so einem aushielt. Denn was Recht war, musste Recht bleiben. Auch wenn Ingrid ein Verhältnis mit einem Deutschen gehabt und sich ein Kind zugelegt hatte, so war sie jetzt doch eine anständige Frau. Rakel war gescheit. Aber zugunsten dieses Herumtreibers auszusagen? Depressionen! Ja, ja. Nur Simons Frau konnte mit so feinen Worten alle anderen in ihre Schranken weisen.

Simon machte sich allerlei Gedanken und wusste nicht, dass er der große Held der Insel war. Er hatte den Eindruck, dass er den letzten Kredit gegen zu hohe Zinsen aufgenommen hatte. Außerdem machte er sich Sorgen um Rakel. Es ging ihr nicht gut. Er merkte es an vielen Kleinigkeiten. Sie lachte nicht mehr so gern und herzlich. War am liebsten allein. Ging kaum ins Dorf hinunter. Entschuldigte sich mit Müdigkeit oder zu viel Arbeit. Simon schob alles auf den Prozess gegen Henrik. Denn für Rakel war es ebenso sehr ein Prozess gegen Ingrid. Das tat weh. Simon wusste von dem, was sich zwischen den beiden Frauen abgespielt hatte, nicht mehr, als was er selbst gesehen und gehört hatte. Das war nicht viel. Und Tora hatte er nicht mehr gesehen, seit er den Mann und sie gerettet und mit dem zitternden Mädchen im Arm in der Tobiashütte gestanden hatte. Immer noch überkam ihn ein ganz sonderbar weiches Gefühl, wenn er daran dachte, wie fest sie sich an ihn geklammert hatte. Vielleicht lag es daran, dass er selbst keine Kinder hatte.

Es wäre besser gewesen, wenn ihnen die Gerichtsverhandlung erspart geblieben wäre. Aber jetzt, wo das Ganze durchgestanden war, mussten sie alles nehmen, wie es eben kam. Rakel hatte also doch recht gehabt, als sie einmal sagte: »Genau so sind die Leute. Legen einfach ein Feuer.«

So war jedenfalls Henrik. Die meisten waren nicht so. Trotzdem war es schlimm genug. Simon hätte gerne etwas für Ingrid und das Mädchen getan. Aber immer stand er vor verschlossener Tür, wenn er mit Ingrid reden wollte.

Er konnte deutlich sehen, dass sie zu Hause war. Und da half es ihm nichts, dass er keinerlei Schuld fühlte, weil er die Anzeige nicht Henrik zuliebe zurückgenommen hatte. Er konnte und wollte einen solchen Menschen nicht frei herumlaufen lassen. Im tiefsten Herzen verachtete Simon solche Taten und distanzierte sich von ihnen. Er konnte diese Leute einfach nicht verstehen. Der sonst so sanftmütige Simon war unnachgiebig gewesen. Die Wahrheit sollte ans Licht.

Der Mann war schließlich selbst schuld. War er nicht mit einer großartigen Frau verheiratet? Konnte er sich nicht anständig benehmen wie andere Leute auch? War das Leben für Henrik so viel schwieriger als für andere? Henrik hatte Simons Überzeugung ins Wanken gebracht, dass dort, wo Simon war, keine bösen Taten möglich seien. Die gab es für Simon nur irgendwo in weiter Ferne. Er hatte Rakel einen langen und wütenden Vortrag darüber gehalten. Hatte nicht gemerkt, dass sie ungewöhnlich still blieb – für ihre Verhältnisse. Am Ende hatte er Zustimmung von ihr verlangt. Aber sie hatte ihn nur angesehen und gesagt, dass er selbst wissen müsse, was er zu tun habe. Dann hatte sie in wütendem Tempo angefangen zu spülen.

Simon war mitten im Raum stehen geblieben. Es war ihm aufgegangen, dass Rakel es nicht richtig fand, dass er seinen Schwager wegen Brandstiftung angezeigt hatte. Und er begriff nicht, dass sie das anders sehen konnte. Hatte der Mann sich vielleicht nicht selbst für schuldig erklärt? Sogar mit einem Grinsen – und das vor Gericht! Vor den Augen von Simon und den Richtern und dem ganzen Saal. Hatte der Mann nicht ganz abgebrüht gewirkt bei dem Geständnis, gewusst zu haben, dass in den Hütten sieben Männer schliefen? Er wurde aus Rakel nicht klug. Sie hatte ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Simon musste immer daran denken. Er wusste gar nicht, dass er ein großer Held auf der Insel war. Dass er der solide und ehrgeizige Simon war, der sich in all seiner Majestät erhob und den Schwager ins Gefängnis schickte – weil die Gerechtigkeit schließlich ihren Lauf nehmen musste. Er war in den Augen der Leute so einzigartig, dass sie für eine Zeitlang Gesprächsstoff hatten und der Herbst ihnen deshalb nicht so grau und kalt vorkam.

Simon ging auf die Baustelle und kontrollierte und kommandierte ein wenig. Vielleicht würde er in der nächsten Saison wieder voll in Gang kommen. Die Männer hatten unbegrenztes Vertrauen zu ihm und trauten ihm zu, das Unmögliche zu schaffen.

Der stumme Raum

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