Читать книгу Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo - Страница 7

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Wie sie sich verhalten hatte, das musste doch einfach richtig gewesen sein. Musste es sein! Außerdem hatte Onkel Simon ja begriffen, wer den Brand gelegt hatte, auch wenn sie es ihm nicht gesagt hatte. Scham? Warum schämte sie sich nicht, weil er im Gefängnis saß? So wie sich ihrer Meinung nach ihre Mutter schämte? Lag es daran, dass sie irgendwo einen Vater hatte? Tot und unter der Erde, schon vor ihrer Geburt. Aber trotzdem. Oder schämte sie sich nicht, weil sie so froh war, dass sie sich in der Kammer sicher vor der Gefahr fühlen konnte? Mit diesem Mann hatte sie nichts zu schaffen.

Tora schlenderte an Ottars großem neuem Schaufenster vorbei. Ottar hatte seinen Laden erweitert. Die Straße musste jetzt einen großen Bogen machen. Die Leute redeten darüber, dass Ottar so protzig geworden war und nur deshalb angebaut hatte, damit er ein Schaufenster bekam und man seine Waren sehen konnte – und er hatte es so unpraktisch gemacht, dass der Weg jetzt einen Bogen um den Anbau machen musste. Aber sie fanden es eigentlich ganz schön. Waren stolz auf das Fenster, als ob es ihr eigenes wäre. Ottar führte jetzt auch Kleider. Er hatte Baumwollpullover ausgestellt, mit einem hohen Kragen und einem Gürtel um die Taille. Die Pullover waren gestreift, »in delikaten Farben«, wie Ottar sagte.

Ja, und dann waren Teddyjacken eingetroffen. Die auf beiden Seiten getragen werden konnten. Ottar strich sich die Haare glatt und drehte die Jacken um, so dass die rote Seite innen saß und die graue, flauschige außen. Er drückte die Knöpfe auf der verkehrten Seite wieder zu – und alles war ein Wunder.

Tora presste die Stirn an die Scheibe und starrte hinein. Wer doch eine solche Jacke haben könnte.

Sol und sie hatten es eines Tages gewagt, in den Laden zu gehen und eine Jacke anzuprobieren. Sie war wunderschön und warm und roch so gut.

Sol passte sie nicht, und sie war froh darüber – denn dann brauche sie nicht länger daran zu denken, sagte sie. Aber Tora hatte die wasserblauen Augen gesehen. Sie waren unnatürlich groß gewesen. Ohne Grenzen.

Der plumpe Körper von Sol aus dem Tausendheim. Sie machte sich selbst darüber lustig. Dann ließen es die anderen sein. Alles, was sie mit Putzen verdiente, gab sie zu Hause ab. Tora wusste es, auch wenn Sol es nie erwähnte. Elisif, die eigentlich die Mutter hätte sein sollen, hatte genug damit zu tun, ihren Gott zu verehren, so dass alle Arbeit an Sol hängen blieb.

Tora glaubte, Sols Hand zu sehen, wie sie sich liebevoll mit der Teddyjacke im Schaufenster befasste, wie an dem Nachmittag beim Anprobieren. Der kräftige große Daumen wirkte seltsam fehl am Platze auf dem neuen Kleidungsstück. Es war dieselbe Hand, die Tora unzählige Male bei der Arbeit gesehen hatte. Sie hatte abgeknabberte Bleistiftstummel festgehalten, wenn Sol mit ihren Aufgaben am Küchenschrank saß – und alle Stühle weggeschoben waren, damit die Kleinen nicht an ihr hochklettern konnten. Deutliche schwarze Ränder unter den Nägeln. Es lag nicht daran, dass Sol unsauber war. Aber bevor sie sich an die Aufgaben setzte, wischte sie meist noch den Boden auf. Um sie herum musste es ordentlich sein, wenn sie ihre Schularbeiten machte. In dieser Beziehung ähnelt sie meiner Mutter, dachte Tora.

Treppe putzen setzt sich unter den Nägeln ab. Asche ausleeren. Setzt sich auch unter den Nägeln ab. Kohle schaufeln. Heizen. Alles setzt sich wie ein Trauerrand unter den Nägeln einer Arbeitshand ab. Wie unermüdlich Sol auch an ihren Nägeln kaute, es waren doch immer Ränder da.

Sie waren noch intensiver rot geworden, ihre Hände – seitdem Sol mit der Schule fertig war und den ganzen Tag putzen ging. Hellbraune Sommersprossen schmückten die Arme oberhalb der Handgelenke. Aber sie waren hier eigentlich fehl am Platz. Die Hände waren trocken und rissig. Runzelig und zerknittert auf der Oberseite, glatt wie vom Meer abgeschliffene Steinen auf der Unterseite. Hie und da kleine Wunden und Schrammen. Nicht der Rede wert. Nicht groß genug, um einen Lappen oder ein Pflaster aufkleben zu müssen. Sie waren einfach da … Sol trug sie mit sich, wo sie auch hinging. Und die Jacke passte nicht. Weder zu dem Körper noch zu den Händen. Tora empfand plötzlich eine unerklärliche Zärtlichkeit für Mutters und für Sols Hände. Es war wie das Gefühl, das sie ab und zu hatte, wenn sie einen kleinen Fisch vom Haken losmachte und ein oder zwei Sekunden zögerte, ehe sie ihn wieder ins Meer warf, weil sie überlegte, ob er wohl zu schwer verletzt sei, um zu überleben. Und der Gedanke beschäftigte sie noch lange danach. Sie glaubte, den Fisch dort unten zu sehen. In Schräglage, mit unkontrollierten, kraftlosen Schwanzschlägen. Sah, dass der Kieferknochen quer abgerissen war. Sah, dass ein Knochensplitter aus der grauen Fischhaut ragte. Aber es war ein so kleiner Fisch – ein so kleiner Knochen. Es gab so viele Fische im Meer. So viele Hände. So viele Wunden. Die größer waren.

Auf dem Heimweg ging Tora an der Hütte von Frits und Randi vorbei. Drinnen war alles dunkel. Da waren sie wohl nicht zu Hause.

Er war auch wie eine Wunde, unter der Haut. Frits. Nicht so sehr, weil er taub war und nicht sprechen konnte. Eher, weil sie immer an die Gefahr dachte, wenn sie ihn sah. An dem Morgen, als sie unter dem Fischgestell von ihm fortgelaufen war, hatte sie ihn verloren. Weil er nicht wusste. Niemals wissen durfte, dass er der Erste war, der sie angefasst hatte, nachdem … er …

Später ging sie ungern in die Nähe des Kais und der Hütte, wo Frits wohnte. Den Sommer über hatte sie am Strand auf den Steinen gesessen und über die kleinen Inseln hinweggestarrt, während der feuchtkalte Wind sich ungebeten unter die schäbige Strickjacke geschlichen und ihr das Wasser aus den Augen getrieben hatte. Und es gab etwas, wofür sie keinen Namen finden konnte.

Sie wusste nicht, was ihr am meisten fehlte: Randi, die Bücher, die Musik – oder Frits.

Später dachte sie nicht mehr darüber nach. Es war etwas Fremdes in ihre Gedanken gekommen, soweit es ihn betraf. Es war eine Art gefühllose Erwartung. Den ganzen Sommer über hätte sie ihn gern getroffen. Und sie wollte es auch wieder nicht. Sie wollte zu ihm gehen. Dort sitzen mit der roten Decke über den Beinen und lesen. Wollte ihn anschauen – sein Gesicht erforschen, wenn er es nicht merkte. Aber gleichzeitig – wollte sie es nicht. Nun lag Mutters Schande wie ein Deckel über dem Ganzen. Er saß im Gefängnis. Tora konnte nicht mehr zu Frits gehen. Wäre am liebsten nirgendwo mehr hingegangen.

Trotzdem schlich sie oft bei Frits vorbei, wenn sie allein war. In der letzten Zeit hatte es sich ergeben, dass sie immer allein war. Nun war er in seine Taubstummenschule gefahren. Frits … Er würde erst zu Weihnachten wieder nach Hause kommen. Randi hatte Sol getroffen und nach Tora gefragt. Hatte ihr einen Gruß ausrichten lassen und dass sie doch herunterkommen solle, bevor Frits wegfuhr. Es würde Kuchen geben – ein Fest. Aber das war an dem Donnerstag gewesen, an dem die Mutter mit der Fähre allein aus der Stadt zurückgekommen war, und Tora brachte es nicht über sich, zu Frits und Randi zu gehen.

Später gab es so viel, womit sie nicht fertigwurde. Sie kam gleichsam nicht von der Stelle. Drückte sich nur im Dorf herum und nickte, wenn jemand grüßte. Tora wunderte sich, dass alle sie grüßten. Ihr ging plötzlich auf, dass es wohl daran lag, dass sie ihnen leidtat. Und schon krochen ihr die Ameisen über den Rücken und den Hals. Sie konnte glühend rot werden – auch wenn niemand sie ansah.

Und dann war da noch die Mutter. Sie wollte offenbar nicht, dass Tora zu irgendjemandem ging. Und Tora konnte sich auch nicht vorstellen, nach Bekkejordet zu gehen.

Die Küchendecke, die sie für die Tante sticken sollte, war fertig geworden, während die Mutter bei der Arbeit war, aber Tora hatte sie unter der Matratze versteckt und sich nicht aufraffen können, sie nach Bekkejordet zu bringen. Natürlich hätte sie es tun können, ohne dass die Mutter davon wusste. Aber es stand jetzt schon genug zwischen ihnen.

An diesem Tag hatte die Mutter sie auf die Post geschickt, um zwei Postanweisungen zu holen, und als Tora zurückkam, hatte die Mutter sich gleich hingesetzt und die eine ausgefüllt. Dabei schien sie in sich zusammenzusinken. Sie sah ganz grau aus. Gebeugt. Dann ging sie zum Ofen und warf die Postanweisung ins Feuer. Machte ein Gesicht, das deutlich jede Frage abwehrte. Darauf füllte sie das zweite Formular aus. Schnell, als ob sie Angst hätte, dass sie es sich anders überlegen könnte: »Für den Kleiderstoff. 32 Kr. An Rakel Bekkejordet.« Und Tora ging damit zur Post und senkte den Kopf, als Turid hinter dem Schalter die Postanweisung um- und umdrehte und Tora komisch ansah, bevor sie den Stempel aufdrückte. Sie schien Tante Rakel für alle Zeiten wegzustempeln.

Tora schlich davon. Es war schlimmer, als wenn sie bei Ottar Waren anschreiben oder beim Milchverkauf im Notizbuch quittieren lassen musste. Ja, es war viel schlimmer. So, als ob die Leute in die Mutter und sie hineinsehen könnten. Durch Mantel und Kleid hindurch sehen könnten, dass sie schmutzige Wäsche anhatten. Das Metall, das auf das Papier schlug. Der Stempel, der die Tante aus den Tagen herausschlug, die noch kommen würden. Toras Schritte klangen hohl auf den Fliesen. Ihr wurde klar, dass sie sich auf dem Weg nach draußen befand. Es roch nach Leim und Staub und Geld. Dicke, schmierige Bündel zwischen Turids Fingern. Nun lagen Mutters Zehnkronenscheine hinter den Gitterstäben. Und die zwei Kronenstücke waren kalt und tot und blank. In jedem Kronenstück ein Loch.

Als ob jemand Löcher in Tante Rakel gebohrt hätte. Als ob die Mutter es selbst getan hätte. Begriff sie das nicht? Die Tür dröhnte hinter ihr. Sie hatte eine Scheibe, die von der Meeresgischt und vor lauter Dreck ganz blind war. Tora schlenderte durch den Ort und dachte die ganze Zeit, dass die Gefahr aus der Kammer herausgefegt worden war. Und eine kleine Freude wuchs in ihr. Tora dachte angestrengt nach. Und Rakel und Simon und ihre Mutter wurden dadurch zu Freunden.

Ehe sie nach Hause ging, war der Tag schön.

Es waren viele Spatzen in den Pfützen.

Im Hof stand ein rotes Fahrrad mit einem roten Netz und einer glänzenden Lenkstange.

Der stumme Raum

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