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Samstag, 10.8.

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Es waren gestern wohl doch ein oder zwei Whisky zuviel. Jedenfalls schlafe ich recht lange. Seit ich wieder Single bin, muss ich auf niemanden Rücksicht nehmen. Das ist der Vorteil – alles andere beim Singledasein sind eher Nachteile. Gegen neun hole ich mir beim Bäcker um die Ecke zwei Roggenbrötchen, koche mir zwei Eier und frühstücke ausgiebig. Das Mittagessen werde ich einfach ausfallen lassen. Meine Artikel habe ich gestern spätabends noch per E-Mail losgeschickt. Sie werden bereits heute in der Samstagsausgabe erscheinen.

Ich lese mir meine Oliver-Bender-Notizen durch. Inzwischen sind es bereits mehrere Blätter. Heute habe ich frei und kann meine privaten Recherchen weiterführen. Ich werde gleich noch etwas im Internet recherchieren. Dann will ich wieder nach Himmelstal fahren, mit Zeugen wie dieser Corinna sprechen und mir die Dinge vor Ort anschauen. Vielleicht ergibt sich dann bereits ein Bild vom Ganzen.

Gegen elf komme ich in Himmelstal an. Ich muss unbedingt jemanden fragen, wieso dieses Dorf Himmelstal heißt. Ich kenne Himmelstür oder Himmelpforten. Dorthin schreiben die Kinder zu Weihnachten ihre Briefe ans Christkind. Aber Himmel und Tal – das liegt recht weit auseinander. Der Himmel ist oben, das Tal unten. Wie soll das zusammenkommen? Na ja, in Himmelstal scheint manches möglich, was andernorts nicht funktioniert, Überwindung des Todes zum Beispiel. Vermutlich liegt der Ort einfach im Tal. Während ich das gestern nicht bemerkt habe, geht es heute vom Ortschild an bis zu einem Teich und einer Wassermühle bergab. Logisch, dieser Bach bildet ein Tal.

Der Friedhof ist leicht zu finden. Ich parke neben dem Feuerwehrhaus, direkt am Eingangstor zum Friedhof. Hier steht eine weitere Station des Auferstehungsweges. Sie haben das Schild mit dem Steinbrecherbild eines leeren Grabes und grüner Lebensbäume direkt vor den Friedhof gestellt. Vielleicht wollten sie sagen: Schaut, dieser Friedhof ist kein Ort der Trauer, sondern der Freude. Das Leben siegt!

Ich gehe an den Gräbern entlang. Wie auf allen Friedhöfen gibt es hier große, kleine, gepflegte, überwucherte, kahle, bewachsene, schöne und hässliche Grabanlagen. Auf den ebenso unterschiedlichen Grabsteinen stehen Namen und Daten der Verstorbenen und Bibelsprüche. Manchmal sieht man Engel, Tauben, Madonnen, Kreuze ... Dieser Ort bildet mit seinen Namen wahrscheinlich das ganze Dorf ab, ist Himmelstal in klein. Für die meisten Dorfbewohner verkörpert er allerdings vermutlich nicht primär den Himmel, sondern eher das Tal.

Auf der anderen Seite versperrt eine hohe Hecke den Blick. Dahinter muss die Straße liegen, auf der ich gestern gekommen bin. Wegen der Hecke hatte ich den Friedhof nicht bemerkt.

An der Kapelle steht Olivers Spruch: »Ich lebe und ihr sollt auch leben!« Vielleicht haben er oder seine Familie sich hier inspirieren lassen.

Eine alte Frau, tief gebeugt stehend, kratzt mit einer kurzen Harke am Boden vor einem Grabstein herum. Neben dem Grab steht ihr Rollator. Als ich die Frau grüße, richtet sie sich ein wenig auf und lächelt freundlich. Ich frage nach dem Grab von Oliver Bender. Sie stützt sich auf ihre Harke und schaut mich prüfend an.

»Oliver? Er war mein Nachbar.«

Danach hatte ich nicht gefragt.

»Ich suche sein Grab. Er ist doch hier beerdigt worden?«

Die Alte schaut mich kritisch an und streicht sich nachdenklich durch ihre weißgrauen Haare.

»Aber Sie waren nicht bei seiner Beerdigung!«

Es klingt wie ein Vorwurf, ist vielleicht aber auch nur eine Feststellung. Die Frau macht trotz ihres kritischen Blickes einen netten, mütterlichen Eindruck. Wahrscheinlich sind die Leute vom Dorf zunächst immer ein wenig zurückhaltend.

»Nein, ich habe erst jetzt erfahren, dass er gestorben ist.« Ich will mich noch nicht als Journalist zu erkennen geben. Diese Frau ist vermutlich nicht auf Publicity aus, wie manch jüngere Leute und könnte eher ablehnend reagieren. »Deshalb komme ich erst jetzt und möchte von Oliver Abschied nehmen.«

»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Die Alte greift sich mit einer Hand ihre Gehhilfe und mit der anderen reicht sie mir die Harke. »Die können Sie gleich mitnehmen. Olivers Grab kann etwas Pflege vertragen.«

Was sie meint, verstehe ich, als wir das Grab erreichen.

Die Erde scheint nur flüchtig zu einem flachen Hügel aufgeworfen zu sein. Nichts ist geglättet oder geharkt. Ein Kranz mit verwelkten weißen Nelken und zwei Gestecke mit zum Teil abgeknickten Lilien liegen wie zufällig hingeworfen auf dem Erdhaufen. Dieses Grab wirkt verlassen, denke ich ...

»Man munkelt, das Grab wurde Anfang letzter Woche wieder geöffnet!« Die alte Dame scheint gut informiert zu sein. »Dann wurde es wieder verschlossen, aber Sie sehen ja selbst, wie lieblos sie hier alles hingeworfen haben!«

»Wissen Sie, warum es geöffnet wurde?«

Die Alte sieht mich, der ich sie deutlich überrage, von schräg unten mehrdeutig an.

»Hm. Ich weiß es nicht. Niemand hier weiß es. Aber es gibt Gerüchte.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na ja, zwei unserer Nachbarn verbreiten seltsame Geschichten. Und Frau Bender lässt sich kaum noch sehen.«

Ich bin richtig gerne Reporter, leide jedoch oft darunter, dass man manchen Menschen alles aus der Nase ziehen muss. Auch diese Alte ist alles andere als eine Tratschtante. Sie überlegt sich ihre Worte sehr genau und will offenbar niemandem etwas Übles nachsagen.

»Was sind das für seltsame Geschichten?« frage ich.

»Sie werden sie nicht glauben.«

»Aber hören würde ich sie trotzdem gerne. Ich bin einiges gewohnt!«, ermuntere ich meine Gesprächspartnerin.

Endlich scheint sie ihre Scheu verloren zu haben.

»Die zwei Nachbarn behaupten, sie hätten Oliver Bender am Sonntag nach seiner Beerdigung gesehen.« Jetzt ist es raus. Die Frau schüttelt mit dem Kopf und lacht. »Aber ich sagte ja schon, das kann man nicht glauben!«

»Aber Sie glauben doch an die Auferstehung der Toten – oder?« Ich versuche es einmal mit einer kleinen Provokation. »Es steht doch auch an Ihrer Kapelle dort hinten!«

Die Alte folgt meinem Blick in Richtung Kapelle, nickt und lacht. »Sie sind ja gut! Stimmt. Wir Christen glauben das wirklich. Aber doch nicht hier auf dem Friedhof! Hier liegen die Toten. Die Auferstehung kommt erst noch.«

»Woher wollen Sie denn wissen, dass sie nicht schon jetzt und hier auf Ihrem Friedhof passiert?«

Die Frau schüttelt ihr graues Haupt.

»Das weiß man eben. Wie genau das zusammenhängt, da müssen Sie unseren Pastor fragen.«

»Das mache ich. Wissen sie, wer das Grab geöffnet hat und was sie gefunden haben?«

Die Alte schüttelt mit dem Kopf. »Nein, damit kann ich nicht dienen. Der Pastor soll dabei gewesen sein, dann die Polizei und jemand aus der Stadt. Ich habe keine Ahnung – aber was sollen sie schon gefunden haben? Den Sarg und Oliver darin. Es war ja erst einige Tage her, dass sie ihn hineingelegt hatten.«

»Und die Witwe? Sie war nicht dabei?«

»Keine Ahnung.«

Die Alte zuckt mit den Schultern und dreht sich von mir weg zum Grab.

»Und jetzt machen Sie schon! Nicht reden, sondern handeln! Irgendwer sollte das wieder richten und schön machen. Und Sie haben die Harke in der Hand!«

Zunächst will ich widersprechen, dann merke ich, dass es nichts helfen würde. Diese Alte strahlt so etwas wie eine natürliche Autorität aus. Trotzdem muss ich mich ihr widersetzen. Ich brauche noch Fotos!

»Gut, ich mache ja schon. Aber bitte erlauben Sie, dass ich vorher noch ein Foto vom Grab mache.«

Jetzt kommt der misstrauische Blick wieder durch.

»Ich würde so gerne eine Erinnerung an Oliver haben, ganz so, wie ich ihn vorgefunden habe!« Etwas Besseres fällt mir so spontan nicht ein. Sie schüttelt mit dem Kopf.

»Na, Sie sind ja ein komischer Vogel. Dann machen Sie schon, und danach die Harke!«

Wie immer habe ich meine Canon EOS dabei. Ich hole sie aus dem Rucksack und fotografiere das Grab. Dann lege ich die Gestecke und den Kranz zur Seite, nehme ihre Harke und glätte den Grabhügel damit. Die Gebinde drapiere ich wieder sorgfältig und geordnet auf das Grab. Dabei lese ich noch einmal die Namen auf den Schleifen. Olivers Frau Maren hat den Kranz beigesteuert, die Gestecke kommen von den zwei Kindern Benni und Caren mit Sohn.

»Das sieht doch schon viel besser aus!« Die alte Dame reicht mir die Hand. »Geben Sie mir noch die Harke, dann kann ich meinen Mann dort drüben weiter pflegen! Wenn Sie wollen, können sie den auch mal knipsen! Ich habe viel zu wenig Fotos von ihm!«

Sie lacht. Humor hat sie.

»Mein Herbert liegt nach fast vier Jahren immer noch dort und ist noch nicht auferstanden! Wenn Oliver Bender bereits nach drei Tagen wieder lebt, wäre das doch irgendwie ungerecht, oder?«

Recht hat sie auch. Wenn nur einer zum Leben erweckt wird, wäre das tatsächlich ziemlich unfair ...

Ich schaue ihr nach, als sie auf den Rollator gestützt gebückt zurück zu ihrem Herbert humpelt. Vermutlich ist sie weit über achtzig Jahre alt. Vielleicht weiß sie, dass sie das Grab nicht nur für ihren geliebten Mann, sondern auch für sich selbst in Schuss hält. Eine beeindruckende Frau.

Ich mache noch zwei Fotos vom nun restaurierten Grab. So ähnlich sah es vermutlich direkt nach der Beisetzung aus. Hier also soll Oliver beerdigt und dann womöglich wieder lebendig aufgetaucht sein. Ich muss unbedingt herausbekommen, was die mehr oder weniger heimliche Öffnung des Grabes ergeben hat. Ich muss den Pastor sprechen. Der soll ja außer der Polizei und jemandem aus der Stadt dabei gewesen sein. Vorher allerdings will ich mir das Haus der Benders ansehen. Mit etwas Glück treffe ich vielleicht auch die Witwe.

*

Die Siedlung ist leicht zu finden. Es gibt nur ein Neubaugebiet im Dorf. Das Haus der Benders scheint eines der ersten darin zu sein, säumen doch Bäume und Büsche bereits üppig das Grundstück. Es ist ein freundliches rotes Backsteinhaus mit einem roten Krüppelwalmdach. Der weiße Carport passt gut zu den ebenfalls weißen Fenstern, Türen und Dachüberständen. Ein Fahrzeug steht nicht darin.

Ich klingle. Es rührt sich nichts.

Ich überlege, ob ich die Nachbarn aufsuchen soll, vielleicht diese Corinna. Mit Gerald Tönnies muss ich nicht noch einmal sprechen. Trotzdem klingle ich bei ihm, da er mein einziger Kontakt hier ist. Er wohnt direkt gegenüber den Benders. Seine Frau öffnet. Ihr Mann sei unterwegs. Ihre Nachbarin ist tagsüber in Lüneburg, informiert sie mich. Sie arbeitet dort im Krankenhaus, häufig auch am Wochenende. Aber Corinna, die müsste jetzt wegen der Kinder zu Hause sein. Es ist das nächste Haus, direkt an der Straße unten.

Ich klingle am benannten Haus.

Corinna ist eine junge Frau mit einem dezenten Tatoo am Hals, vermutlich ist sie noch unter vierzig. Im Hintergrund höre ich zwei Kinder streiten, vermischt mit Stimmen, vermutlich aus dem Fernseher. Ein kleiner grauer Hund, irgendeine Promenadenmischung, stürmt auf mich los, kläfft wie verrückt und scheint es auf mein Bein abgesehen zu haben. Die Frau packt ihn und hält ihn energisch fest. Ich stelle mich als Journalist vor und zeige meinen Ausweis. Die Frau bittet mich herein. Den Köter bindet sie im Flur an der Garderobe fest. Sein Kläffen kann sie nicht unterbinden.

Als wir in der Küche sitzen und sie ein Glas Wasser serviert hat, entschuldigt sie sich wegen der Kinder und des Hundes.

»Die streiten sich wieder mal, aber sonst sind sie meistens friedlich. Und Pupsi ist auch ganz harmlos.«

Es fällt mir auf, dass sich Eltern häufig für ihre Kinder entschuldigen. Sie streiten sich. Sie machen Dreck. Sie werfen das Getränk um. Sie weinen. Aber sonst sind sie nicht so. Ähnlich viele Entschuldigungen höre ich wegen der Hunde. Sie haaren und sie beißen nicht, sie haben so was noch nie gemacht und sind eigentlich ganz lieb. Aber was, wenn sie Pupsi heißen ...?

Corinna bestätigt die Angaben ihres Nachbarn. Sie hat Oliver Bender am Sonntagabend gegen zehn auf seiner Terrasse gesehen. Sie kam mit Pupsi am Haus der Benders vorbei, sah Licht und zwei Personen auf der Terrasse sitzen. Sie schienen angeregt zu reden, allerdings konnte man auf der Straße nicht verstehen, worüber. Die Frau war Maren Bender, der Mann Oliver. Corinna habe ihren Augen nicht getraut und deshalb lange und genau hingeschaut. Ja, dort saß wirklich Oliver Bender. Er trug eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. Er bewegte sich wie Oliver und seine Stimme klang wie Olivers Stimme – auch wenn das gar nicht sein konnte.

Noch Stunden später war Corinna die Szene auf der Terrasse der Nachbarn nicht aus dem Kopf gegangen. Am Montagmorgen hatte sie ihren Nachbarn Gerald beim Bäcker getroffen. Sie waren vor dem kleinen Dorfladen ins Gespräch gekommen. Da hatte Gerald erzählt, dass auch er Oliver gesehen und erkannt habe. Sie hatten gemeinsam nach Erklärungen gesucht. Gerald kannte Oliver Bender besser und wusste deshalb, dass der keinen Zwillingsbruder hatte, nur eine bereits verstorbene Schwester. Es musste also ein Doppelgänger gewesen sein.

Beide haben sie dann andere Nachbarn gefragt. Die jedoch lachten, machten ihre Witze und hatten ganz und gar nichts Auffälliges bemerkt. Sie alle waren auf Benders Beerdigung gewesen und sich deshalb absolut sicher, das dieser mausetot in der Erde lag.

Am Mittwoch hatte Corinna dann Gerald angerufen und ihn über das informiert, was sie beim Bäcker zufällig aufgeschnappt hatte. Es hat dort geheißen, das Grab sei am Abend zuvor von der Polizei untersucht worden. Es sei geöffnet und wieder verschlossen worden. Angeblich sei Oliver Bender nicht mehr da. Dies allerdings seien Gerüchte. Niemand habe wirklich etwas gesehen.

»Gerald hat dann sofort bei der Polizei angerufen,« erzählte Corinna weiter. »Er hat sich als Zeuge angeboten und den Beamten gesagt, dass er den angeblich Toten quicklebendig gesehen hat. Auch meinen Namen hat er als weitere Zeugin genannt. Die Beamten haben ihn nur ausgelacht.«

»Und da haben Sie beschlossen, zur Presse zu gehen.«

»Stimmt. Vielleicht finden ja Sie die Wahrheit heraus.«

»Ich werde es versuchen.«

Die sympathische Frau geleitet mich hinaus. Der Miniwachhund knurrt zwar noch, hat sich jedoch mit dem Besucher abgefunden. Die Kinder sind nicht mehr zu hören, dafür umso klarer Stimmen aus dem Fernseher. Ich muss an meine Neffen denken. Es hört sich an wie PawPatrol.

*

Bis zur Kirche sind es vom Neubaugebiet nur einige hundert Meter. Ich beschließe, meinen Golf stehenzulassen und zu Fuß zu gehen. Wieder hole ich meine Canon EOS aus dem Rucksack und fotografiere Benders Haus und die Straße. Zwar habe ich keinen redaktionellen Auftrag, aber man weiß ja nie ...

Himmelstal ist wirklich ein schönes Dorf. Ich schaue mir die Fachwerkhäuser, die rund um die Kirche stehen, etwas näher an. Hinter der Kirche lädt ein beschauliches Altenheim zu einem ruhigen Lebensabend ein. Davor steht eine mächtige, uralte Eiche. Alte und hohe Eichen gibt es hier ohnehin viele, einen solch dicken und knorrigen Baum wie diesen jedoch, findet man selten.

Vermutlich hat jedes Dorf auch seinen Schandfleck. Hier ist es eine wohl schon vor Jahren abgebrannte Scheune. Die verkohlten Balken ragen noch gen Himmel. Das Gebäude wartet auf endgültigen Abriss.

Gegenüber der Kirche an der Hauptstraße liegt das Tagungshaus, von dem mehrfach die Rede war. Auch dazu habe ich heute früh im Internet recherchiert. Das Fachwerkhaus war früher einmal die Dorfschule. Ein christlicher Verein hat sie nach Schließung Ende der Siebziger Jahre übernommen und nutzt es jetzt als Gästehaus. Vor allem Konfirmandengruppen, aber auch Erwachsene führen hier ihre Seminare durch. Dafür hat der Verein zwei weitere moderne Häuser gebaut. Eines davon ist dem Osterfest, also der Auferstehung Jesu gewidmet. Schon wieder Auferstehung!

Das Pfarrhaus liegt der Kirche schräg gegenüber, etwas abseits der Straße. Hätte ich das verblasste Schild an der Eingangspforte nicht gesehen, wäre ich vorbeigegangen. Der Garten ist verwildert. Das alte Fachwerkhaus wirkt verlassen. Bereits während ich klingle, sehe ich, dass niemand öffnen wird.

Hier wohnt niemand. Die Fenster sind ohne Gardinen, die Räume dahinter kahl und leer.

Dabei hatte der Nachbar doch gesagt, dass der Pastor mit der Polizei bei Frau Bender war. Und die alte Dame am Friedhof hatte gemeint, dass der Pastor auch bei der Öffnung des Grabes anwesend war. Wo also finde ich den Kirchenmann, wenn nicht im Pfarrhaus?

Die Ecke vor der alten Eingangstür ist als Terrasse gestaltet. Alles wirkt wildromantisch: Rosen umranken ein großes Fenster. Die zum Teil verblühten roten und weißen Blätter wehen über die Waschbetonplatten einer Sitzecke. Einige Sonnenblumen strecken ihre gelben Blüten leuchtend gelb dem Himmel entgegen. An einer verwitterten Pergola rankt Efeu.

Gleich an der Terrasse fällt mir eine Tür in der Holzwand auf. Dort drüben muss das Tagungshaus sein. Ich kann es ja einmal dort versuchen. Mit einiger Mühe öffne ich die Holztür in der Pergola.

Vor mir liegt ein Lagerfeuerplatz mit verkohlten Holzresten darin. Rechts neben einer größeren Gartenhütte steht ein Anhänger mit sechs grünen Kanus. Der Rasenplatz vor mir macht einen erbärmlichen Eindruck. Hier wird Volleyball gespielt und es ist sehr trocken. Von grünem Rasen kann also nicht die Rede sein. Vorne erhebt sich das Hauptgebäude.

Vom Eingang aus kommt mir ein junger Mann entgegen. Fragend schaut er mich an. Ich bitte ihn, mir zu sagen, wo man den Pastor erreichen kann.

»Oh, weiß ich auch nicht.« Der etwa achtzehn Jahre alte Junge hebt bedauernd die Schultern. »Ich bin gerade hier angekommen. Ich beginne mit meinem FSJ, müssen Sie wissen. Aber ich frage drinnen mal nach, dort sind noch einige von der alten HG.«

Er geht auf die Treppe zu. Ich folge ihm. An einem Pfosten, fast verdeckt von Weinranken, ist ein kleines Schild unter der Hausnummer angebracht. »Hier war Luther« heißt es da. Erst beim zweiten Hingucken sehe ich darunter in kleinen Buchstaben »nie«. Humor haben sie hier jedenfalls.

Zwei junge Frauen wirtschaften in einer großen Küche, ausgestattet mit professionellem Equipment aus Edelstahl. Eine der Frauen begrüßt mich. »Hallo, ich bin Bianca und gehöre zur Hausgemeinde.«

Aha, das meinte der ahnungslose junge Mann also mit »HG«, Hausgemeinde. Bianca macht einen selbstbewussten Eindruck.

»Was kann ich für Sie tun?«

Ich frage auch sie nach dem Pastor.

»Das tut mir leid. Zurzeit haben wir hier keinen Pastor. Die Stelle ist vakant. Der Pastor der Gemeinde ist gleichzeitig auch Leiter hier im Tagungshaus und einer der Begleiter von uns als Hausgemeinde. Aber wie gesagt, im Moment ist die Stelle nicht besetzt.«

»Ich habe gehört, ein Pastor hat letzte Woche jemanden beerdigt.«

Bianca schmunzelt. »Sie meinen Oliver Bender? Ach deshalb sind Sie hier? Auch wir haben von den Gerüchten gehört. Angeblich haben sie sein Grab nochmals geöffnet.«

»Und? Was halten Sie davon?«

Bianca lacht. »Da gehen unsere Meinungen auseinander. Wir haben gestern darüber diskutiert. Eigentlich meinen alle, es müsse eine natürliche Erklärung geben, vielleicht einen Doppelgänger oder so was. Oder er war scheintot und hat sich selbst aus seinem Sarg befreien können.«

»Also glaubt ihr nicht an eine Auferstehung?«

»Klar glauben wir daran, jedenfalls die meisten von uns. Aber doch nicht sofort nach der Beerdigung!«

Wieder lacht sie und steckt die anderen beiden neben sich mit an. »Und was die Beerdigung angeht. Die hat Pastor Klaus Kerber gemacht. Klaus ist hier Vertreter, solange die Stelle noch nicht wieder besetzt ist.«

Auf meine Bitte hin gibt sie mir die Telefonnummer des Pastors. Erstaunt sehe ich, dass es eine Nummer aus der Kreisstadt ist. Ich bedanke und verabschiede mich. Eine etwas seltsame Gemeinschaft ist das hier. Lauter junge Leute, die den Laden schmeißen. Die Stimmung scheint gut zu sein. Ich erinnere mich, schon von dieser Einrichtung gehört zu haben, irgendwie im Zusammenhang mit einem großen Jugendcamp zu Pfingsten. Aber ich war da nie mit Berichten involviert. Ich muss meine Kollegen mal fragen.

Jetzt jedoch fällt mir nichts weiter ein. Ich gehe zu meinem Golf, der noch vor Corinnas Haus steht. In der Hoffnung, dass der Carport nun belegt ist, fahre ich noch einmal am Haus der Benders vorbei. Fehlanzeige. Alles sieht weiterhin verlassen aus. Also fahre ich zurück in die Kreisstadt.

*

Am Nachmittag recherchiere ich noch ein bisschen mehr zum Tagungshaus und der christlichen Gemeinschaft dort. Sie haben eine eigene Homepage. Man kann dort sein Freiwilliges Soziales Jahr machen und in Gemeinschaft mit acht weiteren jungen Leuten leben und arbeiten. Sie machen morgens und abends eine Andacht in der Kirche. Ganz schön fromm, denke ich. Dabei wirkten sie ganz normal. Ich muss grinsen. Wieder dieses »normal«, diesmal von mir. Vermutlich erscheint einem alles, was fremd und ungewohnt ist, erst einmal »unnormal«. Bei der Begegnung damit ändert sich das dann – jedenfalls meistens.

Ich rufe Pastor Klaus Kerber an. Sein Anrufbeantworter bittet um eine Nachricht. Vielleicht bereitet er seine Predigt vor. Es ist ja schließlich Samstag. Ob er morgen irgendwo einen Gottesdienst macht? Vielleicht sogar in Himmelstal? Dann könnte ich hinfahren und ihn möglicherweise auch antreffen.

Ich schaue in den Gottesdienstplan unserer Zeitung. Tatsächlich, morgen um zehn Uhr gibt es in Himmelstal einen Gottesdienst mit Pastor Kerber. Na, wunderbar!

Inzwischen habe ich großen Hunger. Am frühen Abend gönne ich mir ein »Madras-Chicken« beim Inder. Hier esse ich sehr gerne, trotz der recht hohen Preise. Als ich am Appalam knabbere, das sie zum Reisgericht serviert haben, fällt mir ein, dass Oliver Bender oft in Indien war. Ob er auch jetzt als möglicherweise Wieder-Belebter oder gar Auferstandener noch scharf isst? Ob er überhaupt noch essen muss? Ich bestelle mir ein großes Alsterwasser. Wenn man es mit angeblich lebendigen Toten zu tun hat, kriegt man seltsame Gedanken und vor allem Durst.

Die Auferstehung des Oliver Bender

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