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ZWEI

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«HIER KAPPE.»

«Hermann Kappe! Ich dachte, man habe Sie längst in Pension geschickt.»

«Nein, ich bin Otto Kappe, sein Neffe.»

Anrufe wie diesen gab es noch immer, obwohl Hermann Kappe schon vor acht Jahren pensioniert worden war, und Otto Kappe hatte sie langsam satt. Bei aller Wertschätzung für seinen Onkel – dass der im Nachhinein zu einem zweiten Ernst Gennat hochstilisiert wurde, ging ihm gewaltig gegen den Strich. Nun lasst mal bitte die Kirche im Dorf!

Manche hielten ihn auch für Hermann Kappes Sohn. So entspann sich kürzlich folgender Dialog: «Ah, der Hartmut Kappe!»–«Nein, Otto Kappe, sein Cousin.»–«Ich dachte schon, Sie sind auch aus der DDR getürmt.»–«Nein, der Hartmut ist weiterhin bei der Kripo Ost.»

Nicht genug damit, dass er andauernd gegen den Schatten seines Onkels ankämpfen musste, sie hatten ihm auch noch den Enkel des ebenso legendären Gustav Galgenberg als Assistenten zugeordnet, Hans-Gert Galgenberg. Da kam er gerade zur Tür herein, so stattlich von Gestalt, dass er im American Football eine Chance gehabt hätte, wenn es den Amerikanern denn gelungen wäre, diese Sportart in West-Berlin zu etablieren. Gegen den Fußball hatte jedoch keine andere Ballsportart eine Chance, selbst im amerikanischen Sektor nicht. Freilich war West-Berlin nicht gerade mit Spitzenvereinen gesegnet. Als Charlottenburger schwärmte Otto Kappe für Tennis Borussia, während es Galgenberg eher mit Tasmania 1900 hielt. Die Meisterschaft in der eingemauerten Frontstadt wurde in einer Liga aus zehn Vereinen ermittelt, die in drei Runden jeweils neun Spiele austrugen. Die Vereine waren Tasmania 1900, Hertha BSC, Tennis Borussia, der Spandauer SV, der BSV 92, Südring, Hertha Zehlendorf, Wacker 04, Viktoria 89 und Union 06. Galgenberg konnte die Namen der wichtigsten Tas-Spieler im Schlaf aufsagen: Posinski im Tor, in der Verteidigung Bäsler und Talaszus, die Läufer Becker und Peschke, im Sturm Neumann, Engler, Rosenfeldt und Fiebach. Otto Kappe kannte nur die herausragenden Spieler von Tennis Borussia und Hertha BSC: bei den «Charlottenburger Veilchen» Hans Eder und Wolfgang Seeger und bei den Blau-Weißen vom Gesundbrunnen, der «Plumpe», Hans-Günter Schimöller und Helmut Faeder. Im Augenblick lief alles auf einen Zweikampf zwischen Hertha und Tas hinaus.

Die nächste Viertelstunde verbrachten beide damit, in unterschiedlichen Teilen ihrer Berliner Morgenpost zu blättern. Otto Kappe stand der CDU nahe, und so kam für ihn der sozialdemokratische Telegraf, den sein Onkel früher so geliebt hatte, nicht in Frage.

Viel Weltbewegendes gab es nicht zu lesen. Im Gaswerk Mariendorf hatte es einen Feueralarm gegeben. Ein sogenannter Ausgleichstank war in Brand geraten, das Feuer konnte aber bald wieder gelöscht werden, obwohl sich die Feuerwehrleute wie auf einem Pulverfass gefühlt hatten.

Etwas anderes interessierte Otto Kappe mehr, und laut las er vor: «Die Polizei warnt alle Berliner Leute vor einem Trickbetrüger. Der gibt sich als Nachbar aus und borgt sich Geld.»

«Berliner Leute», wiederholte Galgenberg. «Was ist denn das für ’n Deutsch! Bin ich also kein Mensch, bin ich ein Leut?»

«Im Jiddischen sind’s die Leit, also …»

«Hier», rief Galgenberg, «das ist doch was für uns! Machtkämpfe der Mafia forderten 200 Todesopfer. Italien sagt diesen Verbrechern den Kampf an. Also auf nach Italien, mithelfen!»

«Nicht nötig, wir haben doch schon die Baumafia bei uns – und die wird bald so richtig loslegen.» Otto Kappe war schon an einem anderen Artikel hängengeblieben. «Mit Schierling vergiftet.»

«Klar, der Sokrates.»

«Nein, ein achtjähriger Junge aus Altglienicke.»

Das war tragisch, und sie schwiegen eine Weile.

Auf der Seite dreizehn wurde über die große Politik berichtet. Der Aufmacher galt der Verhaftung des ehemaligen Vizepräsidenten Jugoslawiens. Milovan Djilas: Ich mußte die Wahrheit sagen. Grund waren die Veröffentlichung seines Buches Gespräche mit Stalin und seine Enthüllungen im Zusammenhang mit dem Albanien-Problem. Daneben zeigte ein Foto, wie die persische Kaiserin Farah und Jackie Kennedy vom New Yorker Flughafen zum Weißen Haus fuhren. Wichtiger fand Otto Kappe einen kleinen Artikel links unten mit der Überschrift Stikker: Keine Lösung für Berlin in Sicht. Dirk Stikker war der Nato-Generalsekretär.

«Na endlich!», rief Galgenberg. «Erste deutsche Rakete 1965 – Im Juni 1965 wird die erste deutsche Raumforschungsrakete auf einem australischen Versuchsplatz abgeliefert. Das teilte gestern Bundesatomminister Balke in Bad Godesberg mit.»

«Da haben sie sicherlich eine alte V2 gefunden», murmelte Otto Kappe.

«Bundestag billigt Rekordhaushalt!», tönte Hans-Gert Galgenberg weiter. «Parteien: Ausgabenflut muss eingedämmt werden. 53,4 Milliarden D-Mark!»

Otto Kappe kommentierte das mit einer Überschrift aus der Lebensmittelreklame: «Mit dem Pfennig rechnen! Bei Bolle kostet die Tafel Schweizer Schokolade nur eine Mark und Marzipan-Eier pro 200 Gramm 95 Pfennige. Ja, es ostert sehr.»

Was gab es sonst noch Neues? Vier Männer hatten in Schöneberg ein Auto gestohlen und waren nach einer wilden Verfolgungsjagd, an der sich mehrere West-Berliner Funkwagen beteiligt hatten, am Kontrollpunkt Heerstraße gegen einen Schlagbaum geprallt. Ein sowjetischer Hubschrauberpilot hatte die Orientierung verloren und war im westlichen Staaken gelandet. Und genau vor der Gedächtniskirche hatte ein Pony, das vor einen Lumpenwagen gespannt war, ein gesundes Fohlen zur Welt gebracht. Bis zur Fußballweltmeisterschaft in Chile waren es noch 47 Tage, und die deutsche Mannschaft hatte in einem Vorbereitungsspiel Uruguay mit 3 : 0 geschlagen. Das Wetter: sonnig, plus sechzehn Grad. Der Fernsehabend versprach einigen Spaß, denn es gab Die Familie Hesselbach.

Das Telefon riss sie ins Berufsleben zurück. Otto Kappe nahm regelrecht Haltung an, denn es war ihr Vorgesetzter.

«Kappe, in Hermsdorf draußen, in der Fellbacher Straße, der früheren Kaiserstraße, gleich am Bahnhof, ist auf einen Mann geschossen worden. Der Kollege Mannhardt sollte das übernehmen, aber der ist krank geworden, nun machen Sie und der Galgenberg das mal!»

«Selbstverständlich.»

Otto Kappe besorgte sich das vorliegende Material, dann machten sie sich in seinem VW Käfer auf den Weg. Bald kamen sie auf die Entlastungsstraße, die man in West-Berlin mit einer Länge von 1,2 Kilometern in nur 44 Tagen angelegt hatte, da man nach dem Mauerbau ja nicht mehr durch Ost-Berlin fahren konnte. Der Bezirk Mitte, der zum sowjetischen Sektor gehörte, ragte wie ein Keil weit nach West-Berlin hinein und zwang einen zu erheblichen Umwegen, wollte man zum Beispiel von Neukölln nach Tegel.

Obwohl die Notwendigkeit der Entlastungsstraße unumstritten war, meckerten viele West-Berliner, so auch Galgenberg. «Ich kann mich immer noch nicht damit abfinden, dass diese blöde Straße unseren schönen Tiergarten in zwei Teile zerschneidet!»

«Beschwer dich bei Walter Ulbricht!», erwiderte Otto Kappe und fügte mit der Fistelstimme des Sachsen hinzu: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.»

Sie kamen in den Wedding und damit vom britischen in den französischen Sektor. Es ging die ewig lange Müllerstraße hinunter. Endlich hatten sie den Kurt-Schumacher-Platz erreicht. Nun waren die Scharnweber- und die Seidelstraße zu bewältigen.

«Wer war Scharnweber?», fragte Otto Kappe, der manchmal etwas von einem Oberlehrer an sich hatte.

Galgenberg lachte auf. «Keine Ahnung. Und dass ich das nicht weiß, hat mich auch nie sonderlich gestört.»

Otto Kappe ließ sich nicht beirren. «Scharnweber war Jurist und Geheimer Regierungsrat, der sich insbesondere für den Straßenbau im Niederbarnim eingesetzt hat.»

«Ich hätte eher gedacht, dass der den Knast hier in Tegel gebaut hat», sagte Galgenberg, als der rote Backsteinkomplex des Strafgefängnisses links vor ihnen auftauchte.

Otto Kappe lachte. «Nee, das war der nicht. Außerdem sind wir hier schon auf der Seidelstraße. Ich weiß nur, dass der Hauptmann von Köpenick und Carl von Ossietzky hier einmal eingesessen haben.»

«Und wie vielen Mördern und Totschlägern haben die Kappes, also du und dein Onkel, schon einen Aufenthalt in Tegel verschafft?»

«Keine Ahnung. Aber ein paar Dutzend waren es allemal.»

Bald erreichten sie das Dominikus-Krankenhaus, wo sie sich zu Hans-Peter Habedank durchfragten, zu dem Mann, auf den in der Fellbacher Straße geschossen worden war. Eine Kugel war in dessen rechtem Oberschenkel stecken geblieben, eine andere hatte seine Brust auf Höhe des Herzens gestreift.

«Ich hätte auch tot sein können», stellte Habedank fest.

Galgenberg lachte. «Genügend Trefferfläche haben Sie dem Täter ja geboten.»

Das bezog sich darauf, dass Habedank ein kugelrundes Männchen war, Lehrer für Chemie und Physik an einem Tegeler Gymnasium.

«Ihr Beruf legt folgende Arbeitshypothese nahe», begann Otto Kappe das Gespräch in einer betont gehobenen Ausdrucksweise. «Haben Sie vielleicht einmal einen Ihrer Schüler mit einer Fünf bedacht, der sich dadurch ungerecht behandelt fühlte?»

«Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach», bekannte Habedank. «Aber mir ist niemand eingefallen.»

«Haben Sie vielleicht irgendwelche Neider?», wollte Galgenberg wissen.

Der Oberstudienrat überlegte nicht lange. «Nun, wenn ich jemanden beim Schach besiege, wird er nicht gleich auf mich schießen.»

Nach zehn Minuten hatte Otto Kappe eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, weiterhin mit der Stange im Nebel zu stochern. Immer mehr ging er davon aus, dass es sich hier um keinen gezielten Anschlag handelte, sondern Habedank das zufällige Opfer eines Geisteskranken geworden war. Von denen gab es schließlich etliche. Damit war das Programm der nächsten Stunden umrissen.

«Wir werden uns in der Fellbacher Straße einmal umhören, ob ein Verdächtiger beobachtet worden ist, und dann bei allen psychiatrischen Kliniken anrufen.»

Hermann Kappe verfluchte Gottes Schöpfung. Was blieb ihm mit seinen 74 Jahren noch anderes, als auf die nächste Krankheit, das Altersheim und den Tod zu warten? Noch immer kam er mit dem Ruhestand überhaupt nicht klar. Und seine Frau nicht mit ihm.

«Leg dir doch endlich ein Hobby zu, das deine Zeit ausfüllt!», mahnte sie ihn immer wieder.

«Was denn? Mein einziges Hobby war die Verbrecherjagd!» Jetzt konnte er nur noch die Mehlmotten in der Küche jagen.

Klara hatte eine Reihe von Vorschlägen. «Tu das, was andere Männer nach der Pensionierung auch tun! Die sammeln Briefmarken oder basteln den ganzen Tag an ihrer Modellbahn herum und freuen sich darüber, dass ihre Züge immer im Kreis fahren.»

«Soll ich also auch einen fahren lassen?»

«Wehe! Du weißt, wie geruchsempfindlich ich bin.»

«Eben.»

«Oder sieh zu, dass wir irgendwo in einer Kleingartenkolonie ein Stück Land pachten – dann kannst du den ganzen Tag Rasen mähen und Hecken beschneiden.»

«Ja, wie hat Gustav Galgenberg immer gesagt? Wer Gott vertraut und Bretter klaut, der hat ’ne schöne Laube.» Der alte Weggenosse fehlte ihm mächtig. «Nun ist er leider schon eine Weile tot.»

«So hat er wenigstens den Mauerbau nicht miterleben müssen», sagte Klara.

Hermann Kappe wandte sich wieder der Zeitung zu, die er jeden Morgen zu lesen pflegte. Auf der Seite sechzehn erfreute ihn eine junge Dame im Turnanzug. Turne dich schlank mit Debbie Drake. Das erinnerte ihn an John Drake. Geheimauftrag für John Drake hieß die TV-Serie, die er gerne sah. So wie Patrick McGoohan, der Held der Serie, hätte er früher auch gern einmal ausgesehen. Fast eine ganze Seite hatten sie dem Eislaufen gewidmet. Sonja Henies Triumph in Hollywood lautete die Überschrift. Er blätterte weiter, denn er hatte die Norwegerin nie gemocht, auch wenn sie dreimal bei den Olympischen Winterspielen eine Goldmedaille gewonnen hatte.

«Was gibt’s denn Neues?», wollte Klara wissen.

«Jetzt nach Spanien – Ferien an der Costa Brava

«Das sollten wir auch mal machen.»

«Mir wäre Wendisch Rietz lieber», brummte Hermann Kappe. «Hier, das wäre doch was für uns: Privatzimmer melden! – Der diesjährige Osterverkehr dürfte alle Rekorde schlagen. Um für den Fall der Fälle eine Reserve zu haben, wendet sich das Verkehrsamt an die Berliner: Melden Sie bitte geeignete Ein- und Zweibettzimmer! Wir können doch die Kammer ausräumen, ein Bett reinstellen und uns ein paar Pfennige dazuverdienen. Vielleicht kommen interessante Leute.»

«Ja, vielleicht Debbie Drake persönlich. Nur über meine Leiche!»

«Warum nicht, ich habe schon lange keine mehr gesehen.»

«Hör auf!» Sie warf eine zusammengeknüllte Serviette nach ihm.

«Oh», rief Hermann Kappe, «das wird Otto weniger freuen: Selbstmordversuch in der Zelle.» Im Polizeigefängnis in der Gothaer Straße hatte sich ein 21-Jähriger, der an einem brutalen Überfall auf eine Tabakwarenhändlerin beteiligt gewesen war, das Leben nehmen wollen. Mit einer Scherbe hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten.

«Gibt’s nicht auch was Erfreuliches?», fragte Klara.

«Sicher: Adenauer wieder in Cadenabbia.» Noch immer war der Mann Bundeskanzler. «Drei Raubüberfälle in Schöneberg. Na, das ist ja auch nicht sonderlich erfreulich.»

«Was gibt’s denn abends im Fernsehen?»

«Im ersten Programm Wallenstein mit Wilhelm Borchert in der Titelrolle.»

«Und im zweiten Programm?»

«Um Viertel nach acht Panorama

«O Gott, da zählen sie auch nur wieder alles auf, was angeblich mies ist bei uns!»

Der Sportteil war auch nicht gerade aufregend. Bei der Deutschland-Rundfahrt war Hennes Junkermann in der Rhön geschlagen worden. Hertha BSC hatte im Qualifikationsspiel nach einem 1 : 1 gegen den 1. FC Kaiserslautern die Intertoto-Runde verpasst, weil das Los für die Pfälzer entschieden hatte.

Nach dem Frühstück ging Hermann Kappe erst einmal spazieren. Er empfand seine Wohnung zunehmend als Gefängnis. Gott sei Dank war er noch gut zu Fuß. Viele seiner Altersgenossen saßen schon im Rollstuhl oder gingen zumindest am Stock. Seine Route war immer dieselbe. Ein paar hundert Meter ging er, nachdem er aus dem Haus getreten war, die Wartburgstraße entlang, dann bog er ab in die Berchtesgadener Straße. Schon allein der Straßenname löste angenehme Gedanken in ihm aus: an den Watzmann, den Königssee. Klara liebte das Meer, er die Berge. Den nächsten Urlaub wollten sie in Berchtesgaden verbringen.

Er kam auf die Grunewaldstraße und ging Richtung Bayerischer Platz. Ein ziemlich leerer Zug der Linie 3 ratterte an ihm vorbei. Die Straßenbahn wollten sie in West-Berlin völlig abschaffen, um eine autogerechte Stadt zu schaffen. Je näher er dem Bayerischen Platz kam, an desto mehr frei geräumten Trümmergrundstücken ging er vorbei. Zwischendurch erblickte er auch einige kastenförmige Neubauten. «Berlin baut auf!», so hatte es gleich nach dem Krieg geheißen. Am Bayerischen Platz standen die prunkvollen alten Mietshäuser nur noch auf der westlichen Seite. Gott, musste das vor dem Krieg hier schön ausgesehen haben! Er stieg zur U-Bahn hinunter. Nicht um zum Innsbrucker Platz zu fahren, sondern nur, um die herrliche Architektur zu genießen. 1910 war der Bahnhof eröffnet worden. In diesem Jahr war er aus Wendisch Rietz nach Berlin gekommen. Er konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Damals war Schöneberg noch eine selbstständige Gemeinde gewesen, viel wohlhabender als Berlin. Ein halbes Jahrhundert war das nun schon her. Unfassbar!

Er stieg wieder ans Tageslicht hinauf und lief nun die Innsbrucker Straße Richtung Süden entlang, immer auf dem Rücken der U-Bahn sozusagen. Er hatte noch die Fotos im Gedächtnis, auf denen die Tunneldecke von Bomben weggesprengt worden war und es deshalb so aussah, als würden die gelben Züge in einer Rinne fahren. Er kreuzte erst die heimatliche Wartburg-, dann die Badensche Straße, wo er einen Doppeldeckerbus vorüberlassen musste. Es war der 4er zum Brixplatz im noblen Westend. Vor ihm erstreckte sich nun in einer alten eiszeitlichen Rinne der Wilmersdorfer Volkspark. Die U-Bahn wurde auf einer Art Brücke über diese Mulde hinweggeführt, und unter dieser Brücke lag der U-Bahnhof Rathaus Schöneberg, der bis 1951 den Namen Stadtpark getragen hatte. Hermann Kappe spazierte jetzt auf breiten Parkwegen. Obwohl ihm das als hochgradig albern erschien, hielt er ständig nach einer Leiche im Gebüsch Ausschau. Die Kommentare in den Zeitungen wären großartig gewesen: Seine Spürnase ließ ihn auch viele Jahre nach der Pensionierung nicht im Stich.

Er überquerte die ehemalige Kaiserallee, nun in Bundesallee umbenannt. Die kannte er schon aus Kästners Emil und die Detektive. Vielleicht war es Kästner gewesen, der in ihm früh den Wunsch geweckt hatte, einmal zur Kripo zu gehen. Am Fußballplatz, kurz vor der Blissestraße, machte er halt, um den Spielern des 1. FC Wilmersdorf einen Augenblick lang zuzusehen. Dabei versuchte er sich daran zu erinnern, ob er in seiner Zeit bei Viktoria 89 einmal hier gespielt hatte, vor dem Ersten Weltkrieg noch oder während des Kriegs. Es fiel ihm nicht mehr ein. Jedes Spiel dauerte neunzig Minuten, dann wurde abgepfiffen. Betrachtete er sein Leben, dann war jetzt vielleicht schon die 86. Minute angebrochen, aber niemand kannte ja Tag noch Stunde.

Er schlenderte jetzt auf der südlichen Seite des Parks entlang und kam an der Kufsteiner Straße dicht am RIAS vorbei, einer der heiligen Kühe der West-Berliner. Seine Sendungen waren ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens geworden, ob es nun montags die Schlager der Woche waren oder die legendäre Krimireihe Es geschah in Berlin von Werner Brink. Es war ein Ritual, jeden Sonntag um Viertel vor elf Friedrich Luft mit seiner Stimme der Kritik und anschließend das Geläut der Freiheitsglocke zu hören. Aber auch andere Sendungen bestimmten den Alltag, so Berlin spricht zur Zone, Damals war’s, Geschichten aus dem alten Berlin, Die Rückblende, Kutte kennt sich aus, Onkel Tobias, Wer fragt, gewinnt mit Hans Rosenthal, Wo uns der Schuh drückt mit dem jeweiligen Regierenden Bürgermeister und natürlich Die Insulaner. Deren Lieder hatte er ständig im Ohr. Edith Schollwer sang das Insulanerlied. Er kannte sie alle: Günter Neumann schrieb die Texte, Bruno Fritz war der Herr Kummer, Joe Furtner der Professor Quatschnie, Walter Gross der Jenosse Funzionär, Tatjana Sais und Agnes Windeck gaben die Klatschdamen vom Kurfürstendamm.

Hermann Kappe schlenderte weiter und kam zum Vorplatz des Rathauses Schöneberg, des Sitzes des West-Berliner Parlaments und des Regierenden Bürgermeisters. Willy Brandt war das jetzt seit 1957 – ein Glücksfall für West-Berlin. Auf dem Posten hatten sie ja anfangs den charismatischen Ernst Reuter gehabt («Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!»), dann aber mit Walther Schreiber eine ziemliche Null. Otto Suhr, der ihm nachgefolgt war, hatte auch keine Bäume ausgerissen. Beim Blick zum Rathausturm hinauf hörte Hermann Kappe ganz automatisch die Freiheitsglocke läuten und die sonore, gottähnliche Stimme im RIAS: Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde des einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden.

Mit diesen hehren Worten im Kopf kehrte Hermann Kappe über die Martin-Luther-Straße nach Hause zurück. An die fünf Kilometer mochten es gewesen sein, die er zurückgelegt hatte. Er sank erst einmal aufs Sofa und schlief kurz danach ein.

Zum Kaffee kam Otto mit Gertrud vorbei. Hermann Kappe konnte ein Gefühl des Neids nicht ganz unterdrücken. Der Neffe war gerade einmal 51 Jahre alt, stand noch voll im Saft und hatte jede Menge interessanter Fälle zu bearbeiten.

«Was liegt denn gerade an bei euch?», lautete dann auch die erste Frage, kaum dass der Neffe Platz genommen hatte.

Otto Kappe hätte lieber über Fußball oder die Familie geredet. «Nicht viel. Nur die Schüsse auf diesen Studienrat oben in Hermsdorf, Hans-Peter Habedank. Bislang haben wir keine Spur.»

Wie gerne hätte Hermann Kappe jetzt gehört, dass man ohne ihn hilflos sei, doch Otto ließ nichts dergleichen verlauten.

Auch Hertha Börnicke, Hermanns Cousine, kam zum Kaffee. Sie hatte Multiple Sklerose und ging am Stock. Schließlich erschien noch Peter, Otto und Gertrud Kappes einziger Sohn. Er studierte jetzt an der FU Psychologie.

«Seelenklempner will er also werden», hatte Hermann Kappe gebrummt, als Otto ihm davon erzählte. «Na, soll er … Dann kann er sich wenigstens selber therapieren.»

«Wenn das in Deutschland so weitergeht, müssen wir alle in die Therapie», hatte sein Neffe dagegengehalten. «Erster Weltkrieg, NS-Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Spaltung Deutschlands, Berlin-Blockade und jetzt der Mauerbau – da müssen wir ja alle ’ne Macke kriegen!»

Dann beredeten sie Familiäres. Was Hermann Kappes Bruder Albert in Wendisch Rietz und sein ältester Sohn Hartmut in Ost-Berlin wohl machten? Sie zu besuchen war ja ein Ding der Unmöglichkeit.

«Im Osten nichts Neues.» Hertha Börnicke, die früher beim RIAS gewesen war und aus der Zone berichtet hatte, wusste noch immer bestens Bescheid über das, was in der DDR so geschah. «In Ost-Berlin soll es eine Ruhrepidemie gegeben haben, und die Nationale Front hat ein ‹Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschland und ihrer Veränderungen› gegründet.»

«Das haut ja den stärksten Eskimo vom Schlitten!», rief Otto Kappe. «Mehr ist da nicht los?»

«Da musst du schon Hartmut fragen. Was bei der Kripo so an großen Fällen anliegt, muss der ja am besten wissen.»

«Nie was vom Kontaktverbot gehört?»

«Doch. Das ist ja der Witz daran.»

Auf dieses Stichwort hin erzählten sie sich nun die gängigen DDR-Witze.

Hertha Börnicke machte den Beginn. «‹Du, Schatz, ich lese hier gerade: Die DDR gehört zu den zehn führenden Industrienationen der Welt. Ich glaube, das schreibe ich mal unserem Onkel Herbert in Düsseldorf.› – ‹Klar, mach das … Dann kannst du ihn auch gleich bitten, zu Ostern ein paar Rollen Klopapier mitzuschicken.›»

Hermann Kappe war der Nächste. «Ein treues SED-Parteimitglied kehrt von einer Dienstreise aus der Bundesrepublik zurück. Sein Vorsitzender fragt ihn: ‹Na Genosse, haben Sie den faulenden und sterbenden Kapitalismus gesehen?› – ‹Ja.› – ‹Und was halten Sie davon?› – Die Antwort kommt mit verklärtem Gesichtsausdruck: ‹Es ist ein sehr schöner Tod …›»

Auch Otto Kappe wollte sich nicht lumpen lassen. «Ein DDR-Bürger geht spät in der Nacht durch Ost-Berlin und ruft lauthals immer wieder: ‹Scheißstaat, Scheißregierung!› Sofort taucht ein Stasi-Offizier auf und verhaftet ihn. Der Verhaftete verteidigt sich: ‹Ich habe ja gar nicht gesagt, welchen Scheißstaat und welche Scheißregierung ich meine.› Der Stasi-Offizier denkt kurz nach und lässt den Mann wieder laufen. Der verschwindet, wird aber zwei Minuten später von dem Stasi-Offizier wieder eingeholt und erneut verhaftet. Darauf der Mann: ‹Warum denn das?› Entgegnet der Stasi-Mensch: ‹Es gibt ja nur einen Scheißstaat und eine Scheißregierung.›»

Peter Kappe wollte sich nicht an der Diskriminierung der DDR und ihrer Bürger beteiligen, hatte aber bei Freud etwas über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten gelesen. «Freud spricht von der Euphorie des spontanen Lachens und erkennt darin einen Widerschein unseres vergangenen Kinderglücks, denn der Witz erlaubt es uns, uns für Augenblicke vom Verdrängungsdruck der Kultur zu befreien.»

Alle nickten schwer beeindruckt von seinen frischerworbenen Erkenntnissen.

«Wer liegt auf dem Friedhof neben Freud?», fragte Hermann Kappe seinen gebildeten Großneffen.

«Keine Ahnung.»

«Na, Leid. Denn Freud und Leid liegen doch dicht beieinander.»

Klara fiel kein DDR-Witz ein, worauf Hertha Börnicke alles glasklar analysierte. «Der eingemauerte West-Berliner gewinnt seine Identität und seinen Überlebenswillen nicht zuletzt dadurch, dass er über alles, was in der Ostzone passiert, spöttisch herzieht.»

Otto Kappe klatschte ihr Beifall. «Mensch, Hertha, was wären wir ohne dich!»

Hermann Kappe setzte noch einen drauf. «Lieber Hertha Börnicke als Hertha BSC.» Den Verein sah er schon absteigen, wenn es diesen Sommer mit der Bundesliga losging. «Ich hätte lieber Tasmania 1900 in der Bundesliga gesehen.»

«Deine Tasmanen spielen ja nächste Woche gegen den 1. FC Nürnberg in der Vorrunde um die Deutsche Meisterschaft», sagte Klara. Karl-Heinz, ihr jüngerer Sohn, wolle auch hingehen.

Karl-Heinz Kappe, nun auch schon 35 Jahre alt, war ein windiger Bursche geblieben, obwohl er es bei der SBN, der Südost Bau Neukölln, bis zum Prokuristen gebracht hatte. Dass er es mit den Gesetzen mitunter nicht ganz so genau nahm, hatte ihn in seiner Branche schnell aufsteigen lassen.

Heute nun, am Ostersonnabend, ließ er Arbeit Arbeit sein und fuhr mit seinen Freunden Manne und Rudi in der überfüllten U-Bahn ins Olympiastadion raus, um das Spiel von Tasmania 1900 gegen den 1. FC Nürnberg mitzuerleben. Die Karten hatte ihnen sein Chef spendiert. Rudolf Orkusch selbst war in sein Ferienhaus nach Vietze im Wendland gefahren. Solch ein Haus auf dem Land wurde bei den Neureichen in West-Berlin langsam Mode.

Aufgrund der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft in Chile wurde die Vorrunde nur in vereinfachter Form ausgetragen. Jede Mannschaft hatte ein Heimspiel, ein Auswärtsspiel und ein drittes Spiel an einem neutralen Ort.

«Nürnberch, det is schon wat», stellte Manne fest.

«Ja, aba nur, weil die den Morlock ham. Wenn de den kaltstellst, haste schon jewonn’n.»

«Der Strehl is aba ooch nich schlecht.»

Karl-Heinz Kappe gefiel es am besten, dass die Nürnberger einen Verteidiger mit Namen Derbfuß hatten. Viel Spaß aber hatten sie als Berliner nicht, denn Tasmania 1900 sollte am Ende mit 1 : 2 verlieren. Auf dem Nachhauseweg stieß Karl-Heinz Kappe auf dem Olympischen Platz mit einem Mann zusammen, den er dort nicht vermutet hätte: dem Bausenator Arnulf Klaffenbach.

«Sie hier?», staunte er.

«Ich bin nur hier, um die Bausubstanz des Olympiastadions zu kontrollieren.»

Karl-Heinz Kappe fand Klaffenbach einen komischen Vogel. Er wusste so einiges über ihn. Klaffenbach war geborener Berliner und 47 Jahre alt. Der Vater Arthur Klaffenbach war Philosophieprofessor, die Mutter Isolde Oberstudienrätin für Deutsch und Latein. Nach dem Abitur hatte der Sohn Kunstgeschichte und Architektur studiert. Verheiratet war er auch, Hannelore hieß die Glückliche mit Vornamen, drei Kinder hatten sie: Bernhard, geboren 1944, Beate, Jahrgang 1946, und Friedhelm, der 1950 das Licht der Welt erblickt hatte. Arnulf Klaffenbach war hochgewachsen und sehr sensibel, spielte Cello und schrieb Gedichte. Eines davon hatte sogar im Berliner Tagesspiegel gestanden, Karl-Heinz Kappe hatte es ausgeschnitten.

Heutungen

Morgen ist Heute

Gestern ist Heute

Es gibt kein Morgen mehr

Es gibt kein Gestern mehr

Darum lebe Du

Heute heute heute

und

Häute Dich

Warum interessierte Karl-Heinz Kappe das alles? Er ging davon aus, dass alle Menschen käuflich waren, und wenn er jemanden kaufen wollte, dann war es immer gut, alles über ihn zu wissen.

Rund vierzehn Tage später sah er Arnulf Klaffenbach wieder. Das war am 4. Mai 1962, als sich ganz West-Berlin auf dem Falkenhagener Feld zur Grundsteinlegung traf. Das Falkenhagener Feld, das westlich der Spandauer Altstadt gelegen war, wurde noch für die innerstädtische Landwirtschaft genutzt und war außerdem reich mit Schrebergärten und den dazugehörigen Lauben bestückt. Hier sollte nun aufgrund der Wohnungsnot in West-Berlin links und rechts der Falkenseer Chaussee eine der drei geplanten Großsiedlungen entstehen. Man hatte sogar vor, sie mit einer U-Bahn-Linie an die Innenstadt anzubinden. Das betonte Klaffenbach jedenfalls in seiner Rede.

Karl-Heinz Kappe war aber nicht in den äußersten Zipfel Spandaus gekommen, um den Senator zu hören, sondern um mit Baustadtrat Ralf-Werner Wolla zu reden. Die SBN brauchte dringend ein paar neue Aufträge.

«Ihr Haus in Hermsdorf, Herr Wolla, könnte durchaus einen preiswerten Anbau vertragen …»

Wer gut schmiert, der gut fährt. Karl-Heinz Kappe wusste, wie die Welt funktionierte.

Berliner Filz

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