Читать книгу Berliner Filz - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8

DREI

Оглавление

DIE FREIE UNIVERSITÄT BERLIN war die Antwort des Westens auf die Übernahme der alten Berliner Universität Unter den Linden durch die Kommunisten Anfang 1948. Der Lehrbetrieb wurde am 15. November 1948 in Gebäuden der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Dahlem aufgenommen. Im Umkreis des Hauptgebäudes der FU, des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie, mietete man nun für die einzelnen Institute etliche Villen an. Zudem wurden die Mensa, verschiedene Fakultätsgebäude und der Henry-Ford-Bau mit dem Audimax und der Bibliothek neu errichtet.

Auf einer der Bänke zwischen der Juristischen Fakultät in der Van’t-Hoff-Straße und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Garystraße hatten zwei Studenten des dritten Semesters in der Maiensonne Platz genommen: Rainer Arys und Wilhelm Pandelwitz. Sie hatten schon im Buddelkasten miteinander gespielt, da ihre Elternhäuser am Hermsdorfer Klosterheider Weg aneinandergrenzten. Beide waren süchtig nach Karl May und hatten sich ewige Blutsbrüderschaft geschworen. Außenstehende hielten sie für homosexuell, aber das waren sie nicht, sie hatten lediglich Angst, sich in ein und dieselbe Frau zu verlieben.

Vom Körperbau und ihren Interessen her unterschieden sie sich gehörig. Rainer Arys war der untersetzte, muskulöse Typ, lief die hundert Meter beim SC Tegeler Forst in 11,3 Sekunden, während man Willy Pandelwitz, der die klassische Musik mehr liebte als den Sport, in früheren Zeiten wohl gemäß der Kretschmer’schen Typologie als Leptosomen bezeichnet hätte.

Selbstverständlich hatten sie in der Schule von der ersten Klasse bis zum Abitur im März 1961 an der Hermsdorfer Georg-Herwegh-Schule immer nebeneinandergesessen. Jetzt studierten sie beide an der Fakultät der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der FU, Rainer Arys hatte als Hauptfach Soziologie, Willy Pandelwitz Politologie. Allzu viele Lehrveranstaltungen jedoch besuchten sie nicht, denn zum einen war es vom hohen Norden, sprich Hermsdorf, bis in den tiefen Süden zur FU fast schon eine Weltreise, und zum anderen ließ ihnen ihr Engagement in einer ganz bestimmten studentischen Organisation nicht viel Zeit. Es handelte sich um die Gruppe Koch, die sich auf Fluchthilfe und Anschläge gegen die Mauer spezialisiert hatte. Politisch standen sie, zum Leidwesen ihrer Eltern, der Brandt’schen SPD nahe und waren auch Mitglieder des Sozialdemokratischen Hochschulbundes, des SHB, der sich im heftigen ideologischen Konflikt mit dem SDS befand, dem Sozialistischen Hochschulbund, dessen zunehmend gesellschaftskritisch-antikapitalistische Haltung sie ablehnten.

Heute aber sollte erst einmal studiert werden. Zuerst ging es zur Vorlesung Einführung in die Organisationssoziologie von Renate Mayntz in den mittelgroßen Hörsaal 104. Sie erwarteten eine ergraute akademische Oberrätin um die sechzig und waren in höchstem Maße erstaunt, als eine mehr als ansehnliche junge Frau, die vielleicht gerade die dreißig überschritten hatte, ans Katheder trat. Sie hatte einige Jahre an der Columbia University verbracht und referierte nun ausführlich über die recent trends ihrer Wissenschaft. Das war nicht uninteressant, dennoch folgten Pandelwitz und Arys der Vorlesung nicht sonderlich aufmerksam, denn alles war in einem rororo-Bändchen der Mayntz nachzulesen.

Danach begannen des Tages Mühen erst so richtig, denn sie hatten im Proseminar von Prof. Otto Stammer ein Referat über Frühe Anarchisten in Berlin zu halten. Statt fand alles in einem der kleineren Hörsäle der WiSo-Fakultät, deren breite Fenster auf die kaum befahrene Garystraße hinausgingen. Bei etwa zwanzig Teilnehmern herrschte hier eine geradezu intime und gemütliche Atmosphäre, von der unaufhaltsam heraufziehenden Massenuniversität war noch nicht viel zu bemerken.

Otto Stammer, der 1900 in Leipzig das Licht der Welt erblickt hatte, war ein höchst interessanter Mann. Er war seit 1959 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und galt als einer der führenden Vertreter der Politischen Soziologie. Früh war er in die SPD eingetreten und hätte es bis in den Reichstag gebracht, wenn nicht 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hätten. So war ihm nur das Abtauchen geblieben. Dennoch war er als «Politischer» verhaftet worden. Nach seiner Entlassung hatte er sich erst als Arbeitsloser durchgeschlagen und war dann in verschiedenen Positionen in der pharmazeutischen Industrie tätig gewesen. Nach dem Krieg hatte er als Redakteur und Dozent in Leipzig gearbeitet und war schließlich in den Westen gegangen, um sich an der FU zu habilitieren und mitzuhelfen, das Institut für Soziologie zu gründen. 1951 war er Außerordentlicher und 1954 Ordentlicher Professor für Soziologie und Politische Wissenschaft geworden.

Nicht minder sympathisch waren seine beiden Assistenten, die doctores Günter Hartfiel und Jürgen Fijalkowski. Hartfiel war es auch, der nach ein paar einleitenden Worten Arys und Pandelwitz nach vorn rief und sie bat, die Anwesenden mit ihrem Referat intellektuell zu erfreuen.

Arys begann mit der These, dass der Begriff Anarchismus im Allgemeinen sehr negativ besetzt sei, und belegte dies mit einem Zitat von Paul Elzacher aus dem Jahre 1912. Demnach setzen sich die Anhänger des Anarchismus das Ziel, durch schwere und sinnlose Verbrechen unsere friedliche Gesellschaft zu vernichten und an ihre Stelle das Chaos zu setzen. Pandelwitz führte den Gedanken fort, indem er einige Zeilen aus einem Gedicht des Berliner Schriftstellers schottischer Herkunft John Henry Mackay vortrug: «Anarchie / ​immer geschmäht, verflucht, verstanden nie / ​bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden / ​Auflösung aller Ordnung, rufen sie / ​seist du und nimmerendend Morden.»

Nachdem Stammer und seine beiden Assistenten beifällig genickt hatten, kamen Arys und Pandelwitz auf die beiden größten Anarchisten Berlins zu sprechen, auf Gustav Landauer und Erich Mühsam. Arys nahm sich Landauer vor. Der hatte bei ihnen in Hermsdorf in der Schloßstraße 17 gewohnt, und Arys’ Vater, der Werksleiter bei Siemens war, hatte keine Gelegenheit ausgelassen, über ihn herzuziehen. Rainer Arys konnte sich an seinem sehr autoritären Vater rächen, indem er Landauers Schriften zu Hause las und offen herumliegen ließ.

«Gustav Landauer ist am 7. April 1870 in Karlsruhe geboren worden und am 2. Mai 1919 in München gestorben. Studiert hat er Germanistik und Philosophie. Stark beeinflusst haben ihn dabei die anarchistischen Theorien von Bakunin und Kropotkin. Im Oktober 1889 finden wir ihn zum ersten Mal in Berlin, noch als Studenten. Später, um 1901, wohnt er in Friedrichshagen, wo er Kontakte zum dortigen Dichterkreis unterhält, und anschließend lebt er in Hermsdorf. Im Oktober 1893 wird er erstmals verhaftet und wegen der ‹Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt› zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Ende des Ersten Weltkriegs ist er an vorderster Stelle dabei, als in München die Räterepublik errichtet wird. Nach deren Niederschlagung wird er verhaftet und von Freikorps-Soldaten ermordet.» Damit ließ es Arys an Biografischem genug sein und kam zu den Thesen Landauers. «Nun zu dem, was er Ethischen Anarchismus nennt, und zu seiner Geld- und Wirtschaftsphilosophie … Ziel war für ihn immer die Emanzipation von staatlicher, kirchlicher oder sonstiger gesellschaftlicher Bevormundung und die Suche nach einer Möglichkeit zur Entfaltung des Einzelnen in dem seiner Meinung nach allein sinngebenden Zusammenhang der Gemeinschaft. Die Individuen sollen sich auf freiwilliger Basis in kleinen sozialistischen Gemeinden zusammenschließen, die sich dann frei assoziierend zusammenfügen. Das Privateigentum an Boden solle aufgehoben werden, es solle eine gerechte Tauschwirtschaft geben, in der alle Übel des Geldes und des Zinses aufgehoben seien.»

Nachdem Arys geschlossen hatte, referierte Pandelwitz über Erich Mühsam. «Mühsam ist am 6. April 1878 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren und in Lübeck aufgewachsen. 1896 musste er wegen ‹sozialdemokratischer Umtriebe› nach Parchim gehen, um dort die Mittlere Reife abzulegen. Anschließend absolvierte er eine Apothekerlehre in Lübeck, und 1902 wurde er in Berlin Redakteur bei der anarchistischen Zeitschrift Der arme Teufel. Doch bei uns hielt es ihn nicht lange, er wanderte durch halb Europa und ließ sich 1909 in München nieder, wo er alsbald zum Mittelpunkt der Schwabinger Boheme werden sollte. Um das Proletariat, also die von der Gesellschaft Geächteten wie Landstreicher, Bettler, Huren und Verbrecher, für seine Ideologie zu gewinnen, gründete er die Gruppen ‹Tat› und ‹Anarchist› – und wurde prompt wegen ‹Geheimbündelei› angeklagt, später aber freigesprochen. Sein Geld verdiente sich Erich Mühsam als Mitarbeiter eines Münchner Kabaretts und verschiedener satirischer Zeitschriften wie des Simplicissimus und der Jugend. Von 1911 bis 1919 gab er die Zeitschrift für Menschlichkeit heraus, Kain betitelt. 1918 gehörte er zu den Anführern der Münchener Räterepublik und wurde nach deren Niederschlagung zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er fünf absitzen musste. Nach seiner Entlassung zog er 1924 wieder nach Berlin, wo er sich in der KPD-nahen Roten Hilfe engagierte, einer Gefangenenhilfsorganisation. 1932 verfasste er seine programmatische Schrift Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. 1933 wurde er von der SA verhaftet und von SS-Männern ermordet. Er schreibt: Im Staat erkenne ich früh das Instrument zur Konservierung all der Kräfte, aus denen die Unbilligkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen erwachsen ist. Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen – Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt – war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens.»

Stammer und seine Assistenten lobten Pandelwitz’ und Arys’ Ausführungen, und es konnte nun diskutiert werden. Das war die Chance derjenigen Studenten, die der Devise «Ich rede, also bin ich» anhingen.

Einer warf Arys und Pandelwitz vor, sie hätten den anarchistischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter Raphael Friedberg vergessen, den Verfechter des Generalstreiks, aber auch den Anarchisten Augustin Souchy aus Berlin-Wilmersdorf, der die Bilanz seines Lebens mit den Worten Viel erstrebt, wenig erreicht zusammengefasst hatte.

«Na, Gott sei Dank!», riefen mehrere Kommilitonen, die der Meinung waren, ohne einen starken Staat ging es nicht, was wiederum die auf den Plan rief, die der FDP nahestanden und so wenig Staat wie möglich wollten.

Die Diskussion wurde abschließend als fruchtbar bezeichnet, und man war allseits zufrieden. Nach Ende der Lehrveranstaltung eilten sie alle zur feierlichen Einweihung des neuen Gebäudes für das Otto-Suhr-Institut in der Ihnestraße 21. Dabei fiel Arys und Pandelwitz ein Kommilitone auf, der dem RCDS, dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten, angehörte und gern Vorsitzender des Allgemeinen Studenten-Ausschusses geworden wäre, aber als Mitglied der schlagenden Burschenschaft Saravia viele Gegner und Feinde hatte: Eberhard Diepgen. Dass der einmal Regierender Bürgermeister werden würde, ahnte noch niemand.

Für Arys und Pandelwitz wurde es schließlich Zeit, sich auf den Weg zu machen, wollten sie rechtzeitig bei Heinrich Koch in der Mommsenstraße sein. Mit der U-Bahn ging es zum Fehrbelliner Platz. Von dort aus fuhren sie mit dem 1er Bus Richtung Moabit bis zur Mommsenstraße. Dort, unweit der Leibnizstraße, hatte Heinrich Koch im Vorderhaus, vierte Etage, eine geräumige Wohnung gemietet. Im sogenannten Berliner Zimmer hatte sich die Mehrzahl seiner Leute schon versammelt.

Koch war eine imposante Persönlichkeit. Eine bestimmte Wirkung erzielte er schon durch seine Größe von nahezu zwei Metern und seinen massigen Körper, der weit über zwei Zentner wog. Dazu kam, dass sein linkes Bein amputiert worden war und ihn seine Prothese eindrucksvoll humpeln ließ. Dies war nicht etwa Folge einer Kriegsverletzung, sondern seiner Zuckerkrankheit. Mit sonorer Stimme begrüßte er alle und kam gleich zum Tagesordnungspunkt Nummer eins.

«Fluchttunnel Wollankstraße. Es war zwar keiner von uns direkt daran beteiligt, aber wir können von dem, was da geschehen ist, auf alle Fälle einiges lernen. Kelly, du weißt am besten Bescheid.»

Kelly war eine Studentin aus Columbus, Ohio, und Arys wie Pandelwitz wären nur allzu gern mit ihr ins Bett gegangen, zögerten aber mit ihren Annäherungsversuchen, um ihre Männerfreundschaft nicht zu belasten. Jeder von ihnen beließ es deshalb bei heimlichen erotischen Fantasien.

Kelly sprach perfekt Deutsch, allerdings mit einem putzigen Akzent. «Ich schildere euch erst einmal die Örtlichkeit. Also, der S-Bahnhof Wollankstraße sitzt auf Gewölbebögen. Er liegt auf Ost-Berliner Gebiet, kann aber nur von West-Berlinern benutzt werden. Vieles ist eben absurd heutzutage. Nun sind unsere Kommilitonen auf die Idee gekommen, in die ungenutzten Gewölbe einzudringen und von dort aus einen Tunnel nach Ost-Berlin zu graben, zu einem Keller in der Schulzestraße. Schön und gut, drei Wochen lang haben sie im Januar gegraben – und aus der Traum! Warum? Weil der Tunnel unter dem Bahnsteig eingebrochen ist. Auf dem Bahnsteig war ein Krater entstanden, Sand ist nachgerutscht.»

«Weil sie die Vibrationen nicht einkalkuliert hatten, die durch die fahrenden Züge entstehen», fügte Koch hinzu. «Das hätte nicht passieren dürfen. Reichsbahner haben alles entdeckt, dann hat die Transportpolizei die Ermittlungen übernommen, und die Presse in der Zone konnte wieder einmal behaupten, der Westen habe versucht, Agenten einzuschleusen. Es gab eine große Pressekonferenz des Ministers für Verkehrswesen.»

In der folgenden Stunde ging es darum, die Aufgaben für die nächsten Wochen zu verteilen.

«Wer sorgt für gute Doppelgänger?», fragte Koch. Sie hatten vor, in West-Berlin Menschen zu finden, die DDR-Bürgern, die in den Westen wollten, ähnlich sahen, und sie um ihre Pässe zu bitten.

Das war nichts für Arys und Pandelwitz. Auch wollten sie nicht mit Bundespässen nach Ost-Berlin gehen, um dort «Deckelmänner» anzuwerben. Das waren Männer, die, nachdem jemand durch die Kanalisation geflüchtet war, die schweren Gullideckel wieder einsetzen sollten, um die Fluchtwege zu kaschieren.

Auch jemanden, der bereit war, gefälschte Pässe nach Leipzig zu bringen, suchte Koch noch, ebenso Leute für die sogenannten Skandinavien-Touren, mit denen man Menschen, die aus der DDR rauswollten, mit gefälschten Pässen die Flucht nach Dänemark ermöglichte.

Arys und Pandelwitz meldeten sich erst, als es darum ging, Löcher in die Mauer zu sprengen. Das versprach, ein echtes Abenteuer zu werden.

«Gut. Sucht euch einen Ort, wo ihr niemanden auf unserer Seite gefährdet. Wenn ihr eine geeignete Stelle gefunden habt, bekommt ihr den Sprengstoff und könnt loslegen.»

So machten sie sich in den folgenden Tagen auf und suchten nach einer geeigneten Stelle. Dabei erlebten sie so einiges. Sie befanden sich an der Bernauer Straße, als ihr Erkundungsspaziergang an der Mauer entlang eine dramatische Wendung zu nehmen schien.

«Du, Rainer, guck mal! Die beiden Grenzsoldaten da, die wollen fliehen!»

Richtig, gerade warfen zwei Grenzer ihre Maschinenpistolen weg und winkten in den Westen hinüber. Feuerwehrleute und Polizisten rannten zur Mauer, um ihnen herüberzuhelfen, bevor ihre Kameraden auf sie schießen würden. Da erscholl höhnisches Gelächter von drüben. Man hatte die West-Berliner zum Narren gehalten.

An der Ecke Ruppiner/​Bernauer Straße gab es dann einen weiteren denkwürdigen Zwischenfall. Eine Besuchergruppe, die sich eindeutig auf West-Berliner Gebiet befand, hatte östliche Grenzsoldaten mit ihren spöttischen Bemerkungen offenbar so gereizt, dass diese zwei Tränengaskörper über die Mauer warfen. Einen davon schleuderte ein West-Berliner Polizist zurück, worauf einer der Grenzer aus seiner MP2 gezielte Feuerstöße auf den Beamten abgab. In wilder Panik flohen die Besucher ins westliche Hinterland, mit ihnen auch Arys und Pandelwitz.

«Deutsche, schießt nicht auf Deutsche!», schrie jemand, «Ihr Schweine, ihr!» ein anderer. Tote gab es zum Glück keine.

Immer wieder gab es Versuche von DDR-Bürgern, die Mauer mit schwerbeladenen Lastkraftwagen zu durchbrechen. Beispielsweise am 9. April an der Boyenstraße zwischen den Bezirken Wedding und Mitte, als ein mit Zement beladener Lkw in der Mauer stecken blieb. Die beiden männlichen Insassen konnten nach West-Berlin entkommen, obwohl die Grenzpolizei noch auf sie schoss.

Am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße erlebten Arys und Pandelwitz aus der Nähe, wie ein mit Kies beladener Lkw die Schlagbäume durchbrach. Man schoss auf die Fliehenden. Der Fahrer wurde tödlich getroffen, und das Fahrzeug krachte auf West-Berliner Gebiet gegen eine Hauswand. Die beiden anderen Insassen überlebten mit leichten Verletzungen.

Zwischen ihren Erkundungstouren hatten Arys und Pandelwitz noch Zeit, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund gelegentliche Besuche abzustatten. Der SHB war vor zwei Jahren als Konkurrenz zum Sozialistischen Hochschulbund, dem SDS, gegründet worden, der sich immer stärker marxistischen Positionen angenähert hatte und der DDR eine nicht unerhebliche Sympathie entgegenbrachte. Schon deshalb tendierten die beiden Studenten zum SHB. Die Mitgliedschaft bei ihm versprach aber auch gewisse Karrierechancen – in West-Berlin begann sich immer stärker ein Netzwerk herauszubilden, das später unter dem Begriff «Berliner Filz» bundesweit bekannt werden sollte. Der SHB hatte sein Domizil in der Sven-Hedin-Straße, ein paar Hundert Meter vom U-Bahnhof Krumme Lanke entfernt. Das war zwar von Hermsdorf aus eine weite Fahrt, aber sie hofften beide, ihre sporadischen Besuche würden sich irgendwann auszahlen.

An diesem Abend hatte sich zu einem Referat mit anschließender Diskussion ein Mann angesagt, der als Hoffnungsträger der Sozialdemokraten gehandelt wurde, der Baustadtrat Ralf-Werner Wolla. Der Kommilitone, der ihn eingeladen hatte, stellte ihn vor.

«Unser Genosse Ra We Wo ist 41 Jahre alt und geborener Neuköllner, einer vom Hinterhof in der Fuldastraße, der in der Rütlistraße zur Schule gegangen ist. Machen wir es kurz: Schulabschluss 1930, Maurerlehre, Soldat, französische Kriegsgefangenschaft, Heimkehr 1947, Eintritt in unsere Partei. Angefangen hat er als Kassierer, dann spezialisierte er sich darauf, älteren Jubilaren den obligatorischen Blumenstrauß vorbeizubringen und an Beerdigungen teilzunehmen.»

Wolla lachte dröhnend. «Der berühmte Kranzabwurf – ja Mensch, Kinder, ihr solltet eure Parteikarriere auch als ‹Leichenbeisitzer› im Abteilungsvorstand beginnen, das lohnt sich wirklich!»

«So bringt ihr es vielleicht auch zu einer Villa in Hermsdorf!», rief einer, der Wolla nicht leiden konnte.

«Zu einem Einfamilienhaus im nicht gerade feudalen Hermsdorf, das ich auch noch eigenhändig mit hochgemauert habe! Das ist weniger ein Palast denn eine Hütte.»

«Wie auch immer, der Genosse Wolla wird uns heute etwas zu den anstehenden Großbauprojekten in Berlin erzählen.»

«Für 1962 sind drei Großbauvorhaben geplant», begann Wolla seinen Vortrag. «Erstens das Falkenhagener Feld, Grundsteinlegung am 4. Mai. Zweitens die Gropiusstadt, Grundsteinlegung am 7. November. Und drittens die Paul-Hertz-Siedlung in Charlottenburg-Nord, Richtfest am 29. November.»

Je länger er redete, desto mehr fühlten sich Arys und Pandelwitz an die ironische Steigerung «Feind, Todfeind, Parteifreund» erinnert. Wolla wirkte wie ein eitler Pfau. Hinzu kam, dass Arys und Pandelwitz in Hermsdorf aufgewachsen waren und der gehobenen Mittelschicht angehörten. Der Vater von Arys war Werksleiter bei Siemens und die Mutter Grundschullehrerin. Pandelwitz’ Eltern waren Chefarzt und Übersetzerin. Wolla dagegen kam vom Neuköllner Hinterhof, gehörte also zu den Schmuddelkindern, mit denen man nicht spielte. So sozialistisch sich Arys und Pandelwitz auch gaben, diese Vorurteile hatten sie übernommen. Dazu kam das anarchistische Element: Sie hassten jede Art von Herrschaft. Wer sich als Anführer gerierte wie Wolla, war ihnen sogleich suspekt. Wolla geriet also sofort auf ihre Abschussliste. Für den Augenblick hieß das nicht viel, es sollte aber im Laufe des Jahres noch bedeutsam werden.

Am 21. Mai, einem Montag, war es dann so weit: Arys und Pandelwitz liehen sich in Hermsdorf von einem Freund einen Wagen aus und fuhren kurz vor Mitternacht nach Neukölln, um an der Ecke Heidelberger/​Treptower Straße ihren Sprengkörper abzulegen, die Lunte zu zünden und dann das Weite zu suchen.

Am 26. Mai sprach der Regierende Bürgermeister Willy Brandt in der SFB-Reihe Wo uns der Schuh drückt über das Thema Anschläge auf die Mauer und sagte unter anderem:

Meine Hörerinnen und Hörer, es hat einige Sprengstoffanschläge gegen dieses Schandmal in unserer Stadt gegeben, ich weiß nicht, wer die Urheber waren, und ich kann nur wiederholen, dass wir gegen Gewalt sind. Die Löcher, die wir uns in der Mauer wünschen, sind von anderer Art. Sprengstoff ist kein gutes Argument. Aber ich möchte doch wiederholen, was aus anderem Anlass im vorigen Jahr gesagt werden musste. Deutsche Polizei ist nicht dazu da, die Schandmauer zu schützen.

Berliner Filz

Подняться наверх