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KAPITEL ZWEI

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Auch wenn ich mit Tim nicht mehr über Monstärker sprach und meinen Eltern sowieso nichts davon erzählt hatte, musste ich dauernd an die Welt des Dinge-Erfindens denken. Mit meinen Eltern konnte ich über solche Sachen überhaupt nicht reden. Sie würden mich wie ein Kleinkind behandeln und idiotische Vorschläge machen wie: „Mach doch dein Schlaflicht von früher an, wenn es dir nachts zu dunkel ist.“

Nur für mich alleine versuchte ich immer wieder, den lila Transportnebel zu rufen. Freiwillig setzte ich mich nachmittags hin und machte stundenlang Matheaufgaben. Ich rechnete mit Stachelbeeren rauf und runter. Es funktionierte nicht. Irgendwann fiel mir ein, dass Monstärker gesagt hatte, jede Idee würde nur ein einziges Mal funktionieren. Also stellte ich mir zehn Eiskugeln vor und ein Eisbär wollte fünf davon fressen. Doch die letzte Kugel fuhr lange Stacheln aus und griff den Eisbären an. 10 - 5 = 6 schrieb ich hin. Der Transportnebel kam nicht.

Meine Eltern begannen sich ernsthaft Sorgen um mich zu machen.

„Loona, du lernst zu viel. Du musst mehr Pausen machen und dann konzentriert arbeiten“, sagte Mama, und Papa schlug sogar vor, dass ich Nachhilfe nehmen sollte. Meine Eltern hatten überhaupt nichts verstanden. Ich verrechnete mich doch absichtlich, um endlich wieder nach Makah-Uhbien zu reisen!

Nach ein paar Tagen verbot mir Mama sogar, so viel Rechnen zu üben und schickte mich zu Tim. Ich sollte mit ihm spielen, mich ein wenig ablenken. Dazu hatte ich keine Lust, aber mit meinen Rechnungen kam ich auch nicht weiter.

Tim wollte Monopoly spielen. Ich hasste Monopoly. Da verlor ich immer. Aber heute ließ ich es über mich ergehen und tat Tim den Gefallen. Wie immer nach ein paar Runden hatte Tim alle guten Straßen gekauft und begann, seine bescheuerten Häuser und Hotels zu bauen. Parkstraße und Schlossallee, alles pflasterte er zu. Irgendwann stand ich zehn Felder vor der Schlossallee. Tim war unglaublich stolz auf sein neues Hotel. Er nannte es Schlosshotel.

„Du bist dran, Loona“, drängte Tim und mampfte ein Stück Schokolade nach dem anderen. Tim war wirklich in Ordnung, aber wenn es um Schokolade oder Monopoly ging, hatte er einen Knall. Er konnte nicht genug bekommen. Wegen seiner Liebe zur Schokolade hatte ihn unser Hockeytrainer schon mehrfach ermahnt. Tim sollte ein paar Kilo abnehmen. Er war einfach zu langsam, selbst als Torwart kam es beim Hockey auf Geschwindigkeit an.

„Du musst würfeln.“

Ich schüttelte die beiden Würfel in meiner Faust. Dann ließ ich sie über das Spielfeld kullern. Der erste Würfel blieb liegen. Eine Vier. Der zweite rollte immer weiter, hatte längst das Spielfeld auf der anderen Seite verlassen. Schließlich wurde er langsamer. Jede Umdrehung schien mehr Kraft zu kosten als die vorangegangene. Klack, da blieb der Würfel liegen und sechs goldene Punkte blitzten mir entgegen. Nein, das durfte nicht wahr sein. Ich hasste Monopoly, aber noch mehr hasste ich, zu verlieren. Keine Ahnung woher der Würfel die Kraft noch nahm. Jedenfalls kippte er noch einmal weiter und sieben Punkte strahlten mir entgegen.

Auf einmal war er da: Der lila Nebel, der nach Vanille und Himbeermarmelade roch. „Siehst du! Es gibt ihn tatsächlich“, wollte ich Tim zurufen. Doch irgendwie hatte mich der zuckerwattezähe Nebel längst eingefangen. Ich steckte mittendrin und sog den wunderbaren Duft auf.

Als sich der Nebel gelichtet hatte, erwartete ich den Moroah-Dschungel um mich herum. Stattdessen stand ich in einer sonderbaren Straße. Sie war kerzengerade und links und rechts in immer gleichen Abständen von grünen Häusern gesäumt, die wie Bauklötze aussahen, gleichmäßig und fensterlos. Ab und zu stand ein größeres, rotes Bauklotzhaus dazwischen.

Nein, ich träumte nicht. Ich stand wirklich in dieser komischen Straße.

„Monstärker“, rief ich zaghaft und ging die Straße hinunter. Fünf grüne Häuser, ein rotes Haus, fünf grüne Häuser, ein rotes Haus. Dort vorne ging jemand. Ich rannte ihm nach. „Halt“, rief ich. Er schien mich nicht zu hören. Ich rannte schneller. Da war wieder dieses Seitenstechen. „Monstärker!“

Endlich hatte ich ihn eingeholt. Von hinten sah ich, dass er seine postgelben Haare gegelt und ordentlich gescheitelt hatte. Obwohl er keine silbernen Flügelturnschuhe trug und auch keine gestreifte Pluderhose anhatte, packte ich ihn an der Schulter und riss ihn unhöflich zu mir herum. „Monstärker“, rief ich und starrte in ein verwundertes Gesicht. Der Typ hatte die gleiche braune Haut und weiße Zähne. Er grinste unsicher, aber nicht unhöflich. „Bitte?“, fragte er.

„Monstärker?“ Ich wusste, es war nicht Monstärker, auch wenn er ihm irgendwie ähnlich sah.

Der Typ verstand nicht, was ich wollte, und wand seine Schulter aus meiner Hand.

„Entschuldigung, ich hab dich verwechselt. Ich dachte, ich bin in Makah-Uhbien.“

Mit einem Handgriff kontrollierte der Typ den Sitz seiner Frisur, dann antwortete er belustigt: „Selbstverständlich bist du in Makah-Uhbien. Das hier ist Goraschan, die Hauptstadt. Warst du noch nie im Stadtteil Monopol?“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Gibt es hier keine erfundenen Dinge? Alles sieht so gleich aus.“

Der Kerl legte seinen Kopf ein wenig schief und lächelte mich mitleidig an: „Ach so, du suchst die alten erfundenen Stadtteile. Die liegen am Ende der Schlossallee, auf der anderen Seite des Stadtplatzes. Aber warum willst du nicht hierbleiben? Monopol ist viel moderner. Das hier ist die Zukunft der Makah-Uhbas. Monopol wurde in einer richtigen Fabrik produziert, wie bei den Menschen.“ Er strahlte mich an.

Als ich nicht reagierte, zeigte er mir die Richtung zu den erfundenen Stadtteilen. „An deiner Stelle würde ich es mir noch einmal überlegen“, sagte er kopfschüttelnd und ging weiter.

„Danke!“ Ich rannte los. Ich musste Monstärker finden.

Am Ende der Schlossallee fand ich den Stadtplatz. Und es war, als würde ich eine andere Welt betreten. Die Häuser sahen verrückt aus. Keines glich dem anderen. Eines war lila- orange gestreift, das nächste mit blauen Vogelfedern verkleidet und das dritte sah aus wie eine riesengroße rosa Waschmaschine. Ein anderes schwebte über dem Boden und war mit armdicken Tauen verankert. Und das übernächste drehte sich fortwährend, wobei Türen und Fenster an den immer gleichen Stellen blieben, als gehörten sie nicht zu dem Haus. Der Platz war voller Makah-Uhbas. Sie hatten knallbunte Haare, manche in Regenbogenfarben, und trugen die abenteuerlichsten Klamotten: Einer hatte eine geblümte Kaffeekanne auf dem Kopf, ein anderer ein T-Shirt aus Karotten und ein kleiner Rothaariger war mit einem halben Dutzend Schwimmreifen bekleidet und hatte Sprungfedern unter seine Schuhe montiert. Ein Stuhl, auf dem ein Stapel selbstumblätternder Bücher lag, eilte über den Platz. Ein kichernder Makah-Uhba trug eine Eismaschine um den Hals und verteilte sternförmiges Glitzereis, das nach Apfelstrudel duftete. Ein roter, ein gelber und ein grüner Papagei saßen in einem Ampelhäuschen und stritten darum, wer leuchten durfte. Ein fettes Sofa rollte auf mich zu und brummte: „Kleine Pause gefällig? Du siehst etwas mitgenommen aus, mein Kind.“

Ich nickte dankbar und ließ mich auf die weichen Polster fallen. Ich versank fast darin und konnte kaum noch auf die Straße sehen. Auf dem Sofa neben mir lag eine Kaugummipackung: Gobos fantastischer Kaugummi. So einen hatte mir Monstärker gegeben. Ich nahm die Packung. Hoffentlich Mangogeschmack. Enttäuscht sah ich, dass die Packung leer war. Wie sollte ich hier jemals Monstärker finden?

„Magst du einen Kaugummi von mir?“

Enzianblaue Augen strahlten mich an. Die Haare des Typen waren genauso blau. Sie waren kurz geschnitten, ordentlich gekämmt und gegelt. Er lächelte fröhlich: „Ich bin Roccho. Du kannst gerne einen von meinen haben – mit Karubi-Geschmack. Die mag ich am liebsten.“

Ich zog einen dunkelroten Kaugummistreifen aus der Verpackung. Unsicher steckte ich ihn in den Mund. Er schmeckte nach Karamell, nein doch eher nach Himbeere mit einem Hauch von Zimt und Maracuja – echt gut.

„Ich bin Loona“, nuschelte ich. „Schreibt man mit zwei O in der Mitte.“

„Hab dich noch nie hier gesehen, Loona.“

„Ich bin zum ersten Mal in Goraschan. Das letzte Mal war ich in diesem Dschungel.“

Roccho legte mir seine Hand auf die Schulter, als wären wir beste Freunde. „Kann es sein, dass du ein Mensch bist?“

Ich fühlte mich ertappt. „Jjja, ich bin mit dem lila Nebel gekommen“, stotterte ich.

Roccho klatschte begeistert in die Hände. „Das ist Wahnsinn, ganz wunderbar. Es war schon immer mein größter Wunsch, einen richtigen Menschen kennenzulernen.“

„Danke, aber dafür kann ich nichts. In meiner Welt gibt es nur Menschen.“

Mir fiel auf, dass die anderen Makah-Uhbas einen großen Bogen um uns machten. Und wer doch näher kam, verbeugte sich vor Roccho.

„Loona, was bin ich nur für ein Glückspilz? Darf ich dich zu einem Eis einladen?“

Ich zögerte. Roccho deutete auf eine Eisdiele gleich nebenan. Stühle aus geflochtenen Plastikstrohhalmen wackelten vor dem Laden hin und her. Über jedem Tisch war ein geringelter Papierschirm aufgespannt.

„Die haben das beste Eis in Goraschan, auch wenn es erfunden ist. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis unsere Fabriken ein besseres Eis herstellen können. Es wird nicht mehr lange dauern.“

Roccho zog mich sanft zur Eisdiele hinüber.

„Ich bin übrigens ein persönlicher Berater von Präsident Göhrkin.“

Als müsste er es mir beweisen, zog Roccho seinen Ausweis aus der Innentasche seines Sakkos. Sichtlich stolz zeigte er ihn mir. „Der ist echt! Ihr Menschen habt doch auch Ausweise.“

Ich nickte.

„Bei uns sind Ausweise ganz neu. Präsident Göhrkin hat sie erst letzten Monat eingeführt.“

Wir setzten uns auf die Strohhalmstühle. Roccho bestellte zwei Überraschungseisbecher. Er räusperte sich ein paar Mal. Es kam mir so vor, als würde er seinen ganzen Mut zusammenkratzen. Schließlich sagte er: „Loona, ich habe eine Bitte an dich.“

Aha, er wollte etwas von mir. Darum war er die ganze Zeit so freundlich, fast schleimig.

„Schieß los. Aber ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann.“

„Doch, du bist ein Mensch. Du kannst mir ganz bestimmt helfen.“ Roccho blinzelte mich an.

Eine Makah-Uhba mit blau-weiß karierten Haaren brachte unsere Eisbecher. Meiner sah wie ein Pokal aus. Rocchos wie eine Waschpulvertrommel.

Ich konnte nicht warten, musste gleich probieren. Das Eis schmeckte köstlich!

„Kannst du mir Rechnen beibringen, Loona?“

Ich verschluckte mich. Ausgerechnet ich sollte Rechennachhilfe geben? Ich war doch nur hier, weil ich mich selbst dauernd verrechnete.

„Bitte“, sagte Roccho. Er sah ernst dabei aus.

„Ich bin nicht besonders gut in Mathe ...“

„Du bist ein Mensch. Wir Makah-Uhbas können Dinge erfinden, aber im Rechnen sind wir totale Flaschen. Ich kann nicht einmal zwei plus Dings rechnen.“

„Wozu braucht ihr Rechnen, wenn ihr Dinge erfinden könnt?“

Roccho stützte sein Kinn auf die Hände: „Genau das ist das Problem. Präsident Göhrkin sorgt sich um unsere Zukunft. Irgendwann werden alle Dinge erfunden sein. Irgendwann wird es keine neuen Ideen mehr geben. Wenn wir uns nicht auf die Zeit nach dem Dinge-Erfinden vorbereiten, werden wir alle verhungern. Wir Makah-Uhbas können nichts anderes als Dinge erfinden. Präsident Göhrkin sagt, wir müssen lernen, wie ihr Menschen zu leben. Ihr könnt rechnen und habt Fabriken, in denen die Dinge hergestellt werden. Das ist auch die Zukunft Goraschans.“ Roccho sah mich ernst an.

Ich war wirklich nicht besonders in Rechnen, aber vielleicht würde es für Roccho reichen. Und dann hatte ich eine hervorragende Idee. „Ich helfe dir beim Rechnen, wenn du mir Dinge-Erfinden beibringst.“

„Du möchtest was?“

„Dinge-Erfinden lernen.“

„Aber das ist doch ganz einfach. Das kann doch jedes Kind.“

Ich grinste zufrieden. „Gut, dann bringst du mir Dinge-Erfinden bei. Abgemacht?“

Ich streckte Roccho meine Hand hin. Er zögerte, doch dann schlug er ein. „Von mir aus, aber wir fangen mit dem Rechnen an.“

Ich nickte. Hauptsache, er würde mir Dinge-Erfinden beibringen.

Roccho zog ein Blatt Papier und einen Stift aus der Tasche. Ich schrieb ihm ein paar Aufgaben hin, ganz einfache. 1 + 2, 2 + 3, 4 + 2, 5 + 1.

Rocchos Stirn glänzte augenblicklich schweißnass. Er begann am Stift zu kauen. „Wie heißt gleich wieder die erste Zahl?“, fragte er unsicher.

„Eins.“

„Oh Mann, das ist zu schwer für mich: Eins und dieses Dingsda. Du musst mit leichteren Aufgaben anfangen, Loona.“

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Mit großem Ernst fragte ich: „Wie viel ist eins plus eins?“

„Ja, mhh, das habe ich schon einmal gehört. Kommt mir bekannt vor.“ Roccho überlegte, strich mit der flachen Hand immer wieder über seinen Kopf. Schließlich gestand er zerknirscht: „Ich habe das Ergebnis vergessen. Können wir nicht mit einer leichteren Aufgabe anfangen?“

Um nicht laut loszulachen, löffelte ich von meinem Eis. Ich steckte einen ganz großen Klumpen in den Mund. Einfacher als 1 + 1? Da fiel mir wirklich nichts ein. Roccho sah verzweifelt aus. „Ich muss Rechnen lernen.“

„Tut ihr euch alle so schwer im Rechnen?“ Das hätte ich besser nicht gefragt.

Roccho brauste auf: „Ich bin einer der besten. Ich habe schon zwei Mal die Rechenmeisterschaft in meiner Altersklasse gewonnen. Aber ich bin ein wenig aus der Übung, ich weiß.“

Ich seufzte. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich ihm Rechnen beibringen könnte. „Ihr braucht Taschenrechner“, schlug ich vor.

„Taschen was?“

„Also, das sind so kleine Kästchen. Für jede Zahl gibt es eine Taste. Und wenn du eine Aufgabe eintippst, spuckt dir der Taschenrechner das richtige Ergebnis aus. Taschenrechner können sogar mit Millionen und Milliarden rechnen und noch viel weiter.“

„Er kennt jedes Ergebnis? Wirklich?“

Ich nickte.

„Das klingt fantastisch.“

Ich wollte Roccho fragen, ob er mir jetzt Dinge-Erfinden beibringen könnte, da sah ich den weißen Nebel direkt neben mir auftauchen. Zuerst ganz zart und dann immer dichter. Wie ein riesiger Wattebausch sah er jetzt aus.

„Dein Transportnebel“, sagte Roccho. „Beeil dich!“

„Du wolltest mir Dinge-Erfinden beibringen.“

„Das nächste Mal, Loona. Versprochen. Der Nebel wartet nicht lange.“

Dann drückte mir Roccho noch stolz seine Visitenkarte in die Hand. „So etwas habt ihr Menschen doch auch?“

Ich hatte natürlich keine, aber Mama und Papa.

„Wenn du das nächste Mal in Goraschan bist, reden wir über Dinge-Erfinden.“

Ich drückte mich aus dem wackelnden Strohhalmstuhl hoch und trat in den Nebel.

„Tschüss, Roccho, bis bald.“

Verträumt murmelte er nur „Taschenrechner“.

Als sich der Nebel wieder lichtete, war ich zu Hause in meinem Zimmer. Keine Ahnung, wie das mit dem Transportnebel funktionierte. Ich ging hinüber zu Tim. Der regte sich furchtbar auf, weil ich beim Monopolyspielen einfach verschwunden war. Und natürlich glaubte er mir die Geschichte mit dem lila Nebel wieder nicht.

Monstärker und der Kristall des Zweifels

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