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Kapitel 2: Dienstag, eine Woche vorher

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Die rechteckige, weiße Fläche der grundierten Leinwand war gar nicht leer – sie stellte nur die Leere dar, die ich jedes Mal empfand, wenn es mir nicht gelang, mit einem Stück Kohle oder gleich mit dem Pinsel die Stille vor dem Bild zu stören. Egal wie oft ich schon solche weißen, leeren, stillen Flächen vor mir gehabt hatte, am Anfang war ich immer schüchtern – bis zum ersten Pinselstrich. Über das, was danach geschah und was die anderen später Gemälde oder Kitsch nennen würden, hatte ich wenig Kontrolle. Am Anfang aber spürte ich das, was vor sich ging, so klar und deutlich, als ob jemand neben mir stünde und laufend kommentierte:

»Schon wieder daneben, das wird ja nichts!«

Oder:

»Ja, oh ja, mach weiter, du bist der Größte!«

Dazwischen lag nichts – es wurde ein Bild oder es wurde ... kein Bild.

An diesem Morgen saß ich auf dem wackeligen Drehhocker, bekleidet mit der alten Bermudahose und meinem zu großen T-Shirt mit der Aufschrift Will Fuck for Beer, die ich beim Urlaubseinkauf für witzig gehalten hatte. Ein Typ in Key West, Florida, hatte es mir angedreht. Er selber hatte ein seidenes Gianni-Versace-Hemd mit passender Hose angehabt. Und vermutlich Victoria’s-Secret-Damenunterwäsche darunter. Sein kleiner Laden war neben einer Kneipe gelegen, auf deren Eingang eine Messingplatte einen berühmten Gast zitierte: »Halte dich fern von diesem Platz. Ernest Hemingway«. Ich hatte den Rat missachtet und einige überteuerte Drinks später war ich bereit gewesen, das ebenso überteuerte T-Shirt zu kaufen. Es hätte auch schlimmer ausgehen können: Auf der anderen Straßenseite war ein Tattoostudio.

Die weiße Leinwand, ein plakatgroßer, bespannter Keilrahmen, lag auf meinem alten Schreibtisch. Ich drehte einen Bleistift zwischen den Fingern, um meine feigen Hände zu beschäftigen. Die Staffelei wartete in der Ecke. Am Anfang der Arbeit bevorzugte ich den Tisch – vielleicht, weil man die Leere einer liegenden Fläche nicht so deutlich wahrnahm. Von Zeit zu Zeit schob ich kleine Papierfetzen von einer Stelle der Leinwand auf eine andere und zeichnete ein paar Linien. Ich wollte den optischen Ausgleich zwischen der Intensität der Farben, der Dichte der Elemente und dem leeren Hintergrund erforschen. Die geometrische Dynamik, die selbstbewusst genug war, um ein Gemälde mit Form und Inhalt gleichzeitig zu versorgen, faszinierte mich schon seit einiger Zeit und das Motiv, an dem ich arbeitete, folgte bereits einem Dutzend anderer Bilder zu diesem Thema. Nur dieses Mal hatte ich den Eindruck, an einer Stelle gelandet zu sein, die keine Fortsetzung erlaubte.

Ich schob die Papierfetzen zur Seite und überlegte, ob ich zu dem Blumentopf greifen sollte, in dem sich zwischen jungen Bambushalmen ein paar trockene Blätter Cannabis versteckt hatten, die eine selbstgedrehte Zigarette in einen kleinen Gute-Laune-Schub verwandeln konnten. Das Sonnenlicht, gefiltert durch das Efeugeflecht vor dem offenen Fenster, tanzte spöttisch auf der Leinwand und ich konnte die gedämpften Schritte der Passanten auf dem Bürgersteig hören, der auf meiner Augenhöhe hinter einer kleinen Mauer lag.

Die Bezeichnung Atelier passte zu dem kleinen Raum im Souterrain, in dem ich wohnte, genauso wenig wie der Begriff Jugendstil zu dem ganzen heruntergekommenen Haus. Es war eins von diesen alten Häusern, in denen früher oder später die Gasleitung im Keller leckte und nachdem alles in die Luft geflogen war, fragte man sich bei der Untersuchungskommission nicht »Wie ist es dazu gekommen?« sondern nur »Warum erst jetzt?!«. Die zwei Begriffe Atelier und Jugendstil hatten aber wirklich in dem Inserat gestanden und mich dazu bewogen, die ehemalige Hausmeisterwohnung zu nehmen. Nicht ohne Bedeutung war wohl auch die niedrige Miete gewesen.

Das andere Fenster blickte in die Dunkelheit. Hinter ihm befand sich die Einfahrt zu einem Hinterhof, die ich als Garage für den dreißig Jahre alten VW-Kübel benutzen durfte. Den Hinterhof gab es nicht mehr – hier war nun das Lager einer Getränkehalle, ein paar leicht überdachte Stahlträger und Wände aus Gasbetonsteinen. Manchmal konnte ich hören, wie dort ein Gabelstapler Europaletten mit Mineralwasserflaschen und Bierkasten verteilte. Dieses Fenster hatte ich in ein schickes Regal umfunktioniert. Auf drei Brettern lagen dort ein paar verstaubte Bücher und ein Stapel alter Schellack-Platten, darüber stand ein in absurden Blumenmustern bemaltes Sparschwein, das seit Monaten an permanenter Unterernährung litt.

Im hinteren Teil des Zimmers standen gerade zwei bunte Karussellpferde, die ich seit einer Woche mühsam renovierte und die ich dem Besitzer und meinem besten Kunden, Holger, in den nächsten Tagen zurückbringen sollte. Meist arbeitete ich nachts an meinen Bildern, während der Tag für Aufgaben wie diese vorgesehen war, die meinen bescheidenen Unterhalt sicherten. Die wahre, kompromisslose Kunst ließ sich eben kaum verkaufen. Doch die vergangene schlaflose Nacht hatte kein Ergebnis gezeitigt und mein Vorrat an Optimismus war erschöpft. Es hatte keinen Zweck, zur Leinwand zurückzukehren, und die Pferde waren noch nicht trocken genug, um an ihnen weiterzuarbeiten.

Meine Stimmung befand sich also nicht ohne Grund auf dem Tiefpunkt. Das Zwitschern der Spatzen im Efeu ging mir auf die Nerven, als ich zwei Schatten, die vor meinem Fenster herumschlichen, bemerkte. Fast gleichzeitig landete ein großer Apfelgriebs in der Schüssel, in der ich die Pinsel abgelegt hatte. Terpentinöl und Farbreste spritzten heraus, bekleckerten das Bild, den Schreibtisch, die Wand, mich und sogar die Pferde – aber am stärksten meine Ehre als Souterrain-Bewohner.

Das Adrenalin brauchte nur wenige Nanosekunden, um die Nächstenliebe aus meinem Herzen zu verjagen, und schon schoss ich auf die Straße mit einem klar strukturierten Programm im Kopf: Locate – Engage – Terminate. Ich war so sauer, dass man in dem Augenblick den Terminator, verglichen mit mir, für einen Zeugen Jehovas gehalten hätte. Der Bürgersteig vor dem Haus war voller Schlaglöcher, die letzten Reparaturen hatte man vermutlich gemacht, als der frisch nominierte Kanzler Bismarck vorbeikommen sollte. Und die Laufstrecke war schon gar nicht geeignet für Flip-Flops. Der erste Punkt meines Programms, Locate, war vergleichsweise leicht zu erfüllen – ich sah zwei Jungs wegrennen, sie verschwanden gerade hinter dem türkischen Obst- und Gemüseladen an der Ecke. Der zweite Punkt, Engage, kam allerdings gar nicht erst zustande und Punkt drei, Terminate, wurde offensichtlich vom System falsch interpretiert. Nach etwa zwanzig Metern Verfolgungsjagd durch die Schlaglöcher musste ich meinen angeschwollenen, wild pochenden großen Zeh massieren, um dann einen strategischen Rückzug vorzunehmen. Einem echten Terminator wäre so etwas natürlich nicht passiert.

Nachdem ich humpelnd den Eingang des Hauses erreicht hatte, ließen die Emotionen nach und auf einmal wusste ich, dass die Partie doch noch nicht vorbei war: Manchmal stand das Tor des Getränkegeschäftes hinter dem Haus offen und dann konnte ich den Weg zur Hauptstraße abkürzen. Schnell öffnete ich den Eingang zum Hinterhof. Der Gabelstapler war direkt an der Wand abgestellt – der Zugang zur Halle stand frei. Das Auge des Terminators leuchtete rot auf.

Ich startete den Parcours-Lauf nicht ganz optimal, mein linker Fuß hatte sich in einer der unverwüstlichen Banderolen, die die eingeschweißten Paletten zusammenhielten, verheddert und beim Sturz hätte ich beinahe einen verheerenden Dominoeffekt ausgelöst, weil die Bierkästen, die mir im Weg standen, übereinandergestapelt waren und leicht aus dem Gleichgewicht gerieten. Ich stand schnell auf und stellte mir grob vor, wie eine optimale und spektakuläre Variante des Laufes aussehen könnte: Ein Vorwärtsdoppelsalto, dann ein seitlicher Sprung an die Wand mit einer halben Schraube – natürlich nur, um in Schwung zu kommen – dann vier nacheinander folgende Handüberschläge, um den Ausgang zu erreichen, und am Ende eine mehrere Meter lange Rutschpartie unter der sich gerade absenkenden Gabel des Staplers. Durch die verdammte Banderole und meine bescheidene körperliche Verfassung musste ich den vereinfachten Ablauf wählen. Ich trottete also humpelnd neben dem Gabelstapler her, grüßte den Lagerarbeiter, der gerade die erste von seinen zahlreichen Zigarettenpausen genoss, und mit einem quergestellten, nur an meinem großen Zeh hängenden linken Flip-Flop gelangte ich endlich zum Ausgang.

Auf dem Bürgersteig vor der Getränkehalle konnte ich direkt zum dritten Punkt des Programms, Terminate, übergehen – die Pisser waren wenige Schritte entfernt und hatten mich noch nicht bemerkt.

Sie waren im gleichen Alter, seit Kurzem erst Teenager. Der eine war größer, auffallend schlank und sah in seiner viel zu großen, schwarzen Lederjacke wie ein Zombie aus. Sein blasses Gesicht, sein schwarzes, langes Haar, seine dunkle Sonnenbrille, seine zu kurze Hose, die weißen Socken und die kleinen Pflasterstreifen an den Fingern ließen keinen Zweifel, dass ihm Michael Jackson etwas bedeutete. Selbst seine Bewegungen schienen aus einem Video-Clip zu stammen – er klatschte bei jedem zweiten Schritt in die Hände und streckte den Kopf nach vorne wie ein ungeduldiger Truthahn. Er machte auch die Tanzschritte, die den Marsch nach vorne vortäuschten, während sich der Körper tatsächlich rückwärts bewegte, und er machte das wirklich gut. Es fehlte nur der umstrittene Griff an den Unterleib – vielleicht war beim letzten Tanztraining etwas schief gegangen. Der andere Junge war etwas kräftiger gebaut, aber um einen halben Kopf kleiner. Er trug eine gelbe Schirmmütze, eine dazu passende Sonnenbrille und eine ausgeleierte Hose mit tausend Taschen und dem Schritt drei Zentimeter über dem Boden. Ein Hip-Hop-Anhänger, für mich Grund genug, um ihn mir als Ersten vorzuknöpfen.

Eigentlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine klare Vorstellung, was ich mit den beiden machen würde: Ich wollte nur ihre Kragen in den Händen fühlen und erfahren, welcher von ihnen der Werfer war. Ich war sicher, dass dem Terminator in mir schon etwas einfallen würde. Und dann ging alles sehr schnell. Als sie mich erkannten, war es schon zu spät für eine Flucht und ich hätte auch beide erwischt, wenn sich der Hip-Hop-Fan nicht sofort vor seinen Kameraden gestellt hätte. Das brachte mich aus der Fassung: Ich hatte ihn zwar am Arm gepackt, der andere aber drehte sich um und rannte weg. Ich machte einen schnellen Schritt nach vorne, setzte dem Gefangenen die Faust vor die Nase und fragte langsam durch die Zähne:

»Warst du es, der geworfen hat?«

»Nein, ich ... Ja, ich bin's gewesen ... Sollte ein Scherz sein! Und es war Pech, absichtlich hätte ich die Schüssel so nie im Leben getroffen! Jackson auch nicht!«

»Jackson?« Der Spitzname überraschte mich nicht, vielmehr hatte ich diesen Namen vor wenigen Sekunden selbst für den Schwächling reserviert. Er drehte den Kopf nach dem Flüchtenden, um mir zu zeigen, wer gemeint war.

»Und was machen wir jetzt mit dir?« Meine Frage sollte wie eine Drohung klingen, tatsächlich wollte ich nur etwas Zeit gewinnen, um sie mir selbst beantworten zu können.

»Ich mache alles sauber! Den Tisch und so ...«

»Und Jackson?«

»Er ist nicht weit, er würde mich nie im Stich lassen!«

Das Vertrauen in die Stärke einer wahren Jungmänner-Freundschaft war beeindruckend – offensichtlich war den beiden bisher noch kein Mädchen über den Weg gelaufen.

»Da bin ich aber gespannt«, sagte ich und schubste ihn in die Richtung, in die sein Freund vor wenigen Sekunden gelaufen war. »Und wie heißt du?« Man durfte in solchen Momenten nicht lockerlassen. »Eminem, Nelly oder Royce?«

»Neee, Tobias ...«

Die Ironie meiner Frage war nicht angekommen. Wir gingen um die Ecke und sahen, dass er recht hatte. Jackson war da, vor meinem Haus. Er saß auf dem Bürgersteig und selbst aus der Entfernung konnten wir Blut in seinem Gesicht und auf dem Boden sehen.

»Scheiße!«, rief Tobias. »Das ist gar nicht gut!«

Mein erster Gedanke war, dass Jackson bei der Flucht von einem Auto erfasst worden war. Aber ich hatte keine Zeit, weiter nachzudenken. Ich ließ Tobias los und rannte. Es waren nicht mehr als fünfzig Meter, aber es kam mir vor, als wären es die letzten Meter zur Spitze eines Achttausenders. Wir erreichten Jackson gleichzeitig. Ich kniete mich neben ihn und tastete seinen Kopf nach Wunden ab. Tobias steckte inzwischen seine Hand in die Innentasche der Lederjacke und holte einen steril verpackten Verband heraus, zerriss ihn fachmännisch und wischte Jackson das Blut vom Kinn. In dem Augenblick wurde mir klar, dass es kein Verkehrsunfall gewesen war.

Jackson war bei Bewusstsein und beobachtete uns, konnte aber nicht sprechen.

»Wir müssen zurück ins Krankenhaus!«, sagte Tobias. »Können Sie ein Taxi bestellen?«

»Zurück? Ins Marienkrankenhaus?«

»Ja.«

»Ich rufe einen Krankenwagen!«, schlug ich vor. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen.

»Nein, bitte keinen Krankenwagen!« In Tobias Stimme klang unverfälschtes Entsetzen.

Ich schaute ihn an und sah, dass er die Mütze und die Sonnenbrille verloren oder ausgezogen hatte und dass sein Kopf ganz kahl war. Erst jetzt fiel mir auf, dass er weder Wimpern noch Augenbrauen hatte. Meine intellektuellen Fähigkeiten reichten sicherlich nicht aus, um die Codierung einer Enigma-Maschine zu knacken; aber dass die zwei gerade einen unerlaubten Ausflug aus dem Krankenhaus machten, konnte ich mir schnell zusammenreimen.

»OK«, sagte ich, um ihn zu beruhigen, »mit meinem Auto ist es sowieso am schnellsten. Es steht gleich um die Ecke!«

Meine Wohnungstür stand noch offen, ich brauchte nur wenige Sekunden, um den Autoschlüssel aus der Schublade zu nehmen, das Eingangstor zu öffnen und den alten VW-Geländewagen auf die Straße zu fahren. Ich war froh, dass das Verdeck des Kübels seit dem vorigen Tag ausgeklappt geblieben war. Aber als ich Jackson auf den Rücksitz legen wollte, stellte sich heraus, dass dort schon Bert, die alte Bulldogge meines Nachbarn, Herrn Tlamatz, saß. Es war mir sofort klar, dass es keine Chance gab, Bert von seinem geliebten Platz wegzubewegen. Jackson wurde schließlich auf den Vordersitz gelegt, Tobias setzte sich neben den Hund und wir fuhren los.

In einem Action-Film hätte ich einfach das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt [01:07], zwanzig andere Autos unterwegs gerammt [00:41] und mit einer Hand auf der Hupe und der anderen in der Hosentasche [00:21] wäre ich noch rechtzeitig am Ziel angekommen [00:06], um dann den Zeitzünder einer Atombombe genau [00:02] Sekunden vor der Explosion mit einem schlichten Kugelschreiber abzuschalten und eine vollbusige, verängstigte, aber willige Blondine zu trösten [-17:46]. In Wirklichkeit musste ich feststellen, dass sich entlang der Strecke alle hochschwangeren Frauen aus unserem Stadtteil und zahlreiche unentschlossene Senioren mit ihren verfluchten Rollatoren verschworen hatten, ausgerechnet jetzt die Fahrbahn überall dort zu überqueren, wo ausnahmsweise kein blöder Lieferwagen hielt. Endlich an der Einfahrt zur Notaufnahme angekommen, sah ich einen Müllwagen an einer unendlich langen Reihe Container entlangkriechen. Ohne zu überlegen nahm ich den Eingang für Passanten, zerbeulte dabei den linken Kotflügel des Kübels an einem Betonpfosten und brachte das Auto mittig in einem Blumenbeet zum Stehen.

Entweder passierte hier so etwas ständig, oder jemand, der den Ernst der Lage schnell und richtig beurteilen konnte, hatte uns beobachtet – noch bevor ich ausgestiegen war, waren ein junger Arzt und zwei Sanitäter mit einer Tragbare zur Stelle und Jackson wurde sofort abtransportiert. Tobias verschwand ebenso schnell, ich wusste nicht einmal wie und wohin.

»Würden Sie bitte mit uns kommen?«, rief der Arzt und eilte, ohne auf mich und meine Antwort zu warten, den Sanitätern hinterher.

Ich beruhigte Bert, dem die schnelle Fahrt gar nicht gefallen hatte, befestigte seine Leine an der Stoßstange des Wagens und betrat dann widerwillig das alte Gebäude.

»Bleiben Sie bitte hier!«, rief ein anderer Arzt von dem anderen Ende des Korridors, bevor auch er hinter der Doppeltür der Notaufnahme verschwand.

Es war ein langer, bis zur Augenhöhe mit Fliesen überzogener Flur, dessen Lauf durch eine Glastür versperrt wurde. Die mit sachlicher Zurückhaltung zusammengesetzte Ausstattung bestand aus einigen Sitzplätzen aus Aluminium, einigen Kleiderhaken an der Wand, ebenfalls aus Aluminium, in Aluminium eingerahmten Plakaten und aus einem Feuerlöscher – für den Fall, dass Aluminium seine physikalischen Eigenschaften plötzlich änderte und alles in Brand geriet, man konnte ja nie wissen.

Mein Atem wurde ruhiger, die Aufregung machte der Müdigkeit Platz. Ich ließ mich auf einen der Sitze sinken. An der Wand gegenüber hingen Aufklärungsbilder zu Themen wie »Wieder ein ALPHAtier – dank BETAblocker!«. Jemand hatte sich viel Mühe gegeben, um uns einfachen Leuten im simplen Comic-Stil die komplexen medizinischen Sachverhalte verständlich zu machen. Ich begann zu überlegen, ob man die stabile Seitenlage auch in weniger kritischen Lebenssituationen einnehmen konnte, als die Tür gleich neben der Bank in meine Richtung aufging und jemand, den ich nicht sehen konnte, dessen kurzatmige und irritierte Stimme mir aber bekannt vorkam, sagte:

»Das ist doch lächerlich, die Proben sind bestimmt vertauscht worden. So was kommt nicht von alleine und ich bin doch kein verdammter Hinterlader!«

Die Antwort aus dem Raum war leise – und hart:

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Und heutzutage sind auch viele Heterosexuelle mit HIV infiziert. Es war nie, und es ist keine Krankheit nur von Homosexuellen!« Und nach einer kurzen Pause: »Hatten Sie vielleicht in der letzten Zeit einen One-Night-Stand?«

Die Gestalt stand immer noch hinter dem Türflügel. Ich sah nur einen breiten Schatten auf dem Boden. Einen Schatten, der Angst hatte.

»One-Night- …? Ach so, ich weiß, was Sie meinen ... Nein, nein, ich halte nicht viel von so was … Doch, ja ... Da war ein Wochenausflug nach Thailand im April, mit unserer ganzen Dart-Mannschaft. Dort ist aber garantiert nichts passiert. Es war eher eine Sauferei ...«

»Keine Miezen

»Nein ... Ja, doch, eine. Die kommt aber nicht in Frage!«

»Woher wollen Sie das wissen? «

»Naja… Die war ja erst… elf! In dem Alter hat man solche Krankheiten doch noch nicht.«

Eine Weile herrschte gespanntes Schweigen.

»Sie kommen besser wieder rein«, sagte dann die Stimme aus dem Raum, der Schatten verschwand und die Tür ging wieder zu. Jetzt war die Zeit fürs Intime gekommen. Oder es ging um die Telefonnummer des Mädchens in Thailand. Plötzlich wusste ich, woher ich die Stimme kannte. Es war einer der Männer, die in der dunklen Dart-Kneipe in unserer Straße herumlungerten. Ihr Fitness-Vorbild musste einer der Wildecker Herzbuben gewesen sein, der mit dem besseren Appetit. Man hatte den Eindruck, dass sie unter dem Gewicht der Bierbäuche nie wieder aus den Hockern hochkommen würden. Vielleicht warfen sie die Dartpfeile sogar im Sitzen, was gleich auch noch die Augenklappe des Wirtes erklären würde.

Ich stand auf, nach dem Lauf und der Fahrt war ich verschwitzt. Ich wusste nicht, aus welchem Grund meine Knie so stark zitterten. Etwas kühle Luft wäre gut gewesen, doch der Versuch, eines der Fenster zu öffnen, scheiterte. Ich versuchte, meinen Rücken so flach wie möglich an die kalten, hellgrünen Fliesen zu pressen. Wie wohl der feuchte Abdruck meines Körpers an der Wand aussehen mochte? Wie ein Bild im Rorschachtest?

»Ich sehe einen Schmetterling, Herr Doktor!«

»Schon wieder?«

»Ja, dieses Mal ist es aber ein Weibchen!«

»Das hört sich schon besser an … War Ihre Mutter sehr streng mit Ihnen?«

Und so weiter. Ich zählte die kugelförmigen Lampen in der langen Reihe an der Decke und lauschte den Geräuschen des Krankenhauses: den entfernten Schritten, dem Klappern undefinierbarer metallischer Gegenstände, dem leisen Summen und dem mechanischen Stöhnen. Für mich hörte es sich an, als ob in der Urologie im Rahmen des »50 PLUS Vorsorgeprogramms« gerade Darth Vader untersucht würde:

»Hier können Sie Ihr Laserschwert ablegen und jetzt bücken Sie sich bitte, wir wollen uns die dunkle Seite der Macht etwas näher anschauen!«

Würde gleich die schreckliche Diagnose erklingen?

»Seien Sie jetzt tapfer, Herr Vader. Die klassische Medizin unserer Galaxie kann nichts mehr für Sie tun ... Ja, es sind interstellare Hämorriden!«

Beide Seiten der großen Flügeltür zur Intensivstation öffneten sich plötzlich und eine junge Krankenhausangestellte, ganz in Grün, marschierte heraus, mit geballten Fäusten und einem Gesichtsausdruck, den man nur schwer mit der lebensrettenden Berufung ihrer Gattung in Einklang bringen konnte. Im hippokratischen Eid musste mehr stehen, als man gemeinhin vermutete. Sie kam direkt auf mich zu.

»Was haben Sie sich dabei gedacht, Sie blödes Schwein?!«, fragte sie und in ihrer Stimme hörte ich diesen seltsamen Bruch, der zwischen unkontrollierbarer Wut und dem Atemzug entsteht, der die Muskeln mit einer kräftigen Sauerstoffmenge versorgen soll, bevor es losgeht.

Sie griff mit beiden Händen nach meinem T-Shirt und versuchte mich zu schütteln, was ihr auch gelungen wäre, wenn ich ein Jackett, einen Mantel oder wenigstens ein Brustwarzen-Piercing gehabt hätte. Da ich an der Wand stand, gab es aber keine Möglichkeit auszuweichen. Ich musste also nach dem versöhnlichen Dialog suchen.

»Wobei?«, wollte ich wissen. »Sie denken doch nicht ernsthaft, ich hätte ihn geschlagen?«

Sie trug eine schmale Brille in einer auffallend dicken, dunklen Fassung und war deutlich kleiner als ich. Um mich mit einem gezielten Blick in die Augen zu vernichten, musste sie über den Brillenrand gucken. Ich erwiderte ihren Blick und wusste, dass sie mich jetzt nicht mehr scharf sehen konnte. Und sie wusste, dass ich es wusste – was sie eigentlich hätte entwaffnen sollen. Doch der Blick ihrer braunen Augen blieb hart. Es waren meine Augen, die auswichen. Der Abstand zwischen uns betrug etwa drei Zentimeter Luftlinie. Es war eine solche Nähe zu fremden Personen, weshalb ich, wo es nur ging, Aufzüge mied und in keine überfüllten Straßenbahnen stieg. Sie versetzte mich in Panik. Doch diesmal blieb die Panikreaktion seltsamerweise aus. Ganz in Gegenteil. Die Angreiferin trat einen Schritt zurück, blickte wieder durch die Brille und steckte ihre Hände in die Taschen der grünen Uniform.

»Wie geht es ihm?«, fragte ich. »Was ist überhaupt los?«

»Er soll sich jetzt erholen, hat eine Infusion bekommen und muss eine Weile auf der Intensivstation bleiben. Hätte er noch mehr Blut verloren ...« Ihre seltsame, raue und zugleich feminine Stimme wurde jetzt ruhiger. Am Telefon hätte ich sie auf zehn Jahre älter geschätzt. Sie trug kein Make-up. Ihre Haut war hell und hatte diesen warmen Ton, der nur selten zu dunklem Haar passte. Es fiel mir schwer, den Blick von dem Licht- und Schattenspiel auf ihrem Hals abzuwenden. Sie hatte es glücklicherweise nicht bemerkt und fuhr fort:

»Er wartet seit über einem Jahr auf eine passende Knochenmarkspende. Das Letzte, was er jetzt braucht, sind Psychopathen, die ihn durch die halbe Stadt jagen … Tobias hat mir alles erzählt!«

Die Aggressivität in ihrer Stimme war zurück und ich musste darauf reagieren.

»Wirklich alles? Das glaube ich kaum. Aber Verzeihung, ich muss mich entschuldigen, verstehen Sie, wenn ein Psychopath wie ich unschuldige Kinder durch die Gegend jagt, fällt es ihm manchmal schwer zu erkennen, dass sie krank sind! Ich bin eben keine Krankenschwester.« Ich zuckte mit den Schultern. Das hatte gesessen. Auf jeden Fall behielt sie die Hände in ihren Taschen.

»Ich auch nicht«, sagte sie, wieder etwas ruhiger.

Die grüne Mütze verschwand in der Hosentasche und, als ob es den vorherigen Dialog gar nicht gegeben hätte, kam plötzlich ein Versöhnungsangebot.

»Sie sehen ziemlich fertig aus. Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Wir haben hier eine Cafeteria. Gegenleistung nicht nötig ...« Sie deutete mit dem Finger auf meine Brust. Ich trug noch immer dieses unsägliche amerikanische T-Shirt.

»Nein, danke. Vielleicht ein anderes Mal. Ich muss mich jetzt um den Hund kümmern.« Mit einer Kopfbewegung zeigte ich in die Richtung, wo man hinter dem Fenster das Auto sehen konnte. »Ich habe nur gewartet, weil ich wissen wollte, wie es dem Jungen geht. Wie heißt er eigentlich?«

»Johannes … Aber alle nennen ihn Jackson

»Kann ich ihn morgen besuchen?« Ich hatte keine Ahnung, wieso diese Frage meinem Mund entwichen war. Ein irrationaler Gedanke hatte sich verselbstständigt und hatte die Kontrollschranke der Vernunft umgangen.

»Ich weiß es nicht, ich werde aber den Arzt fragen und es Ihnen sagen, wenn Sie wollen«, schlug sie vor.

»Sie sind also keine Krankenschwester und auch keine Ärztin?«, lieferte ich ein Beispiel meines unvergleichlichen Scharfsinns, das schnelle Ausschlussverfahren war wirklich beeindruckend.

»Eigentlich habe ich hier mit Musiktherapie angefangen, aber dann ... Tja, jetzt versuche ich einfach, etwas Unterhaltung für die Kinder zu organisieren und manchmal auch mehr. Es ist schwierig, davon zu erzählen. Wenn Sie wiederkommen, zeige ich es Ihnen gerne. Ist das Bild sehr beschädigt?«, wechselte sie unerwartet das Thema und gab mir damit die Gelegenheit, über die Bedeutung der Kunst für die Menschheit, über die Bedeutung meiner Bilder für die Kunst und über die unwiderruflichen Folgen der barbarischen Zerstörung des Bildes zu labern. Doch die Frage hatte mich dermaßen aus dem Konzept gebracht, dass ich schließlich nur die Niemand außer mir kann das wahre Ausmaß der Tragödie beurteilen Nummer durchzog:

»Nein, ich war noch ganz am Anfang und so empfindlich ist ein Keilrahmen auch wieder nicht. Sagen Sie Jackson, er soll es das nächste Mal mit einem Kürbis versuchen ...«

Keine Reaktion. In ihrer Wohnung hingen bestimmt keine richtigen Bilder, nur Plakate oder aus einer Zeitschrift ausgeschnittene Fotos ihrer Musikidole. Nur welche? John Lennon? Whitney Huston? Andrea Bocelli? Schlagerstars?

»Wie kann ich Sie erreichen?« Schon wieder ein Gedanke mit zu viel Eigeninitiative. Ich musste nicht lange auf ihre Antwort warten, sie hatte mehrere Stifte und Kugelschreiber in ihrer Brusttasche, nahm einen davon in die Hand und schrieb eine Telefonnummer auf einen kleinen Zettel.

»Meine Handynummer. Rufen Sie mich morgen früh nach neun Uhr an, dann kann ich Ihnen bestimmt etwas mehr sagen. Und ... danke!«

»Wofür?«

»Dafür, dass Sie ihn so schnell zu uns gebracht haben.«

»Oh, das. Ich hatte Angst. So feige sind wir eben, wir Psychopathen!« Das Letzte war mir einfach rausgerutscht. Ich war nicht nachtragend und es war bestimmt nicht meine Absicht, eine Entschuldigung zu erzwingen.

»Bitte ... Sie haben keine Ahnung, wie mich diese Geschichte mitgenommen hat. Wenn Sie länger hier wären, könnten Sie das besser verstehen, Herr ...«

»Hennig. Oder besser einfach Martin. Und wofür steht das ›E‹ vor Ihrem Namen?« Ich zeigte auf das Identifikationsschild auf ihrer Brusttasche.

»Elli. Elli Willms.« Sie lächelte auf einmal und reichte mir die Hand. »Freunde?«

»Freunde!«

Ihre Hand war ungewöhnlich kräftig, vermutlich vom ständigen Schütteln der Krankenhausbesucher. Meine Hand war immer noch feucht und Elli Willms bedauerte es wahrscheinlich, dass sie gerade keine Latex-Handschuhe trug.

* * *

Als ich das Krankenhausgebäude verließ, sah die Rabatte, in der das Auto stand, noch viel schlimmer aus als vorher: Überall lagen abgebrochene Tulpen und es gab tiefe Furchen im Boden. Sonst schien alles sehr friedlich, nur Bert war nicht zu sehen. Zwischen dem Krankenhaus und dem anliegenden Altenheim befand sich eine gepflegte kleine Parkanlage mit weißen Bänken unter alten Kastanienbäumen und Linden. Die sensationslüsternen Senioren konnten von dort aus die Einfahrt zur Notaufnahme beobachten und tatsächlich wartete ein Grüppchen Weißhaariger schon ungeduldig darauf, was die nächste Folge von Das Leben da draußen heute bringen würde. Mein Instinkt und die Abdrücke der breiten Hundepfoten auf dem Boden sagten mir, dass ich dort erfahren würde, was mit Bert passiert war. Auf das, was ich vorfand, war ich allerdings nicht vorbereitet.

Auf der ersten Bank saß eine grauhaarige, geschmackvoll gekleidete, sehr alte Frau. Sie beobachtete mich und ihr Gesicht hatte diesen stolzen und zufriedenen Ausdruck, den man manchmal bei jungen Müttern findet, die das Übergewicht ihrer Säuglinge für den Beweis der richtigen Pflege halten. Ich nahm einen dezenten Sandelholz-Duft wahr und blickte irritiert auf die Originalausgabe der Financial Times, deren Lektüre ich offensichtlich gerade gestört hatte. Bert lag auf dem Rücken im Gras neben der Bank – mit einer Louis-Vuitton-Handtasche aus weichem Wildleder unter dem Kopf – und schnarchte wohlig. Seine Pfoten zuckten. Im Traum besuchte der alte Casanova vermutlich das interessant riechende, weniger zivilisierte Flussufer, an dem er bei unseren Spaziergängen oft die Witterung läufiger Hündinnen aufnahm. Ganz bestimmt brauchte auch niemand die blöde Frage zu stellen, ob Bert ein Männchen oder ein Weibchen sei. Hätte ich mit einem Filzstift auf seinem aufgeblähten Bauch ein paar Striche gezeichnet, hätte das Biest eine perfekte Sonnenuhr abgegeben – »Praktisch und elegant!«.

»Wir mussten ihn ruhig stellen«, meldete die parfümierte Dame, bevor ich etwas sagen konnte. Pluralis Majestatis klang aus ihrem Munde so natürlich wie bei einem Chefarzt, für den die persönlich angeordnete Therapie die einzig richtige ist. »Er hat in den Blumen gewühlt wie ein Maulwurf! Fehlt ihm vielleicht Magnesium oder Vitamin D?« Sie taxierte mich mit einem ganz eigenartigen Blick, in dem sich Neugier und Verblüffung mischten. Ich stellte mir mein aktuelles Aussehen vor und musste feststellen, dass ich es damit nicht aufs Cover der Men’s Vogue geschafft hätte, höchstens in eine Anzeige, die um Spenden für die Opfer einer Naturkatastrophe warb.

»Was haben Sie ihm denn verabreicht? Einen Cocktail aus Valium und Viagra?«, fragte ich und überlegte, wie der Teil der Anatomie, für den es in Berts Haut zu wenig Platz gab, auf die inzwischen extreme UV-Strahlung der Sonne reagieren würde.

»Nun, er mag offensichtlich belgische Pralinen, besonders die mit Williams-Birnen in Armagnac«, sagte sie mit einem schelmischen Blick und deutete mit einer lässigen Handbewegung auf eine elegante, leere Schachtel auf dem Rasen. Ich beschloss spontan, demnächst auch eine solche Pralinenschachtel für Bert zu kaufen, vorausgesetzt die Konditorei bot ein günstiges Finanzierungsmodell an.

Alle Versuche, Bert zu wecken, scheiterten. Weder brutales Rütteln noch meine grobe Rhetorik zeigten Wirkung – Bert stieß nur laut auf und seine Zunge leckte die Reste des Alkohols, die an seiner Oberlefze klebten, ab. Ich hätte schwören können, dass er dabei lächelte.

»Was für ein süßer Fratz!«, sagte die elegante Dame sichtlich gerührt.

»Ja, das stimmt. Und ein verdammt schwerer noch dazu.«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als den schlafenden Säufer zum Auto zu tragen und darauf zu hoffen, dass er es später alleine in den ersten Stock schaffen würde.

»Einen Moment noch …« Ihre Stimme war höflich, aber so entschlossen, dass ich automatisch stehen blieb. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein Lichtbild von Ihnen und dem Hund aufnehme?«

Ich hatte das Wort Lichtbild seit dem ersten Semester meines Kunststudiums nicht mehr gehört. Es war damals in einer unvergesslich blöden Vorlesung mit dem Titel Metamorphosen der Lichtbildervon Rembrandt bis Röntgen aufgetaucht.

»Kein Problem. Ich glaube nicht, dass Sie mir damit meine Seele stehlen, und Bert ist, wie man sieht, sehr fotogen.«

Dass in ihrer gepflegten Hand plötzlich eine Kamera mit dem besten Porträtobjektiv, das je hergestellt wurde, erschien, hätte mich eigentlich nicht mehr überraschen dürfen. Die professionelle Geschicklichkeit, mit der die greisen Finger die Kamera bedienten, schon eher.

»Jawohl! Perfekt, genau so ...«, murmelte sie hinter der Kamera.

Nach wenigen Sekunden war unsere Fotosession beendet. Ich bedankte mich bei der unbekannten Florence Nightingale für die Hilfe und wünschte ihr einen schönen Tag. Den würde sie bestimmt haben. An ihrer Stelle – nur um sicherzugehen – würde ich vielleicht den nächsten Kontoauszug als Amulett nah am Körper tragen.

Bert hatte sich während der Fahrt im Auto etwas erholt, es war nicht nötig, ihn nach oben zu tragen. Es dauerte zwar etwas länger als sonst, bis er den Weg geschafft hatte, aber zu meiner Überraschung fand er problemlos die richtige Tür.

* * *

Im ganzen Haus wohnten außer mir nur zwei Personen: Herr Tlamatz, der Hausbesitzer, dessen Wohnung sich über die ganze erste Etage erstreckte, und Ulla, eine junge, vollschlanke Frau, die mir früher manchmal Modell gestanden hatte und durch die ich meinen aktuellen Auftraggeber, Holger, kennengelernt hatte. Ihre Wohnung lag direkt unter dem Dach und bestand nur aus einem kleinen Zimmer, einer Kochnische ohne Fenster und einem winzigen Bad. Mehr brauchte sie auch nicht, weil sie die meiste Zeit ohnehin bei Holger verbrachte. Ihre Beziehung war zum Teil beruflicher Natur, Ulla brauchte für ihre Beschäftigung einen Beschützer und auch jemanden, der die Kundschaft auftrieb. Was ihm mit dem Spruch »So viel Weib für so wenig Geld!« auch immer wieder erstaunlich gut gelang.

Im Erdgeschoss befanden sich die Büros eines Steuerberaters und die zweite Etage stand leer, seit Herr Tlamatz es geschafft hatte, den letzten Bewohner loszuwerden, der ihm, wie er sagte, zu viel auf dem Kopf herumgetrampelt sei. Herr Tlamatz, ein ehemaliger Fremdenlegionär, war über achtzig. Bis vor Kurzem war er noch imstande gewesen trotz der Beinprothese problemlos selbstständig zu leben. Seit einem Sturz im letzten Herbst jedoch konnte er die Wohnung kaum noch verlassen. Eigentlich hätte Herr Tlamatz noch immer zu Reha-Maßnahmen im Krankenhaus sein sollen. Doch er hatte sich weder mit der eigenen Schwäche noch mit der Abhängigkeit von dem medizinischen Personal abfinden können und hatte dies derart unmissverständlich kundgetan und mit den hart antrainierten Techniken eines Berufssoldaten unterstrichen, dass man ihn schon nach wenigen Tagen nur zu gern nach Hause entließ. Der Chefarzt bedauerte beim Abschied – wie ich glaubte, nicht ganz im Scherz – dass aktive Sterbehilfe bei Patienten mit Hüftverletzungen leider nicht zulässig sei. Eine der Pflegerinnen, die Herr Tlamatz aufs Übelste gedemütigt hatte, hatte angeboten, den alten Fiesling »mit dieser Bettpfanne hier eigenhändig und ohne Zuschuss zu erschlagen

Als ich ihn einmal fragte, wie er vor fast vierzig Jahren, nach seiner Beinamputation, die Zeit im Feldlazarett überstanden hatte, hatte er nur den Kopf geschüttelt. »So was war doch normal, es gibt keinen Krieg ohne Tote und Verletzte«, lautete seine Erklärung. In anderen Worten, es gab für seine aktuelle Verletzung – weil sie selbstverschuldet war – kein Pardon. Um Herrn Tlamatz die Schmach ein wenig zu erleichtern, hatte Berts damalige Besitzerin, Frau Zimmering aus dem Haus gegenüber, vorgeschlagen, dass er Bert tagsüber bei sich aufnehmen könne, während sie selbst zur Arbeit im Lager einer Discounter-Kette ging. »Besser ein Hund als gar keine Gesellschaft, wenn man zuhause bleiben muss. Is' zwar nicht dasselbe wie 'ne Delfintherapie für Kinder, die sonst nichts kapieren und nur grinsen, aber er ist ja auch kein Kind«, war ihre überzeugende Argumentation.

Schon nach kurzer Zeit wollte Bert gar nicht mehr in sein altes Zuhause zurück, sein Fell glänzte wie der Irokesen-Schnitt von DJ Bosfor, dem Rapper aus unserem Stadtteil – und das sollte wirklich was heißen.

Die Hoffnung, dass Herr Tlamatz dank der notwendigen Spaziergänge mit dem verwöhnten Rüden seine frühere Beweglichkeit wiedergewinnen würde, erfüllte sich aber leider nicht. Auch Wochen später konnte er noch nicht richtig laufen. Dabei alterte Bert ebenfalls schnell und musste immer öfter. Alle in der Straße wussten, was es für den alten Mann bedeuten würde, den Hund wieder hergeben zu müssen, und alle mochten Bert. Also entschlossen sich die Nachbarn kurzerhand, eine Hilfsgruppe zu organisieren. Das Privileg, mit dem Hund Gassi zu gehen, dabei die eigene Fitness zu verbessern und Hundeexkremente mit Papiertüten aufzusammeln, wurde mir zuteil. Seit mir Herr Tlamatz seinen alten Geländewagen zur Verfügung stellte, fuhr ich manchmal mit dem Hund auch zum Flussufer, wo er im Sand laufen konnte. Das war besser für seine Pfoten als die betonierten Straßen in unserer Gegend. Bert gewöhnte sich schnell an unsere Ausflüge, lief die Treppe alleine herunter und jedes Mal, wenn ich vergessen hatte, die Autotür zuzumachen, wartete er geduldig auf dem Rücksitz auf mich. Im folgenden Monat wurde – ebenfalls als Maßnahme zur Verbesserung der Laune des griesgrämigen Rekonvaleszenten – auf dem Dach unseres Hauses eine Satellitenantenne, die aus mehreren Schüsseln bestand, installiert. Ein Raum in der Wohnung des Hausbesitzers verwandelte sich in ein Fernsehzimmer der besonderen Art: An den Wänden hingen zahlreiche Geräte in zwei Reihen und Herr Tlamatz beobachtete sie von seinem Sessel aus, schaltete mithilfe einer speziell dafür angefertigten Steuerung den Sound der einzelnen Fabrikate ein und aus. Auf allen Bildschirmen liefen ausschließlich Nachrichten, die obere Reihe zeigte die europäische Berichterstattung, die untere die arabische und ostasiatische, die letzte lief auf Englisch.

In den Jahren, die er in Nordafrika – erst in Marokko, dann in Algerien – verbracht hatte, hatte Herr Tlamatz Arabisch gelernt und dank dieser Fähigkeit konnte er auch nordafrikanische Fernsehsender in seine Vergleichsstrategie einbeziehen. Manchmal berichtete er mir, dass seine Verdächtigungen bestätigt worden waren, was er – selbstverständlich zwischen den Zeilen – in der direkten Berichterstattung aus Nahost herausgefunden hatte. Ich musste mich auf seine Worte verlassen, weil ich nicht einmal unterscheiden konnte, ob das Thema, das auf dem Bildschirm gerade hitzig diskutiert wurde, die politische Lage in der Region oder das Halbfinale des Kamelrennens in Nad al Sheba betraf; »Wir sind schon wieder verraten worden«, berichtete Herr Tlamatz zum Beispiel. »Tja, dieses ganze Theater mit der Demokratie und Freiheit dient nur der Rüstungsindustrie. Es werden ein paar Underdogs da drüben abgeknallt, ein paar Milliarden für irgendwelche obskuren Hilfsprojekte, bei denen keine Rechnungen erstellt werden müssen, verschwendet – und dann ziehen wir uns zurück, wie jedes Mal seit Vietnam ...« Das Wir bezeichnete die westliche Zivilisation, zu der seit ihrem peinlichen Rückzug aus Afghanistan auch die Russen gehörten.

Als eingefleischter Verschwörungstheoretiker konstruierte Herr Tlamatz ein Gerüst aus Methoden, die ihm helfen sollten, die angeblichen Mechanismen der weltumspannenden Manipulation der öffentlichen Meinung zu entlarven und die informativen Wahrheiten offen zu legen. »Jedem rutscht mal etwas raus«, meinte er. »Selbst die am besten Geschulten und Loyalsten verplappern sich ab und zu. Wenn man alle diese einzelnen Ausrutscher zusammenaddiert und richtig deutet, kommt die Wahrheit ans Licht.« Er meinte damit vor allem die Nachrichtensprecher – aber auch Kommentatoren und natürlich die von ihm verachteten Politiker. »Ein künstlicher Darmausgang hat mehr Charisma als diese Pappnasen«, war seine Standardfloskel.

* * *

Zurück in der Wohnung beurteilte ich als Erstes das Ausmaß des Schadens. Es war halb so schlimm. Die Flecken, die die Pferde abbekommen hatten, konnte ich problemlos entfernen. Das Bild hatte es schlimmer erwischt. Da es sich aber in einem sehr frühen Stadium befand, hätte ich eigentlich einfach eine andere, saubere Malleinwand nehmen können, um noch einmal von vorne anzufangen. Ich entschied mich dagegen und wischte die schon fast trockenen Tropfen Farbe mit einem Schwamm und einer kleinen Menge Verdünner ab. Die Fläche war danach wieder gleichmäßig, aber nicht mehr weiß und das gefiel mir sogar. Ich ordnete die Papierformen neu, schob einige in dichtere Gruppen zusammen, verstärkte ein paar ausgewählte Elemente mit Farben und Filzstiften in ihrer Wirkung und legte nach und nach die Komposition des Bildes komplett anders an, als ich es vorgesehen hatte. Es war schon spät, als ich eine kurze Pause machte, um die Ergebnisse zu betrachten.

Das Neue überraschte mich – auf einmal wusste ich ganz genau, was das Bild brauchte, um eine frische Kraft zu entfalten. Die geometrischen, abstrakten Formen blieben weiterhin wichtig, ebenso die Farbverhältnisse und vor allem die dynamische Verteilung. Die Komponente, die ich vorher sträflich vernachlässigt hatte, hieß Textur. Das Bild war, beim ganzen Reichtum an Formen und Nuancen, einfach zu glatt gewesen. Es hatte ihm ein scheinbarer Fremdkörper gefehlt, der sich nicht nur integrierte, sondern die anderen Komponenten des Gemäldes miteinander verband, wie das Gold in den Werken von Klimt. Ich überlegte, was infrage käme, und probierte willkürlich diverse Materialien aus: Textilien, Alufolie, gerasterte Zeitungsbilder und andere Stoffe, die ich in meinen Schreibtischschubladen hortete. Nichts davon funktionierte. Es musste etwas sein, das nicht von der Stange kam, kein Readymade-Element ohne individuellen Charakter. Ich experimentierte weiter mit Abdrücken meiner Hände, Frottagen von Holzdielen, die ich auf dem Boden gemacht hatte, und am Ende sogar mit organischen Stempeln, für die ich im Kühlschrank gefundene Möhren, Kohlrabi-Blätter und Lauchstangen verwendete. Es waren keine schlechten Ideen, der Kontrast der natürlichen Spuren und die asketische Ausstrahlung der Papierschnipsel war interessant. Es war aber immer noch nicht das, wonach ich suchte. Es war eine weitere Sackgasse.

Nach all den aufregenden Ereignissen dieses langen Tages ließ meine Konzentration allmählich nach und meine Gedanken schweiften ab. Also räumte ich die anderen Spuren des Überfalls im Atelier auf und widmete mich wieder dem Geldverdienen. Die Karussellrösser waren inzwischen trocken und nach einer bescheidenen Mahlzeit konnte ich die restliche Arbeit zu Ende bringen.

Die Pferde hatten einen eigenartigen, gequälten Gesichtsausdruck, was aber nicht weiter verwunderlich war für Fluchttiere, die paarweise pausenlos im Kreis laufen mussten und noch dazu Kirmesmusik ausgesetzt waren. Eine anständige Schicht Firnis, die ich am Ende auftrug, sollte den alten Charakter der Figuren vor den Auswirkungen der modernen Umwelt – in Gestalt der Zappel-Kevins und Chantals – schützen. Doch auch in früheren Zeiten hatten Kinder es immer wieder geschafft, diverse Spuren zu hinterlassen. Die Restaurierungsarbeit offenbarte nicht nur einen unerschöpflichen Reichtum an Ideen, was das Stopfen von Kaugummis in nicht dafür vorgesehene Löcher und Ritzen im Holz anging, sondern auch überraschende Indizien verzweifelter Kampfhandlungen – in einer mit Spachtelmasse überzogenen Vertiefung am Ohr eines der Pferde entdeckte ich zwei Milchzähne.

Am Abend ging ich noch einmal mit Bert spazieren und nutzte die Pause, um über die Änderungen, die ich an dem Bild machen musste, nachzudenken. Ich sah aber keinen wirklichen Durchbruch – das, was mir vorher aufgefallen war, reichte nicht. Eine neue Idee musste her.

Bis Mitternacht hatte ich alle notwendigen Korrekturen an den Pferden durchgeführt und dabei etwas Wein getrunken. Danach begleiteten John Coltrane und sein Saxofon das Schaukeln meiner Hängematte. Ich war in einer guten Stimmung, der Abgabetermin der renovierten Pferde am folgenden Tag konnte eingehalten werden. Doch plötzlich hatte ich wieder die schlanke Gestalt des jungen Michael-Jackson-Fans vor Augen, seine komische Frisur, seine Nervosität, aber vor allem die perfekten Schritte, als er den Marsch nach vorne darstellte und sich tatsächlich rückwärts bewegte – den berühmten Moonwalk.

Ich stand auf, pfiff leise die Anfangsmelodie von Thriller, schnippte mit den Fingern und versuchte, die Schritte nachzuahmen. Eines war sicher: Ich konnte es nicht. Wenige Minuten später hatte ich ein entsprechendes Video-Tutorial gefunden. Eine junge Asiatin erklärte jede Bewegung in schlechtem Englisch und lachte dabei. Obwohl ich mir das Video mehrmals anschaute, auch in Zeitlupe, wollte es mir einfach nicht gelingen, ihre Bewegungen nachzumachen. Nach zehn Minuten weiterer Bemühungen gab ich auf und musste mir eingestehen, dass ich eine Art Respekt gegenüber den beiden Jacksons empfand – dem echten Michael Jackson, aber auch dem anderen gegenüber, der jetzt vermutlich mit einer Infusionsnadel im Unterarm genauso blass aussah wie sein Idol. Und etwas Neid spürte ich auch.

Spätsommerkarussell

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