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Das Kleid

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Eriks Magen rumorte. Was in gedämpften Intervallen begonnen hatte, war mittlerweile einem lauten Knurren gewichen, das sich nicht mehr ignorieren ließ. Also überlegte er, wo er sich zum Mittagessen niederlassen konnte, um nicht bald vor Entkräftung mitten in der Hanauer Innenstadt weiche Knie zu bekommen.

Wie jeden Morgen hatte sein Frühstück lediglich aus schwarzem, ungesüßtem Kaffee bestanden, was ihm Nadjas missbilligenden Blick eingetragen hatte. Sie hielt es für unvernünftig, sich den leeren Magen mit Kaffee vollzupumpen, aber Erik war ein Morgenmuffel, der erst in Schwung kommen musste, ehe er etwas Festes kauen und schlucken konnte.

Nachdem Nadja zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Erik wie gewohnt den Frühstückstisch abgeräumt, die Tassen und Teller zusammen mit dem Geschirr vom Vortag gespült, abgetrocknet und in die Hängeschränke einsortiert. Dann hatte er ihre „To‑do“‑Liste in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt und sich auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Er war fast zwei Stunden unterwegs gewesen, um ihre Aufträge zu erledigen, ehe er die Reinigung ansteuerte, um ihr Kleid abzuholen. Die Bedienung hinter der Ladentheke hatte eine Ewigkeit danach gesucht, und Erik war unwohl geworden bei dem Gedanken, es könne sich unter der Einwirkung von Chemikalien restlos aufgelöst haben, was unweigerlich Nadjas Zorn und tagelange schlechte Laune nach sich gezogen hätte. Als man es ihm, in eine transparente Schutzfolie gehüllt, endlich überreichen konnte, war ihm ein Stein vom Herzen gerollt.

Mit dem Kleid über der linken Schulter, so dass der Haken des Drahtbügels, der aus der Folie ragte, bei jedem Schritt gegen seine Rippen wippte, erreichte er das Steakhaus im Hotel „Römerhof“. Er fand auf Anhieb einen freien Tisch und warf, während er sich setzte, seine unbequeme Bürde über die Rückenlehne des Nachbarstuhls.

„Ich kann Ihnen das argentinische Rib Eye Steak mit Folienkartoffel und Sour Cream empfehlen.“ Die Bedienung, eine hübsche junge Frau mit einem Pferdeschwanz, die schlanke Figur in hautenge Jeans und eine weiße Bluse gekleidet, lächelte Erik aufmunternd zu. In den Händen hielt sie Block und Kugelschreiber bereit, um die Bestellung aufzunehmen. „Oder möchten Sie die Speisekarte sehen?“

Er winkte ab. „Nein danke. Mir genügt etwas Einfaches, möglichst Leichtes.“

„Dann vielleicht gebratene Garnelen mit Schalotten und Cherry-Tomaten?“

„Klingt gut. Dazu bitte ein Glas Weißwein, trocken.“

„Kalifornischen oder lieber einen Württemberger?“

„Der Württemberger wäre perfekt.“

Sie strahlte ihn an. „Kommt in fünfzehn Minuten. Der Wein natürlich sofort.“

Erik sah ihr mit Wohlwollen nach, wie sie in die Küche tänzelte. Er mochte Menschen, die von ihrem Job erfüllt waren und ihren Kunden das Gefühl gaben, soeben den Ritterschlag empfangen zu haben.

In Erwartung seines schlichten Mahls lehnte er sich auf seinem Sitz zurück und bedankte sich bei einem älteren Kellner, der ihm den Weißwein servierte. Wenigstens ließ ihm Nadja genügend Freiraum, dass er sich ein- bis zweimal in der Woche diesen bescheidenen Luxus leisten konnte. Andere Frauen wären bei ihrem schmalen Budget bestimmt kleinlicher und ließen ihn aus Dosen und Büchsen vom Discounter essen, als sei er ein Hauskater. Schließlich entging ihm nicht, wie es bei anderen Paaren in seinem Freundeskreis zuging. Nadja hingegen verzichtete sogar darauf, dass er über jeden Cent der Ausgaben, die bei den täglichen Erledigungen anfielen, am Wochenende Rechenschaft ablegte.

Erik hatte es lange Zeit für ein großes Glück gehalten, Nadja gefunden zu haben. Oder genauer gesagt: Sie hatte ihn gefunden. Bis dahin hatte er sie im Vorlesungssaal der Goethe-Universität nur flüchtig wahrgenommen, geschweige denn jemals ein Wort mit ihr gewechselt, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sie könne auf ihn, der sich für zurückhaltend und unauffällig hielt, aufmerksam geworden sein. Doch als er den ersten Tiefpunkt seines noch jungen Lebens erfahren und sich von Gott und der Welt verlassen geglaubt hatte, war sie auf ihn zugekommen. „Ich bin Nadja Seeler und möchte dich auf ein Eis einladen“, hatte sie mit kokettem Lächeln, aber tiefem Ernst in den Augen zu ihm gesagt. „Du wirkst ein bisschen verloren, und ich denke, jemand sollte sich um dich kümmern.“

Ihre ungespielte Offenheit hatte ihn verblüfft, so dass er auf ihr Angebot eingegangen und ihr ins Eiscafé Michielin gefolgt war, das nur eine U-Bahn-Station vom Campus entfernt lag . Nachdem die Bedienung ihre Bestellung serviert hatte, war Nadja ungeniert auf den Punkt gekommen: „Ich beobachte seit Wochen, wie du lustlos im Hörsaal herumlümmelst. Durchhänger sind schon mal drin, aber bei dir scheint es ein Dauerzustand geworden zu sein. Läuft’s etwa mit dem Studium nicht?“

„War schon besser. Aber das ist es nicht.“

„Was quält dich dann? Raus damit!“

Erik hatte gezögert, weil er es grundsätzlich für aufdringlich, wenn nicht gar peinlich hielt, andere Menschen mit seinen Sorgen zu behelligen. Andererseits hatte er Nadja, die aufrichtig an ihm interessiert zu sein schien, nicht vor den Kopf stoßen wollen. Auch hatte er begriffen, dass sie nicht der Typ war, der schnell aufgab, sondern über ein unerschöpfliches Repertoire verfügte, einem introvertierten Menschen wie ihm auf die Sprünge zu helfen. „Komm schon! Es kostet doch nichts, sich den Kummer von der Seele zu quatschen. Bleibt auch alles unter uns. versprochen.“ Zur Bekräftigung ihrer Aufrichtigkeit hatte sie die flache Hand auf die Stelle ihrer Brust gelegt, wo das Herz schlägt, so dass Erik sich einen Ruck gab und begann, erst stockend, dann immer flüssiger zu erzählen.

*****

„Mama, du isst ja wieder nichts.“

„Tut mir leid, Erik.“

Er hatte gekocht. Wie jeden Abend. Und wie jeden Abend konnte Margret Durante, die mit dunklen Augenringen vor ihrem Teller saß, vor Müdigkeit kaum das Besteck halten.

„Dein Essen schmeckt wie immer großartig, Erik, an dir ist wirklich ein Sternekoch verloren gegangen. Aber ich bin fix und fertig und gehe besser schlafen.“

Meistens sank sie noch angekleidet auf ihr Bett und zog sich erst am Morgen aus, um zu duschen und sich frische Kleidung überzustreifen. Sie nahm bedenklich schnell ab. Erik plagten Schuldgefühle, denn Margret hatte sich ein Ziel gesetzt, von dem nicht einmal Gott sie hätte abbringen können: Erik sollte studieren, und dafür war ihr jeder Einsatz recht. Sie fuhr mit ihrem Taxi erheblich mehr Stunden am Tag, als gesetzlich zulässig waren, denn nur so konnte sie genügend Geld nach Hause bringen, dass es für den Unterhalt und die Finanzierung des Studiums reichte.

Eigentlich Drogistin von Beruf, hatte sich Margret als Taxifahrerin selbständig gemacht, nachdem ihr Arbeitgeber gezwungen gewesen war, seine Drogerie zu schließen und die Mitarbeiter zu entlassen. Mit den Drogerieketten, die immer stärker den Markt beherrschten, hatte er auf Dauer nicht konkurrieren können. Margaret musste schon bald begreifen, dass sie keine Chance hatte, bei einer dieser Drogerieketten ausreichend entlohnt zu werden, um ihren Lebensstandard und Eriks Studium weiterhin finanzieren zu können. Eine Fernsehdokumentation über Taxifahrer in Berlin hatte sie schließlich auf die Idee gebracht, für die Taxifahrerprüfung zu lernen, einen Kredit aufzunehmen und ein Fahrzeug zu leasen. Das Risiko, das mit einer unternehmerischen Tätigkeit verbunden gewesen war, hatte ihr zwar Herzdrücken bereitet, war ihr jedoch annehmbarer erschienen, als sich arbeitslos zu melden und dem Staat auf der Tasche zu liegen.

Die Prüfung war anspruchsvoll gewesen, aber Margaret hatte sie souverän bestanden. Schon bald genoss sie den Respekt der Taxifahrerkollegen und begann, ihren neuen Beruf zu lieben.

Als sie sich eines Nachmittags mehrere Stunden lang nicht über Funk gemeldet hatte und auch bei Einbruch der Nacht nicht an ihren Halteplatz zurückgekehrt war, wurden die Kollegen und die Mitarbeiter in der Taxi-Zentrale nervös und informierten die Polizei. Die Einsatzbeamten, die bereits von Verkehrsteilnehmern über ein Autowrack auf der Bundesstraße 8 informiert worden waren und nach der beschriebenen Stelle suchten, fanden Margrets Taxi an einem Brückenpfeiler und ihren reglosen Körper in einem nahen Gebüsch, wohin er durch die Windschutzscheibe geschleudert worden war, weil sie sich nicht angeschnallt hatte.

In der Klinik erkannten die Ärzte auf den ersten Blick, dass ihre Chancen schlecht standen. Ihr Brustkorb war eingedrückt und hatte die Lunge zerquetscht, so dass die Chirurgen jede einzelne Rippe an Silberdrähten aufhängen mussten, um das Organ zu entlasten. Sie kämpften vergeblich: Drei Tage nach dem Unfall war Margret tot.

Erik stand über Nacht vor dem Nichts.

*****

Nadja hatte zugehört, ohne Erik zu unterbrechen. Sie saßen vor ihrem zweiten Eis.

„Und jetzt?“

„Was schon? Die Studiengebühr ist bis Ende des Semesters bezahlt. Dann muss ich aussteigen. Allein kann ich das nicht stemmen.“

„Was ist mit deinem Vater? Kann er dir nicht helfen?“

Erik hatte die Augenbrauen hochgezogen. „Welcher Vater? Wie kommst du darauf?“

„Wieso? Jeder Mensch hat einen Vater.“

„Ich nicht.“

„Wie?“

„Ich kenne meinen Vater nicht. Für mich hat es nie einen gegeben.“

Nadja hatte begriffen und nicht weiter danach gefragt.

„Ich habe für mein Studium gebrannt, Nadja. Nach fünf Semestern Soziologie wusste ich, was ich später machen wollte. Psychologie draufpacken und dann in die Welt der Organisations- und Arbeitspsychologie einsteigen … das wäre total spannend geworden. Die Menschen müssen immer stärker mit Zeitmanagement, Teamarbeit und psychischen Belastungen fertig werden. Das Fach hat irre viel Zukunft. Aber für mich ist das jetzt aus und vorbei.“

„Stimmt. Riesig spannende Themen. Das war auch für mich der Grund, Soziologie zu studieren. Und deshalb sind wir uns über den Weg gelaufen und sitzen jetzt hier. Du musst weitermachen, Erik. Unbedingt.“

„Hast du mir nicht zugehört, Nadja? Ich kann es nicht aus eigener Tasche bezahlen. Die paar Kröten, die meine Mutter sparen konnte, reichen gerade mal, um noch eine Weile die Miete und meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Nach diesem Semester ist für mich Schluss. Ich muss sehen, dass ich schnellstens an Arbeit komme.“

„Ich könnte meinen Vater bitten … Er hätte Verständnis. Weißt du, um Geld musste ich mir nie Sorgen machen. Meine Eltern sind … “

Erik unterbrach sie und schüttelte energisch den Kopf. „Akademiker in den gehobenen Kreisen des vornehmen Frankfurter Westends, die ihrer Tochter jeden Wunsch erfüllen würden. Oder erfolgreiche Manager eines Industrieunternehmens. Vergiss es, Nadja. Ich will von niemandem abhängig sein. Ich muss selbst meinen Weg finden.“

„Sie sind beide Zahnärzte, und Papa praktiziert außerdem als Kieferchirurg. Es würde ihm nichts ausmachen, einem Studenten unter die Arme zu greifen.“ Als Erik schwieg, zuckte sie die Schultern und seufzte. „Aber wie du meinst.“

Sie hatten ihre dritte Portion Eis verspeist und über zwei Stunden miteinander geplaudert, ehe sie aufbrachen und sich für ein nächstes Mal verabredeten. Von da an hatten sie sich regelmäßig getroffen, und nach wenigen Wochen waren sie ein Paar.

Als Nadja ihr Studium beendet und eine Assistenzstelle in einem Beratungsunternehmen gefunden hatte, willigte Erik ein, mit ihr in eine bezahlbare Wohnung nach Hanau zu ziehen. Über ihre junge Liebe und den harmonisch verlaufenden, sorgenfreien Alltag verblassten allmählich seine einstigen Ideale und Zukunftspläne, und er sah seine Aufgabe mehr und mehr darin, Nadja den Rücken zu stärken, indem er ihr die häuslichen Pflichten abnahm. Auch wenn sich in der letzten Zeit beim Nachsinnen über Adornos berühmten Aphorismus, es gebe kein richtiges Leben im falschen, Störgefühle meldeten, konnte er sich damit beschwichtigen, ein moderner junger Mann zu sein, der seine Identität nicht mehr an eine traditionelle, längst obsolet gewordene Männerrolle knüpfen musste.

*****

„Noch einen Württemberger?“

Erik erwachte aus seinen Gedanken, als ihm die Frau mit dem Pferdeschwanz den Teller mit den gebratenen Garnelen servierte. Er nickte: „Gerne.“

Als ihm der köstliche Duft der warmen Speise vom Teller in die Nase stieg, spürte er, wie ausgehungert er war, und augenblicklich machte er sich über seine Mahlzeit her.

„Das ist ein außergewöhnlich hübsches Kleid. Die Farbe ist faszinierend. Eine Augenweide.“

Erik schaute von seinem Teller auf. Die Frau am Nebentisch, in deren Stimme etwas nachklang, das ihn an das volltönende und zugleich zarte Spiel einer Harfe denken ließ, hatte weit auseinanderstehende, graugrüne Augen. Er folgte ihrem Blick auf Nadjas Kleid, das durch die Schutzfolie schimmerte. Es war aus einem mattglänzenden Stoff, der von hellblau über türkis bis zu meergrün changierte. Erik hatte die Farbe bisher nicht bewusst wahrgenommen. Wäre er nach ihr gefragt worden, hätte er wahrscheinlich ratlos mit den Schultern gezuckt. Doch jetzt erinnerte er sich daran, einmal in einem Buch über die Symbolik von Farben gelesen zu haben, dass einige Sprachen dieser Welt nicht zwischen Blau und Grün unterscheiden, sondern darin die gleiche Farbe sehen, jedoch in unzähligen Nuancen.

Die Frau lächelte Erik zu, und er lächelte einen kurzen Moment zurück, doch lange genug, um ihre grazile Gestalt, ihren blassen Teint und die Sommersprossen auf ihrer Nase wahrzunehmen. Ihr brünettes Haar hatte einen leichten, kaum wahrnehmbaren Rotstich. Ein bisschen erinnerte sie ihn an die französische Schauspielerin Isabelle Huppert.

Als die Bedienung an den Tisch der Frau trat, um ihr das bestellte Menü zu servieren, wünschte Erik guten Appetit und wandte sich wieder seinem Teller zu. Er aß zu Ende, trank seinen Wein aus und winkte der Bedienung, dass er bezahlen wolle.

Ihm war nicht bewusst, welcher Teufel ihn ritt, als er Nadjas Kleid nahm und es über die Rückenlehne eines der freien Stühle am Tisch der Frau schwang. „Es scheint für Sie gemacht zu sein. Bestimmt sehen Sie darin fantastisch aus.“

Schnellen Schrittes, als treibe ihn die Sorge, es sich im letzten Moment anders zu überlegen und das Kleid wieder an sich zu nehmen, verließ er das Restaurant. Draußen war ihm, als habe ihm die Frau etwas hinterhergerufen, nicht laut, um kein Aufsehen zu erregen, sondern gerade noch hörbar. Doch er ignorierte es und ging weiter. Erst nach einer Weile begann er sich zu fragen, warum er ihr Nadjas Kleid nur deshalb überließ, weil es ihr gefallen hatte. Welches Recht hatte er überhaupt, über etwas zu verfügen, das nicht sein Eigentum war? Und dennoch hatte er die tiefe Überzeugung, etwas Richtiges und Sinnvolles getan zu haben. Er konnte nur keine Antwort auf die Frage finden, warum.

Und was sollte er Nadja beichten, wenn er ohne das Kleid nach Hause kam?

Wie befürchtet, lief seine Ausrede ins Leere. „Wieso haben sie mein Kleid nicht gefunden? Sie haben eine Woche Zeit gehabt, also wieso sollte es noch nicht fertig sein?“

„Es war halt nicht da. Weshalb ist gerade dieses Kleid so wichtig für dich?“

„Mein Gott, bist du wirklich so blöd? In diesem Kleid habe ich dich kennengelernt. Und ich hab’s getragen, als wir uns zum ersten Mal küssten. Weißt du das nicht mehr?“

Erik strengte seinen Kopf an, doch er hatte keinen blassen Schimmer, was Nadja trug, als er sie zum ersten Mal küsste. Eher hatte ihn beschäftigt, was unter dem Kleid dieser hinreißend schönen Studentin mit der atemberaubenden Figur zu erkunden war. Als er allmählich begriff, was ihr Herz bewegte, verspürte er Schuldgefühle. „Doch, doch, Schatz. Alles gut. Ich gehe morgen noch einmal zur Reinigung und frage nach. Vielleicht ist es ja inzwischen aufgetaucht.“

Nadja schnaubte ihn an. „Lass es. Ich gehe selbst hin. Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen. Was machst du eigentlich den ganzen Tag?“

Der Vorwurf versetzte Erik einen Stich, doch er verzichtete darauf, aufzuzählen, was er alles erledigt hatte, denn Nadja hörte seit langem nur unkonzentriert, wenn überhaupt noch zu, und schon gar nicht kam ihr ein Wort der Anerkennung über die Lippen.

Er schützte Bedauern und Mitgefühl vor, als sie von ihrer Exkursion zur Reinigung unverrichteter Dinge zurückkam: Das Kleid sei abgeholt worden, habe man ihr gesagt, aber damit habe sie sich nicht abspeisen lassen und gefordert, herauszufinden, wer es unberechtigterweise mitgenommen hat. Das könne sie wohl erwarten, denn schließlich müsse man doch durch die Folie gesehen haben, ob man das richtige oder falsche Kleidungsstück ausgehändigt bekommen hat. Man habe ihr versichert, weiter danach zu forschen und, sollte man nicht fündig werden, Schadenersatz zu leisten. Sie habe erwidert, damit sei ihr nicht gedient, denn sie hänge an dem Kleid, weil es mit Erinnerungen verknüpft sei, und wenn es nicht mehr auftauchen sollte, könne man ihr den Buckel runterrutschen, und natürlich werde sie sich dann eine andere Reinigung ihres Vertrauens suchen.

Erik war überrumpelt, als sie nach diesem Schwall der Empörung in Tränen ausbrach und sich an seine Brust warf: „Es war unser Kleid!“

Eine Welle der Zärtlichkeit überkam ihn. Er strich über Nadjas Haar, hob ihr Kinn und küsste ihr die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Gefühlsoffenheit, in die er sich während ihrer gemeinsamen Zeit an der Universität verliebt hatte, die aber seit Antritt ihrer Stelle bei dem Unternehmensberater unter ihrer Arbeitswut nach und nach verschüttet gegangen war, schien an die Oberfläche zurückzukehren. Er spürte Lust in sich aufsteigen und presste Nadja enger an sich. Wann hatten sie eigentlich zuletzt miteinander geschlafen?

Aber unvermittelt stieß sie ihn weg und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen: „Schon gut, Erik, irgendwann muss man sich mit der Realität abfinden. Ich bin ja kein Kind mehr.“

Mea culpa, dachte Erik. Wie hatte er Nadja durch eine spontane Handlung, für die er keine Erklärung hatte, derart verletzen können?

Er musste seinen Fauxpas wiedergutmachen und das Kleid unbedingt zurückholen.

Aber wie?

Die Berlinerin

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