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Kapitel drei

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Frühmorgens ging es los. Die Schwerverletzten wurden zuerst transportiert. Zunächst auf Pferdewagen Richtung Bahnhof oder Gleise, dann in die Waggons. Es waren viele. Viele, die vor Schmerzen aufschrien, wenn sie bewegt wurden. Die Pflegerinnen hatten alle Hände voll zu tun. Verbände befestigen, einige Männer legten mit Hand an. Sie würden es sonst nicht schaffen.

Natürlich hatte Eugen ein schlechtes Gewissen und fühlte sich schuldig, weil er so egoistisch war. Aber da war irgendetwas stärker in ihm. Er wollte verdammt noch mal leben und hatte diese Intuition. Er musste heim. So schrie es innerlich in ihm. Und außerdem war er jung, er wollte einfach leben. Nach vielen schockierenden Erlebnissen würde es schwer genug für ihn sein, ein normales Leben zu führen.

Die Zeit würde den Geschehnissen an Brutalität nehmen. Er würde verdrängen, kaum davon erzählen, auch weil der Mensch nun mal gern vergisst.

Nun kam er an die Reihe. Seine Verbündete bedeutete ihm, sich auf die Bahre zu legen, so wurde er auf den Wagen und dann im Waggon in sein Bett verfrachtet.

Verdun - Straßburg. Wie lange würden sie wohl unterwegs sein? Und wer würde ihn ab Straßburg beschützen? Verzweiflung stieg ihm die Brust hoch.

Langsam ruckelte der Zug Richtung Straßburg, damals wieder oder noch in deutscher Hand. Diese Perle von Stadt mit ihren eigenwilligen Bewohnern. Kein Volk wurde durch die politischen Machtkämpfe mehr herumgeworfen und getreten als die Elsässer. Der Krieg mit den Franzosen verschlechterte die Beziehungen auf allen Ebenen. Nur starke selbstbewusste Menschen wie die Elsässer konnten sich in diesem Tohuwabohu ihre Identität bewahren.

Die Elsässer wurden für ihre Freundlichkeit bewundert. Es war ihre Devise, mit den Fremden sprachen die Elsässer französisch, mit den Einheimischen elsässisch.

Nach Stunden kam der Transport endlich in Straßburg an. Überall war ein großes Treiben und viele Menschen waren unterwegs. Viele Frauen suchten unter den Verletzten ihre Männer, hatten sie doch die beschwerliche Reise nach Straßburg nicht gescheut.

Auch Linas Großmutter Elise war nach Straßburg gekommen. Sie begleitete eine Freundin aus dem Dorf, deren Mann schwer verwundet irgendwo unter den Verwundeten war. Sie wollte ihn dort besuchen und ihn mit gutem Essen versorgen. Da diese Freundin ihr Heimatdorf nie verlassen hatte, sich wohl schwerlich zurechtfinden würde und Angst vor der Reise hatte, bat sie Elise, sie zu begleiten. Elise war einfach „kaffender“, das heißt sie konnte entsprechend auftreten und mit den Leuten reden. Gern machte sie die Begleitung, gerade weil sie erfahren hatte, dass Fritz und Heiner gefallen waren. Eine Nacht hatte sie geweint, geschrien und getrauert.

Die Männer blieben im Krieg. Verzweiflung hatte sich in ihrem ganzen Sein breitgemacht, einerseits. Andererseits staunte sie über sich selbst, wie viel Lebenswillen sie hatte. Gern begleitete sie Lioba. Zumindest würde sie spüren, dass sie lebte, wenn sie all die Verletzten sah. Danach dürstete sie mit übergroßer Begierde. Das Leben wollte sie spüren, sonst nichts.

Dieses eintönige Beten war sie satt, diesen ganzen Zirkus, der von der Kirche dargeboten wurde. Sie betete für die jungen Männer im Krieg, das war keine Frage, das war des mindeste, was sie tun konnte. Aber die Predigten über Schuld und Sünde konnte sie nicht mehr hören. Nicht wenn so viele unschuldige Männer starben und viele Frauen mit ihren Kindern allein dastanden. Da erfuhr ihr Glaube die erste Erschütterung.

Elise war das, was man damals als eine gute Katholikin bezeichnete. Jeden Morgen ging sie in die Frühmesse, regelmäßig am Nachmittag zum Rosen-kranz, sonntags natürlich ins Amt und regelmäßig zur Beichte. Aber warum musste ihr Glaube mit soviel Angst, Unterdrückung und Strafe verbunden sein?

Nachdem Fritz und Heiner nicht mehr heimkehrten, wusste Elise, dass Gott nicht strafte. Die Menschen straften einander. Die spielten die Machtspiele. Gott konnte das nicht wollen. Gott musste viel größer sein weit den eigenen Horizont überschreiten. Das erste Mal bildete sie sich eine eigene Meinung über Gott. Es würde viele Erschütterungen, ihren Glauben betreffend, geben.

Was würde aus ihrem Leben? Würde sie überhaupt heiraten? Aber wen, wenn fast alle Männer im Krieg blieben. Fritz war tot, sie konnte es nicht fassen. Von den André Brüdern lebte nur noch Eugen. Wo war er? Von der Regierung war er zurückgerufen worden, denn er war der einzige, der das Weiterexistieren der Familie garantierte. Lebte er noch und hatte ihn die Nachricht erreicht? Sie hoffte es für ihn und seine Familie.

Mit diesen Gedanken begleitete sie ihre Freundin zum Bahnhof, der aussah wie ein riesiges Lazarett. Überall Verletzte und Soldaten, Tausende von Menschen, die in Bewegung waren. Elise und Lioba suchten den Verletzten Karl Meis. Es war gar nicht einfach, ihn zu finden. Auf und ab gingen sie im Bahnhof, wurden dahin und dorthin geschickt, bis sie ihn endlich nach fünfzigmal Fragen fanden.

In diesem Moment fuhr auch der Transport von Eugen im Bahnhof ein. Da er annahm, dass er nun aussteigen müsse, machte er Anstalten aufzustehen, aber die Schwester verbot ihm auszusteigen.

„Bleib liegen“, meinte sie knapp, „der Transport geht weiter über Offenburg nach Karlsruhe. Soldat, du hast mehr Glück als Verstand!“

Beide, Elise und Eugen waren zur gleichen Zeit in Straßburg und ahnten nichts voneinander. Später würden sie das beim Erzählen feststellen, darüber lachen, über die Launen des Schicksals.

Die Krankenschwester verließ in Straßburg den Zug. Ohne großes Aufsehen verabschiedete sie sich kurz, zu viele Augen schauten zu. Eugen drückte mit seiner unverbundenen Hand fest ihren Arm und blickte ihr dankbar in die Augen. Sie verstand seine Geste und sie wünschte ihm für die Zukunft alles Gute. Nie würde er sie vergessen und in tiefer Dankbarkeit mit ihr verbunden bleiben. Ja, sie war wirklich sein Schutzengel gewesen.

Froh stimmte ihn, dass es nicht mehr weit war ins Badische. Er hoffte, dass alles weitere glatt gehen würde und seine Simulanz nicht auf den letzten Metern vor seinem Heimatdorf entdeckt würde. Falls er flüchten musste, würde er sich irgendwie zu Fuß durchschlagen, egal wie.

Aber das war gar nicht nötig. Die neue Krankenschwester war von ihren Aufgaben und Pflichten dermaßen überfordert, dass sie Eugen überhaupt nicht wahrnahm, oder besser gesagt froh war, dass er nichts wollte, nichts brauchte und sich selbst versorgte und sich sogar behilflich zeigte. Ihm war es doch nur recht, wenn sie seinen Verband nicht wechselte.

Nachdem sie in Straßburg einen Aufenthalt von zwei langen Tagen gehabt hatten, ruckelte der Zug endlich weiter nach Offenburg und dann nach Karls -ruhe. Der Transport zog sich Stunde um Stunde. Ob verletzt oder unverletzt alle Mitreisenden waren abgespannt, die einen vor Schmerzen, die andern vor Langeweile. Die Schwerverletzten nicht Transportfähigen waren in Straßburg ins große Lazarett gebracht worden. Dort blieben sie bis ihr Zustand soweit gebessert hatte, dass sie weiter transportiert werden konnten.

Deshalb waren ja auch Elise und Lioba nach Straßburg gekommen. Karl konnte die Reise nach Hause noch nicht antreten. Seine Wunden waren längst noch nicht verheilt. Lioba hatte solche Angst, dass auch ihr Mann bald einer dieser Männer war, die auf Stöcken humpelnd das Bild der Nachkriegszeit prägen würde. Diese amputierten, verbitterten Männer.

Darüber hatte sie die ganze Zeit auf der Reise gegrübelt. Die beiden Frauen blieben drei Tage in Straßburg. Zunächst suchten sie sich eine günstige Unterkunft, was keine leichte Aufgabe war. So viele kamen nach Straßburg, um ihre fast toten „Krieger“ zu sehen und zu pflegen. Lioba und Elise hatten gar nicht das Geld für eine solche Reise. Aber es musste sein und deshalb ging es auch. Sie hatten das richtige Zahlungsmittel bei sich. Die Pensionen im Bahnhofsviertel waren extrem teuer. Mi den Zigarren, der anderen Währung, konnten sie sich ein Zimmer ganz in der Nähe des Bahnhofs leisten.

Lioba war gleichzeitig verzweifelt und gelöst. Ja, ihr Mann lebte, aber er war schwer verletzt. Wie schwer verletzt? Diese Frage trieb sie fast zum Wahnsinn. Wie sollen wir das alles durchstehen? Wird Karl wieder arbeiten können?

„Ach Elise, ich bin so unglaublich durcheinander. Und du hast auch noch deinen Fritz verloren. Das Schicksal so vieler Frauen hat auch dich getroffen.“

Lioba wollte ihrer Freundin beistehen, fühlte sich aber so hilflos. Was konnte sie schon sagen, nichts schien ein Trost. Elise weinte, Verzweiflung und Einsamkeit stiegen in ihr hoch. Am liebsten würde sie einfach den Löffel abgeben, nicht mehr hier sein, nicht mehr überleben. Das waren ihre tiefschwarzen Gedanken.

Die Erfahrungen hier in Straßburg hatten sie jedoch ein bisschen versöhnt mit ihrem Schicksal. Bei so viel Leid und Schmerz, wurde das Eigene relativ. Den meisten Menschen ging es ähnlich wie ihr oder sogar noch schlechter. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, aber vielleicht war es ein Segen, dass Fritz tot war.

All diese Schmerzen und Wunden, die sie ganzen Tag lang gesehen und gehört hatte, verfolgten sie bis in ihre Träume. Die Bauchschüsse, Amputationen und Kopfverletzungen, wie schrecklich diese Menschen litten. Der Gedanke, dass Fritz erlöst war von solchen grausamen Schmerzen, verwandelte ihr Wut in Gefasstheit.

Auch Elise würde ihren Töchtern nicht ganz das Ausmaß des Schmerzes und Leidens erzählen. Es war schlimm und das genügte und da der Mensch nun mal vergisst.

Lioba fühlte sich Elise gegenüber schuldig. Ihr Karl lebte, auch wenn er jetzt litt, er würde weiterleben. Sie riss ihre Freundin aus ihren Gedanken:

„Warum lebt Karl weiter und Fritz nicht?“ sie weinte.

Elise antwortete gereizt:

„Lioba, warum wissen wir nicht. Bitte belaste mich nicht mit deinem blödem Schuldgefühl.“

Elise war kurz vorm Platzen. Nein sie wollte nicht das Mitleid der andern. Mitgefühl ja, aber kein Mitleid. Sie würde dann nur in ihr eigenes Selbstmitleid fallen, und das würde ihr Leben schwer, grau und unklar gestalten. Nein es half nichts, wenn jemand ihr gegenüber Schuldgefühle hatte, wie jetzt Lioba. Die ganze Zeit hatte sie es ihr irgendwie erklären wollen, aber sie hatte die Worte nicht gefunden. Und jetzt war sie geplatzt, hatte einen emotionalen Ausfall. Lioba starrte sie völlig perplex an, wollte sich irgendwie erklären und fiel dann doch wieder in irgendwelche Schuldbekenntnisse.

„Elise, aber ich fühle mich einfach beschissen, dir gegenüber.“

„Ja, aber du hilfst mir nicht damit, im Gegenteil, du hängst mir noch dein Problem an. Und das kann ich grad gar nicht gebrauchen.“

Wie eine reinigende Dusche war der Ausbruch für Elise gewesen. Nein sie wollte nicht hängenbleiben und bitter werden. Sie war jung und die Erlebnisse in Straßburg hatten ihr gezeigt, wie wichtig es war, gerade bei all dem Leid nach vorne zu schauen und weiterzugehen.

Die beiden Frauen schauten sich in die Augen. Ihre Beziehung fühlte sich irgendwie ehrlicher an. Lioba hatte verstanden, worum es Elise ging. Kein Mitleid, Raum für Mitgefühl, keine Schuld, darauf basierten Abhängigkeiten, keine Freundschaften. Sie fühlten sich enger verbunden denn je. Natürlich hatte Elise neidvoll gedacht, warum lebt Karl und Fritz nicht? Natürlich hatte sie den Neid in sich aufsteigen gespürt. Aber hier in Straßburg hatte sie eines gelernt. Die Dinge so zu nehmen, wie sie waren.

Zum ersten Mal legte sich ein Lächeln auf Elises Gesicht und die beiden Frauen umarmten sich.

Sie blieben länger als drei Tage. Karl tat ihr Besuch sichtlich gut. Natürlich hatten sie ihm allerlei Essbares mitgebracht. Woran es auch immer liegen mochte, seine Genesung schritt doppelt so schnell voran, seit die beiden Frauen in seiner Nähe waren.

Die waren davon überzeugt, dass die Hühnersuppe, die sie ihm mitgebracht hatten, dieses Wunder bewirkt hatte.

„Die weckt Tote wieder auf“, sagte Lioba lächelnd zu Karl und flößte ihm die Suppe ein. Am Kopf trug er einen großen Verband und auch am Oberschenkel hatte er etwas abbekommen. Er hatte Glück gehabt und er würde nicht als Amputierter durchs Leben gehen müssen. Was für ein Segen.

Aber seine Kopfverletzung war heftig. Niemand wusste, welche Spuren sie hinterlassen würde. Darauf waren alle gespannt, jeder Tag war wie eine Zerreißprobe. Anfangs waren die beiden Frauen von seinem Anblick echt schockiert gewesen. Abwesend und teilnahmslos lag er da, konnte sich kaum artikulieren und wenn, dann so leise, dass sie es nicht verstanden. Aber Tag um Tag wurde es besser. Zwischen den dreien hatte sich so etwas wie eine Einheit gebildet.

Auch Karl erzählte wenig von der Brutalität auf dem Schlachtfeld. Nur einmal in einem schwachen Moment hatte er den Frauen erzählt, dass ein Franzose ihn in seinem Trichter überraschte und ihm direkt in die Augen gesehen hatte.

„Er hätte mich umbringen können, aber er hat es nicht getan. Ich weiß nicht warum. Entweder dachte er, ich sei schon hinüber oder er wollte es gar nicht so genau wissen, ob ich tot bin oder lebe.“

Denn Karl war verletzt in diesem Trichter zurückgeblieben, konnte nicht mehr zurück hinter die Frontlinie. Stundenlang hatte er so gelegen, hatte schon aufgegeben. Er wisse nicht mehr, woher er die Kraft und den Mut genommen hatte, den Rückweg anzutreten, ohne Begleitung, ohne Feuerschutz. Wahrscheinlich war er stundenlang Meter um Meter durch den Dreck und Schlamm gerobbt, hatte Stoßgebete nach oben abgegeben, dass er es schaffen würde. Ihn außerhalb des Gefechts nicht versehentlich eine Kugel treffen würde. Irgendwann sei er bewusstlos liegengeblieben, habe abgeschlossen mit seinem Leben, sich innerlich schon von seiner Frau und seinen Kindern verabschiedet in aller Traurigkeit. Gerade war er im Begriff wegzugleiten, aus seinem Körper aufzusteigen. Keine Schmerzen, kein Gefühl, nur Wonne und Leichtigkeit, nur im Sein.

Doch dann habe ihn ein Kamerad gesehen, wie er da lag im Schlamm, fast nicht erkennbar. Zu zweit schleppten sie ihn aus der Schusslinie. Karl war längst nicht mehr bei Bewusstsein. Sie brachten ihn zu den Schwerverletzten, von denen viele herumlagen, entweder bewusstlos oder vor sich hin wimmernd.

Die Ärzte und Schwestern waren von der Anzahl der Patienten und dem Ausmaß der Verletzungen, deren sie täglich Zeuge wurden, völlig überfordert. Da lag nun Karl in der Warteschlange, eigentlich schon auf der andern Seite des Daseins.

Just an diesem Tag war Nachschub gekommen, ein junger, noch energiegeladener Arzt. Ihm war klar, dass Karl an der Grenze zum Tod stand. Sofort nahm er die Operation am Kopf vor. Entfernte, was zu entfernen war, und flickte, was zu flicken war. Hätte der Arzt nicht geistesgegenwärtig gehandelt und ihn sofort operiert, Karl wäre gestorben. Was für ein Glück, er war nicht vergessen worden.

Als er nach langer, langer Zeit wieder zu sich kam, spürte er einen gewaltigen Schmerz, der sich von seiner großen Fußzehe bis oben durch den Kopf zog. Er schrie auf, ging dann über ins Jammern. Nichts und alles fühlte er, als ob er einen riesigen Kater hätte, weil er am Vortag sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte. Au! Au! Futsch! Wo oder wer oder was war er denn? Niemand war bei ihm als er erwachte, keine Schwester, niemand. Es brauchte eine Weile, bis er wusste, wo er war. Langsam öffnete er die Augen, denn er war geblendet von all dem Weiß ringsum. Er versuchte sich zu bewegen. Nichts ging. Langsam dämmerte es ihm, dass er in so was Ähnlichem wie einem Krankenhaus war, übrigens das erste Mal in seinem Leben. Niemals zuvor hatte er solches erfahren und hieß es doch bei ihm zu Hause:

„Wenn du ins Krankenhaus kommst, bist du so gut wie tot.“

Karl versuchte ruhig zu bleiben und da erfüllte ihn auch ganz sachte Freude. Ja, er lebte noch, er atmete, war wieder unter den Lebenden.

Alles war ihm egal gewesen. Nun erinnerte er sich, als ob Engel ihn abholen wollten, dorthin, wo es besser, schöner, ja paradiesisch war. Ganz leicht war er ihnen gefolgt, mit federndem Gang.

Und nun durchdrangen ihn gnadenlose Schmerzen, und auch Dankbarkeit wieder in seinem Körper zu sein. Plötzlich erfasste ihn Panik. War noch alles dran an ihm? Hatten sie ihm etwa ein Bein oder einen Arm amputiert? Genau wie Karl hatten alle dieser Kriegsgeneration die größte Angst davor, mit einem Stumpf leben zu müssen. Ganz langsam wanderten Karls Augen an sich hinunter auf seinen rechten Arm und Hand, ganz langsam unter größten Schmerzen drehte er den Kopf langsam nach links. „Oben alles dran, Gott sei Dank.“ Er atmete durch.

Wie sah es unter der Bettdecke aus? Mit größter Kraft versuchte er die Bettdecke zu heben. Oh, da war ein dicker Verband am rechten Oberschenkel. Karl blieb die Spucke weg. Obwohl er vor Schmerzen fast wieder in Ohnmacht fiel, versuchte er dieses Bein ein wenig zu heben. Er wollte sein ganzes Bein sehen und zwar bis zur großen Zehe. Tatsächlich alles war noch dran. Durch die Anstrengung kam ihm sein Bewusstsein abhanden.

Lioba hatte geweint, als Karl seine Geschichte erzählte, Elise hatte schweigend dabeigestanden. All diese Grausamkeiten zu hören, tat ihr für ihre eigene Verarbeitung ihrer Situation gut, das merkte sie. Es war wichtig für sie in Straßburg zwischen all diesen Verwundeten herumzugehen. Auch wenn sie nicht ganz frei war von den Gedanken: Warum lebt er und nicht Fritz? Warum kann mir nicht Fritz seine Geschichte erzählen? Wie ist er gestorben?

Würden Antworten auf ihre Fragen die Sache einfacher machen?

Elise ließ Lioba und Karl oft für sich und machte Spaziergänge durch Straßburg. Jeden Tag ging sie ins Münster und betrachtete diese wunderschönen Fenster. An diesem Ort fand sie Ruhe und Stille. Konnte beten und wirklich ihre Mitte in dieser großen Kirche finden. Anonymität kannte sie nicht. In Straßburg kannte sie keiner in der Kirche. Ihr folgte ihrem Bedürfnis in ein Gotteshaus zu gehen und fand endlich Frieden.

Zu Hause im Dorf war es ihr eng in der Kirche und sie fühlte sich überwacht. Der Pfarrer kontrollierte seine Gemeinde auf unterschiedliche Arten. Sein Menschenbild war alter Prägung: Der Mensch war von Grund auf schlecht und schuldig. Deshalb musste er ständig Buße tun. Das vermittelte er täglich.

Der Priester von ihrem Dorf war ehrgeiziger als andere, wollte sich mit seiner Kirchengemeinde hervortun. Er kam auf die Idee das „Ewige Gelübde“ einzuführen und er sprach es in der Gemeinde feierlich bei einer Messe aus. Sie baten Gott, dass kein junger Mann aus Dorfheim mehr „fallen“ solle. Dafür würden sie von diesem Jahr an nicht mehr Fastnacht feiern. Stattdessen verpflichtete sich die Gemeinde zur Faschingszeit Tag und Nacht durchzubeten. Tatsächlich war danach kein junger Soldat aus der Gemeinde mehr ums Leben gekommen.

Dieses Gelübde würde schwer auf ihnen lasten. In den kommenden Jahren mussten die Mütter immer dahinter her sein, dass ihre Kinder in die Kirche gingen. Sie selbst gaben sich als gutes Vorbild. Ausgerechnet Karneval, wo sie sich endlich austoben konnten, war gestrichen. In keinem Gasthaus in Dorfheim sollte getanzt und gefeiert werden. Die Eltern hielten sich daran, hatten sie die Grausamkeiten des Krieges erlebt und in frischer Erinnerung. Außerdem fühlten sie sich noch schuldig an diesem Krieg und taten ihre Buße allzu gern.

Mit der jüngeren Generation sah das anders aus. Die jungen Leute hatten es satt, solche schweren Lasten zu tragen. Der Druck von zu Hause war groß. Dorfheim hatte sich immer mit strenger Kirchenpolitik den anderen Gemeinden gegenüber hervorgetan. Heimlich verfluchten sie den Pfarrer, der ein solches Gelübde ausgesprochen hatte.

Die jungen Menschen waren pfiffig mit ihrem Lebenshunger. In der Zeit, in der die immerwährenden Gebetsstunden abgehalten wurden gingen sie in die Kirche. Unter ihren Mänteln trugen sie ihre Faschingskostüme, denn nach der Kirche gingen sie direkt in die Nachbarorte und feierten dort. Sie organisierten sich in Gruppen und zogen später in kleine Gruppen, damit es nicht auffiele los.

Auch Elises Töchter würden zu ihrem Verdruss, feiern gehen. Elise wollte, obwohl sie die Enge spürte, eine gute Katholikin sein, deshalb sollten ihre Kinder auf Karneval verzichten. Aber sie taten es nicht, wie alle anderen auch. Darüber würde Elise immer missmutig sein an Fastnacht.

Ihr Vater dagegen würde seine Töchter verstehen. Ihm war bewusst, was man den jungen Leuten lange Jahre nach dem Krieg zumutete.

Eugen lächelte über seine Töchter und sagte:

„Mir gefällt es, wenn sich Frauen schön machen und rote Lippe haben.“

Er verstand sie in diesen Dingen so viel besser, gönnte ihnen ihren Lebensdurst und freute sich, wenn sie sich vergnügten.

Der Pfarrer setzte seine volle Autorität ein, um seine Gläubigen noch mehr zu binden an einen lustfeindlichen Glauben. Lange Jahre würden das Gelübde aufrechterhalten werden bis es ungefähr 15 Jahre später einschlafen würde. Niemand würde mehr kommen, außer wenige, meist alte Frauen.

Elise saß im Münster, wusste von alledem noch nichts, bemerkte nur wie viel freier sie sich hier in der Kirche fühlte. Sie wusste nicht, dass sie, obwohl sie selbst unter der Strenge der Katholiken litt, streng mit ihren Töchtern sein würde.

Sie betete in Straßburg im Münster und bat Gott, dass er ihr einen anderen Mann schicken solle. Für Mann und Kind da sein, eine eigene Familie haben, das wollte sie.

Sie hatte Angst. Es gab kaum noch heiratsfähige Männer. Sie wusste, dass von nun an viel Neid unter den Frauen sein würde und eine leichte Panik stieg in ihr hoch.

Und wer wollte sie heiraten? Sie hatte keine Ahnung, ihr Dorf war klein und überschaubar. Fritz gab es nicht mehr.

Im Münster zu Straßburg betete Elise aufs inständigste und immer wieder, dass Gott ihr eine guten Mann schicken solle.

Sie versprach immer eine gute Katholikin und gute Kirchgängerin zu bleiben. Dieses Versprechen hielt sie bis an ihr Lebensende.

Linas Großmutter war ein einziges Mal im Elsass, sie würde oft dorthin reisen und ihre Erfahrungen mit ihnen machen.

Es war durchaus am Besten als Deutsche mit ihnen französisch zu reden. So stand es zumindest in Linas Reiseführer. Sie machte auf ihren Reisen durchs Elsass ganz andere Erfahrungen. Lina sprach Badisch und dieser Dialekt war sozusagen mit dem Elsässisch kompatibel. Wer konnte schon auf Reisen seinen Dialekt sprechen und dann auch noch verstanden werden im Ausland? Lina fand das berauschend. Menschliche Erfahrungen konnten nicht alle im Reiseführer berücksichtigt werden. Woher sollte der Autor denn wissen, dass Lina einen badischen Dialekt sprach, der ihr es auch leichter machte, die Schweizer zu verstehen?

Lina beobachtete, dass die Elsässer mit Leichtigkeit ihre Zweisprachigkeit lebten, und wenn sie nach den beiden Weltkriegen von der Zentrale Paris auch stiefmütterlich behandelt wurden, und die Regierung nicht auf die Bedürfnisse der Menschen dieser Region einging, ja sie sogar als dumm darstellte. So verstanden es diese Menschen, sich ihre eigene Identität zu erschaffen und einfach so zu sein wie sie waren.

Lina genoss den Geruch von Sauerkraut, liebte den Münsterkäse, die blumenreichen Dörfer und vor allem die Vogesen.

Später sollte sie die Vogesen zu ihrer zweiten Heimat erklären. Regelmäßig würde sie sich in einer netten Auberge einmieten, lange Wanderungen unternehmen und sich mit Kultur und Geschichte des Elsass beschäftigen.

Die Patronin des Elsass, die Sainte Odile, würde sie besonders in ihren Bann ziehen, der nach ihr benannte Berg, das ewige Gebet, die Pilger, die Quelle, das heilige Wasser und vor allem die rätselhafte Heidenmauer rund um den Berg. Wer genau hatte sie nun wirklich gebaut und aus welchem Grund? Lina las alle Bücher darüber und letztendlich war sie verwirrter denn je.

Ja mittlerweile fühlte sich Lina überall wohl, fühlte sich weniger schuldig eine Deutsche zu sein. Lange hatte sie darüber nachgedacht, dass die Deutschen durch die Schwere ihrer Geschichte diese Schuld nicht ablegen konnten.

Aber durch Kontakte aus aller Welt hatte sie die Erfahrung gemacht, dass diese Menschen gar nicht wollten, dass sie sich als Deutsche schuldig fühlte.

„Das macht dich doch weiterhin zum Opfer und die übernehmen weiterhin keine Verantwortung und das ist gefährlich. Denn genau auf solchem Boden können Diktatoren agieren!“, hatte ein Amerikaner mit ihr argumentiert und fuhr fort.

„Weißt du, was kürzlich ein Indianer zu mir gesagt hat? Du kennst die Geschichte, du weißt wie viele Indianer von den Weißen umgebracht wurden. Er sagte, wir wollen nicht, dass ihr euch schuldig fühlt. Wir wollen euer Mitleid nicht. Das ist keine Lösung für uns. Wir wollen hier in Ruhe leben und zwar so, wie wir das wollen. Das ist alles. Wir wollen nicht mehr in den alten Wunden herumstochern. Wir haben gelernt aus unserem Schicksal, und wenn ihr das auch tut, dann war es nicht umsonst.“

Es hatte eine Weile gedauert, bis Lina verstanden hatte, was der Mann gemeint hatte. Auf dem Odilienberg tankte sie auf ihren Spaziergängen auf und ließ alle Unsicherheit und Negativität von sich abfallen. An der Heidemauer spürte sie die Kraft und ließ sie in sich hineinfließen.

Oft dachte sie an ihren Großvater Eugen, der gar nicht weit von hier entfernt gekämpft hatte. Aber er hatte Glück gehabt und war lebend heimgekehrt, eine abenteuerliche Geschichte damals.

Tabaksliebe

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