Читать книгу Wolken, Wind und Islandpferde - Ингер Фриманссон - Страница 9

6

Оглавление

Am nächsten Morgen sagte Heli, sie sei krank.

Mama fühlte ihre Stirn.

„Du hast aber kein Fieber.“

„Ich hab Bauchschmerzen”, sagte Heli und drückte das Gesicht ins Kissen.

Mama umarmte sie. „Vielleicht ist es jetzt so weit bei dir. Hast du gesehen, ob schon Blut gekommen ist?“

„Nein.“

„Trotzdem ist es jetzt wohl so weit. Ich war damals zwölfeinhalb. Bleib heute im Bett und ruh dich aus. Das schadet nichts. Ich mache dir eine Wärmflasche, die kannst du dir auf den Bauch legen. Wärme lindert.“

Heli hatte wirklich Bauchschmerzen, aber nur, weil sie an Liza dachte. Nicht von etwas anderem.

Sie hörte, dass Putte hereinkam. Sie hörte seine heisere kleine Kinderstimme.

„Bist du krank, Heli?“

„Ja.“

„Soll ich dir meine Legoteile leihen?“

„Nein, aber vielen Dank.“

Mama brachte ihr die Wärmflasche und eine halb volle Schachtel Halspastillen. „Ich hab nur noch diese. Nimm sie. Und wenn du Hunger kriegst, kannst du dir den Makkaroniauflauf in der Mikrowelle aufwärmen. Küsschen, wir müssen jetzt gehen. Zieh die Jacke an, Putte.“

Es wurde ganz still in der Wohnung, abgesehen von den üblichen Geräuschen. Wenn jemand im Haus die Wasserspülung betätigte. Oder wenn die Zwillinge in der Nachbarwohnung Musik spielten.

Die Zwillinge waren zwei Jahre älter als Heli. Sie gingen in die Achte. Sie hatten sich die Haare schwarz gefärbt und trugen Ringe in den Ohren. Max und Morten hießen sie, das wusste Heli, aber sie kannte sie nicht. Und die beiden grüßten sie nie. Entweder, weil sie nicht wussten, wer sie war, oder weil sie es wussten. Denn Helis Mutter hatte mehrere Male drüben angerufen und sich über die laute Musik beschwert.

Heli fand die Musik nicht störend, sie war fast wie Gesellschaft. Abends, bevor sie einschlief, stellte sie sich vor, sie wäre mit Max und Morten dort drüben und sie hörten zusammen Musik, und ihre Mutter brächte ihnen auf einem Tablett Coca-Cola und Kokosbällchen. Die Mutter der beiden kannte sie vom Sehen, sie war klein und hübsch, duftete nach Parfum und hatte silbernen Lidschatten auf den Augenlidern. Genau so wollte Heli aussehen, wenn sie erwachsen war. Na ja, zu einem Pferdejob passte das wohl nicht so gut, aber abends, wenn sie mit der Arbeit fertig war, dann könnte sie aussehen wie die Mutter der Zwillinge.

Im Augenblick war die Musik auf der anderen Seite der Wand besonders laut. Dann wurde es jäh still. Heli hörte das Geräusch einer Tür und schnelle Schritte die Treppe hinunter. Die Jungen gingen zur Schule, sie schienen es eilig zu haben. Heli hatte die beiden noch nie langsam wie normale Leute gehen sehen.

Heli holte das Buch hervor, das sie gerade las. Es handelte von einem Mädchen, das sich mit einem Wildpferd anfreundete. Sie hatte es spannend gefunden, aber jetzt fand sie nicht den rechten Einstieg. Jedes Mal, wenn sie eine Seite umblätterte, merkte sie, dass sie keine Ahnung hatte, was sie gelesen hatte.

Der Gedanke an Liza war wie ein nagender, brennender Schmerz. Liza wusste jetzt, dass Heli reiten gewesen war. Liza wusste, dass sie gelogen hatte.

Liza war dabei, einiges von dem, was nur Heli gehörte, aufzubrechen – ihren geheimen Schutz und ihre Mauer gegen alle Schwierigkeiten und Probleme der Welt.

Die Bauchschmerzen kamen doch nicht nur von all dem, was ihr Unbehagen bereitete. Sie merkte es, als sie aus dem Bad kam. Sie hatte ihre Tage bekommen. Die Entdeckung ließ sie in Tränen ausbrechen. Gleichzeitig spürte sie vorsichtigen Stolz. Jetzt gehörte sie zu den Mädchen in der Klasse, die den ersten Schritt in die Welt der Erwachsenen getan hatten.

Sie betrachtete ihr schmales, mageres Gesicht im Spiegel, die ungekämmten Haare, die kleinen hellen Augen. Eine leichte Röte breitete sich über ihr Gesicht aus. „Heli Hämäläinen“, flüsterte sie.

Ein schöner Name war das nicht. Heli – das klang fast wie ein Fluch. Jedenfalls wenn man ihn aussprach, wie Mama das tat und wie man ihn eigentlich aussprechen sollte: Helli. Die meisten sagten Heeeli.

Abends kam Ralf wieder zu Mama. Er war groß und ein bisschen schwerfällig und kriegte einen Bauch. Heli dachte, das kommt vom vielen Essen. Wenn er diesen Bauch nicht hätte, wäre er auch beweglicher. Jetzt schaffte er nichts anderes, als aufgeblasen vorm Fernseher zu sitzen.

„Was gibt’s zu Mittag?“, pflegte er zu fragen, wenn er kam. Und mitten in einem Fernsehprogramm konnte er anfangen zu jammern und zu seufzen, dass er Appetit auf etwas Gutes hatte. Dann musste Mama aufstehen und in die Küche gehen und ihm etwas aus dem Tiefkühlfach holen.

Zu Heli und Putte war er immer freundlich, trotzdem mochte ihn Heli nicht. Sie fand, dass er sich bei ihnen einzuschmeicheln versuchte. Als ob er es wegen Mama machte. Sie hatte das Gefühl, als ob Ralf solche Wesen wie Kinder sonst gar nicht bemerken würde.

Heute brachte er eine Tüte Bonbons mit, die er auf Helis Bett warf. In der Beziehung war er in Ordnung.

„Hab gehört, dir geht’s nicht gut“, sagte er. „Bitte schön! Teil sie mit deinem Bruder.“

„Aber erst nach dem Essen“, sagte Mama gespielt streng. Sie nahm die Schürze ab und umarmte ihn. Ihre Arme reichten kaum um seinen dicken Bauch.

Heli dachte immer häufiger an ihren Vater. Mark hieß er, Mark Hämäläinen.

Sie fragte sich, ob er in Finnland eine neue Familie hatte. Dort lebte er jetzt. Vielleicht hatten sie und Putte eine Menge finnischer Halbgeschwister.

Sie hatten nicht viel Kontakt zu ihm. Er schickte eine Glückwunschkarte, wenn sie Geburtstag hatten. Auf Helis Karte waren immer Katzenkinder in einem Korb mit Blumen, auf Puttes Autos. Und zu jedem Weihnachtsfest kam eine vorgedruckte Weihnachtskarte, auf der er nur das Wort Papa ergänzt hatte. Mit seiner spitzen, schmalen Schrift.

Oft fuhr Heli durch den Kopf: Ich möchte wissen, was er gerade in diesem Augenblick macht.

Was konnte er tun? Sie konnte sich kaum etwas anderes vorstellen, als dass er in einer leeren, ungemütlichen Wohnung saß. Sie sah nie Kinder bei ihm und auch keine neue Frau. Nur ihn. Er saß dort in einem Korbstuhl und spielte auf seiner Querflöte, spielte, bis die Nachbarn gegen die Wände hämmerten.

Dass er früher tatsächlich Flöte gespielt hatte, wusste sie. Er war gut gewesen, hatte in einem Orchester gespielt. Heli war nicht sicher, ob es Querflöte gewesen war. Aber die sah sie jedenfalls vor sich.

Sie wusste so wenig von ihm. Mama wollte nie von ihm reden. „Er ist ein abgeschlossenes Kapitel in meinem Leben“, pflegte sie zu sagen, und dann kriegte sie so einen strengen Zug um den Mund.

Irgendetwas war passiert, als Heli noch ein Baby war, etwas, das Mama sehr verletzt hatte. Papa hatte ausziehen müssen, und viele Jahre waren Mama und Heli allein gewesen.

Dann schienen sie sich aus irgendeinem Grund wieder näher gekommen zu sein. Vielleicht hatten sie beschlossen zusammenzuziehen. Dann war Putte geboren worden, Putte und Heli hatten denselben Vater.

Heli grübelte oft darüber nach, was Papa dazu getrieben hatte, ein und dieselbe Dummheit zwei Mal zu machen, sodass er wieder ausziehen musste.

Einmal, vor langer Zeit, hatte sie gefragt. Mama hatte an der Spüle gestanden und Kartoffeln geschält. Sie hatte das Kartoffelschälmesser von sich geworfen, sodass es unter die Küchenbank gefallen war.

„Er war nicht fürs Familienleben geeignet“, hatte sie gesagt. „Er hatte zu viele andere Interessen.“

„Hatte“. Als ob es ihren Vater nicht mehr gäbe.

Und es gab ihn ja auch gewissermaßen nicht mehr.

Wolken, Wind und Islandpferde

Подняться наверх