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„Väter“ – ein altertümliches Wort. „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren“ – der Rütlischwur tönt nach Mittelalter. „Väter“ – inzwischen fast ein Modewort? Ein Schweizer Philosoph, der eben noch über „Eltern“ geschrieben hat, bringt ein Buch auf den Markt über „Väter“ und nennt es „Eine moderne Heldengeschichte“.1 Geowissen druckt ein Heft mit dem einfachen Titel „Väter. Was sie so besonders macht“.2 Mein kleines Buch hieß einmal anders: „Glücksgewissen, Leidzumutung und die Liebe zu Kindern“. Da standen die Kinder im Mittelpunkt. Jetzt, in der zweiten Auflage, habe ich den Titel verändert: „Melanchthon und Luther als Väter“. Es ist noch derselbe Text. Man kann ihn immer noch als eine Liebeserklärung an Kinder lesen. Und doch sind die Väter in den Vordergrund gerückt. Ein abschließendes Kapitel beschreibt „Lebensformen der väterlichen Liebe“. Was macht das Nachdenken über Väter auf einmal so interessant? Und nun auch noch aus der Perspektive ihrer Kinder?

Über Luther und Goethe ist aus der Perspektive ihrer Frauen schon geschrieben worden. Auch über Luthers Kinder gibt es ein Buch.3 Über Melanchthon und Luther als Väter, soweit ich sehe, noch nicht. Und doch geraten die Väter immer mehr in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit. Frauen versichern, dass oft die Männer es sind, die keine Kinder wollen.

Ich denke, es ist ein Riesenschritt, wenn Männer in der Öffentlichkeit wieder als Väter erscheinen. Noch kürzlich hat Karl Barth über die Kinderwagen schiebenden Männer gespottet.4 Ja, bei Wahlkämpfen werden schon mal die Kinder mit ins Feld geführt. Aber welcher Professor zeigt sich mit Kindern? Gar mit einem Säugling? Welcher Mann definiert sich als Vater?

Damit sind wir schon mitten in der Relektüre meines Buches. Zu seinen erstaunlichsten Anekdoten gehört die Szene, wo ein ausländischer Gesandter Melanchthon besucht. Er findet ihn in seinem Arbeitszimmer, in der einen Hand ein Buch, mit der anderen eine Wiege schaukelnd. Man kann diese Szene symbolisch nehmen. Dann wird aus dem Gelehrten, der für alles Praktische zwei linke Hände hat, ein Vater, der beide Hände voll einsetzen kann, die eine für die Wissenschaft, die andere für seine Kinder. Ein ganz neues Modell, für das es nicht mehr nur geistige oder geistliche Väter gibt – als einen solchen hat etwa Paulus sich gern apostrophiert – sondern wirkliche leibliche Väter. Die Reformation hat also auch die – bisweilen völlig vergessene – Seite, dass bisher ehelos lebende Männer zu Vätern werden und als Väter in der Öffentlichkeit erscheinen!

Warum ist das in Vergessenheit geraten? Eine schwer zu beantwortende Frage. Für Luther scheint das nicht zu gelten. In den volkstümlichen Bildern aus dem 19. Jahrhundert ist er zu dem vorbildlichen Familienvater geworden, mit der Laute unter dem Weihnachtsbaum. Aber mir geht es hier nicht um die Hausväter, sondern um Professoren, die hoch angesehene öffentliche Ämter bekleiden und die doch gleichzeitig Väter sind und sich öffentlich als Väter zeigen. Nicht nur bei Luther sammeln sich Kinder, Studenten, Kollegen und hochgestellte Gäste am Tisch, sondern auch bei Melanchthon. Wer aber hat sich bisher Melanchthon wirklich als Vater vorgestellt? Dabei war er der erste von beiden, der geheiratet hat, fünf Jahre vor Luther. Nach Luthers Tod geht er in den schrecklichen Wirren des Schmalkaldischen Krieges mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter Magdalena, seiner Enkelin Katharina und dem Famulus Koch auf die Flucht – mit der Universität, die aufgelöst wird.5

Wie verändert sich ein Gelehrter, wenn er Vater wird? Melanchthon hatte für seine Wissenschaft Schlimmes befürchtet. Er wird überrascht. Seine Produktivität lässt nicht nach. Er vertritt die evangelische Sache auf dem Augsburger Reichstag. Zugleich aber wächst eine eher verborgene Seite seines Wesens. Er wird ein fürsorglicher Vater. Er leidet mit seiner unglücklich verheirateten ältesten Tochter Anna. Luther und er lernen als Väter Alltagspraktisches, von dem ihre Schulweisheit sich bisher nichts hat träumen lassen. Am meisten aber berührt mich, wie sie selbst in ihrer Traurigkeit von ihren Kindern getröstet werden. Melanchthon erinnert sich, wie die kleine Anna ihm mit ihrem Nachthemdchen die Tränen abgewischt hat. Auf beiden Seiten gibt es ein Geben und Nehmen, fürsorgliches Handeln und elementare Bedürftigkeit, Stärken und Schwächen.

Da taucht ein Bild von Vätern und Kindern auf, wie ich es bisher sonst nirgends gefunden habe. Mit Melanchthon und Luther als Vätern kündigt sich eine epochale Veränderung an, die auch unserem Suchen und Fragen nach der Rolle von Vätern wesentliche Anstöße zu geben vermag. Deshalb ist es schade, dass wir dieses Erbe bisher noch kaum zu Gesicht bekommen, geschweige denn es uns angeeignet haben. Dieter Thomä verweist zwar darauf, dass Luther sich immerhin vorstellen konnte, ein Kind zu wiegen, Windeln zu waschen, Betten zu machen, Gestank zu riechen, die Nächte durchzuwachen – und das alles gern zu tun, wenn denn das göttliche Wohlgefallen darauf ruht.6 Aber von der zärtlichen Fürsorglichkeit der beiden Väter, von ihrem leidenschaftlichen Einsatz, wo es um die Ausbildung der Kinder ging, schreibt er nichts. Gut, dass wir das jetzt nachholen können.

Schließlich sind die beiden Gelehrten als Väter durch ihre Kinder mit ganz anderen Schichten in Berührung gekommen: mit den Handwerksmeistern und den erfolgreichen Bürgern von Wittenberg – und zwar auf Augenhöhe. Das hat sie verändert. Hat es auch ihre Theologie verändert? Darüber nachzudenken wäre ein zweiter Schritt. Melanchthon jedenfalls hat in seinen Vorlesungen gern Beispiele aus dem Leben seiner Kinder angeführt. Und bei Luther haben die Kinder bei Tisch immer wieder zur Illustration von theologischen Einsichten dienen müssen.

Ich bin inzwischen in Wittenberg gewesen, habe das umsichtig erneuerte Melanchthonhaus mit seinem kühl gewordenen inneren Foyer und das Schwarze Kloster besucht und ein paar Fotos mitgebracht, die dazu helfen sollen, die Geschichte von Melanchthon und Luther als Vätern mit farbigen Innenaufnahmen auszuschmücken.

Dr. Stefan Rhein hat mir wichtige Hinweise auf Katharina Melanchthon gegeben. Diana Wegener und Peter Hoferichter haben sich viel Zeit genommen, um mich mit beiden Häusern vertraut zu machen. Und Jürgen Maria Pietsch hat mir seine Aufnahme von der Kindersegnung, die Lucas Cranach d. Ä. 1529 gemalt hat und die in St. Wenzel in Naumburg hängt, für die Titelseite zur Verfügung gestellt. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Melanchthon und Luther als Väter

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