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TILO BALLIEN Bei ihr ist noch Licht

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Gerade ist sie wieder rein. Jetzt kann ich rauchen. Ich will noch etwas warten.

Ich habe viel Zeit. Meine Arbeitslosigkeit stört mich nicht, was diesen Aspekt betrifft. Ich habe gern viel Zeit. Zum Nachdenken. Ich denke viel nach, sehr viel. Ich kann stundenlang über irgendwas grübeln. Manchmal schreibe ich auf, was ich wichtig finde. Das vernichte ich meistens, wenn ich es später wieder lese. Aber ich vergesse nie, was ich einmal gedacht und aufgeschrieben habe. Deshalb kann ich es ruhig zerreißen, weil ich es im Kopf habe. Aber das muss niemand anders lesen. Erst recht das Tagebuch nicht.

Viel Zeit zu haben kann teuer sein. Ich komme hin mit meinem Geld. Ich gehe nicht in Cafés oder in Kneipen oder ins Kino. Bier zu Hause ist billiger. Und mehr Kino als die Glotze bieten die Filmpaläste auch nicht. Und die Videotheken sind doch echt billig. Ich weiß gar nicht, wie die überleben. Zu Hause habe ich jedenfalls keinen Popcorngestank in der Nase wie im Kino und muss nicht zusehen, wie Pärchen miteinander knutschen. Die kriegen vom Film oft gar nichts mit. Ich bin allein. Eigentlich immer. Beim Videogucken kann ich machen, was ich will. Ich ziehe die Vorhänge zu und bin ganz für mich.

Was ich sagen will: Ich hätte an diesem bestimmten Tag nie und nimmer überlegt, ob ich nicht trotz der damit verbundenen Kosten reingehen soll, wenn es plötzlich nicht wie verrückt angefangen hätte zu regnen. Der Himmel war aschgrau und die Atmosphäre schwer. Man fühlte sich wie unter einer umgedrehten alten Zinkbadewanne. Im Radio hatten sie zwar gesagt, die Sonne würde den ganzen Tag nicht scheinen, aber von Regen war keine Rede gewesen. Deshalb hatte ich den Schirm zu Hause gelassen. Pech. Oder auch nicht. Denn hätte ich einen Schirm gehabt, wäre ich ihr vermutlich nie begegnet. Das war also geradezu schicksalhaft. Irgendwie.

Natürlich hätte es auch jemand völlig anderes sein können als gerade sie. Daran habe ich schon manchmal gedacht. Sie verließ das Café, als ich mich unter dem Vordach unterstellen wollte, um mich vor dem Regen zu schützen oder, wie gesagt, vielleicht sogar reinzugehen. Sie warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel. Ihre Augen waren groß und dunkel. Ich bin ihr nachgegangen, ganz spontan. Ich bin schon manchmal Leuten nachgegangen, einfach so. Mal gucken, was sie so machen. Aber die meisten machen nichts. Ich meine, nichts Besonderes oder Aufregendes. Die meisten gehen nach Hause oder verschwinden jedenfalls in irgendwelchen Häusern, und ab diesem Zeitpunkt sind sie einfach weg. Da kann man ewig warten. Sie bleiben, wo sie sind. Stinklangweilig. In die meisten Häuser kann man ja nicht reinsehen, wenigstens nicht in die oberen Stockwerke.

Sie rannte unter dem Regen hindurch in das Kaufhaus zwei Häuser weiter. Dort ist sie dann nur herumgeschlendert und hat sich Sachen angesehen. In der Abteilung für Damenwäsche ist sie lange geblieben. Da konnte ich sie nur aus sicherer Entfernung beobachten, damit keiner denkt: Was macht der Kerl da in der Dessous-Abteilung? Würde ja niemand glauben, wenn ich sagte: Ich guck mir was für meine Alte an. Ich fragte mich, ob sie solche Sachen trägt wie die, die sie sich anschaut, so ganz zarte Teile. Sie hat aber nichts gekauft. Ich dachte, wahrscheinlich hatte sie auch einfach keinen Schirm dabei und wollte nur den Regenguss abwarten.

Als der Regen vorüber war, ist sie vom Kaufhaus zur Bushaltestelle gegangen. Ich habe die Monatskarte vom Sozialamt, also bin ich mit in den Bus. Sie hat bezahlt, also fährt sie nicht regelmäßig, schloss ich daraus. Ich bin, glaube ich, ein ganz guter Beobachter. Ich habe mich ganz hinten in die letzte Bank gesetzt, damit ich sie immer im Blick hatte. Sie wirkte müde. Einmal hat ihr Handy geklingelt, nix Ausgefallenes wie melodisches Furzen oder irgendein Popsong, wie das jetzt viele lustig finden, einfach nur Klingeling. Sie hat nur ein wenig mürrisch aufs Display geschaut und ist nicht rangegangen. Das hat mich gefreut.

Ich schätze, dass sie so neunzehn, vielleicht zwanzig ist. Genau weiß ich das nicht, müsste aber hinkommen. Während der Fahrt hat sie aus dem Fenster oder vor sich hin geschaut und manchmal mit der Hand ihr Haar geprüft. Ob es schon trocken ist. Sie ist brünett. Brünett gefällt mir am besten. Vielleicht ist deshalb alles so gekommen, wie es jetzt ist. Ich dachte, ich setze mich direkt hinter sie. Bestimmt duftet ihr Haar gut, oder vielleicht berührt mich eine Strähne, wenn ich eine Hand wie zufällig und ein bisschen lässig auf die Vorderlehne lege. Aber das habe ich dann natürlich nicht gewagt. Ich bin nicht so einer.

Die Fahrt war lang. Sie stieg erst an der Endhaltestelle aus, draußen in der Waldheimsiedlung, wo die flachen Neubauten und viele Einfamilienhäuser stehen. Ich sah ihr unauffällig nach. Es war schon dämmerig. Der Regen hatte nachgelassen, es tröpfelte nur noch ein kleines bisschen, unentschlossen und lustlos. Ich drehte mir eine Zigarette, während sich die Leute entfernten. Als sie so fünfzig Meter weit gegangen war, folgte ich ihr.

Sie ging gut zweihundert Meter in die Siedlung hinein, bis zu den Häusern, die ganz am Rand des Wäldchens stehen, hinter dem der See beginnt. Sie betrat das Haus Krähenwinkel 32, eines dieser flachen Mietshäuser für vier Parteien, die nach hinten raus unten große Terrassen und oben Balkons über die ganze Hausfront haben. Kurz danach ging ein Licht im ersten Stock an. Wahrscheinlich die Küche. Alles andere blieb dunkel.

Ich ging auf die andere Straßenseite und zündete mir die Zigarette an. Ich holte meinen Stadtplan hervor. Ich habe immer einen Stadtplan bei mir, man weiß ja nie, wohin einen der Tag führt. Ich tat, als suchte ich etwas auf dem Plan. Tat ich ja auch wirklich. Wann ist man schon mal hier draußen? Ich musste mich erst ein wenig orientieren. Dann ging ich zur nächsten Ecke, wo der Krähenwinkel schon fast an den See stößt und der Fischerweg links abbiegt.

Rechts beginnt der Wald. Da ist nur so eine Art Trampelpfad, den wahrscheinlich Kinder beim Spielen ausgetreten haben. Ich folgte ihm, schlug mich dann rechts in die Büsche, stieg den kleinen Abhang hoch und war bald auf der Rückseite vom Krähenwinkel 32. Ich hatte die Häuser genau abgezählt. Die Ecke ist die 38. Bei ihr war alles dunkel. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende, ohne den Blick von ihren Fenstern zu nehmen, ein normal großes, und zum Balkon hin ein breites mit der Balkontür daneben. Alles ohne Gardinen.

Ich wartete. Geduld ist eine meiner Stärken. Ich habe Zeit. Irgendwann ging das Licht an. Sie trug jetzt keinen Mantel mehr, nur Rock und Pullover. Ich sah, dass sie schlank war, nicht zu sehr, aber auch nicht pummelig. Viele Möbel konnte ich nicht erkennen, obwohl ich gute Sicht hatte. Das lag am Blickwinkel leicht von schräg unten. Der Balkon stört nicht groß, weil er nur ein dünnes Gitter hat. Trotzdem schade, dass der Hügel nicht höher ist, auf dem ich stehe. Wahrscheinlich hat man ihn nur als Lärmschutz angelegt wegen der Autobahn, die auf der anderen Seite nicht weit entfernt verläuft. Hier sind nur Büsche, nichts zum Raufklettern. Also kommt man nicht höher.

Ich erkannte ein Regal mit vielen Büchern und einem blauen Plüschtier, eines von diesen billigen Viechern, die man auf dem Rummel an der Losbude bekommt, wenn man Pech hat, oder wenn man mit drei Würfen alle Büchsen vom Brett schmeißt. Bestimmt hat sie das mal geschenkt bekommen und traut sich nicht, es wegzuschmeißen, falls der mal kommt, der ihr das geschenkt hat und fragt, wo sie es denn hat.

Sie legte ihre Handtasche ab, vermutlich auf einen Sessel oder so was. Sie stellte den CD-Player an, der im Regal zwischen den Büchern steht. Aber hören konnte ich natürlich nichts. Ich drehte mir eine neue Zigarette, aber ich wurde damit nicht fertig, weil etwas geschah, worauf man immer hofft, was aber ganz selten eintritt.

Sie zog ihren Pullover aus. Sie hatte sehr helle Haut. Ich wünschte, sie hätte länger so gestanden, den Pulli in der einen Hand und mit der anderen sich durch das Haar fahrend. Das Haar wurde dadurch nicht ordentlicher, eher wilder. Das sah gut aus. Ich dachte einen Moment lang, das macht sie für mich, aber das ist natürlich Quatsch. Sie wusste ja gar nichts von mir. Sie schien etwas zu überlegen und sich nicht schlüssig zu werden.

Dann legte sie den Pullover ab, wahrscheinlich auf dem Sessel, wo schon ihre Handtasche war, und zog ihren weißen BH aus. Ich musste ganz schön schlucken, dabei machte sie das ganz sachlich, hinten aufhaken, den einen Arm durch den Träger und, schwupps, den anderen. Fertig. Ihre Brüste sind klein. Sie würden leicht in meine hohle Hand passen. Das ist wie füreinander gemacht, so eine Frauenbrust und eine leicht gewölbte Männerhand. Das hat die Natur so eingerichtet, dass alles zusammenpasst. Und fest sind ihre Brüste bestimmt auch, jedenfalls bewegten sie sich kaum, als sie sich vorbeugte, um den BH wegzulegen. Ich kann das beurteilen, ich gehe im Sommer viel ins Freibad. Ich bin, kann man sagen, ein Kenner.

Sie nahm aus ihrer Tasche einen dunkelroten BH, an dem noch das Preisschild baumelte. Da war ich echt verblüfft. So eine! Ich bin wirklich ein guter Beobachter, aber ich hatte im Kaufhaus nichts bemerkt. Ob sie da Routine hat? Bestimmt, dachte ich. Eine, die nicht oft klaut, ist so nervös, dass sie gleich auffällt. Da muss man ganz cool bleiben, ganz gleichgültig wirken, so als habe man überhaupt kein Interesse an irgendwas. Ich meine, so mache ich das ja auch, wenn ich mal Leuten hinterhergehe. Das fällt keinem Schwein auf.

Sie zog den BH an, aber nicht wie in den Videos. Sie machte den Verschluss vorne vor dem Bauch zu, drehte das Teil nach hinten und schlüpfte mit den Armen durch die Träger. Dann erst zog sie ihn richtig hoch und verstaute ihre kleinen Brüste in den Körbchen. So machen das die Frauen nämlich in Wirklichkeit! Einfach so, ohne großes Brimborium. Da lügen die Filme. Dabei ist das so doch viel aufregender, eben weil sie es so selbstverständlich macht, als wäre nix dabei. Für sie ist ja auch nix dabei, und sie kann ja nicht ahnen, wie aufregend das für einen Mann ist, der zuguckt. Da ist sie ganz unschuldig, da kann sie nix für. Das kann ihr keiner vorwerfen.

Sie drehte sich um und guckte über die Schulter, wahrscheinlich zu einem Spiegel, den ich nicht sehen konnte. Richtige Tanzschritte machte sie, ganz kleine, zierliche, auf der Stelle, vielleicht zu der Musik aus dem Radio, die ich nicht hören konnte. Nach einer Weile hörte sie auf zu tanzen. Sie nahm von irgendwo eine kleine Schere und schnitt das Preisschild ab, ohne den BH dafür auszuziehen. Aber ich war nicht enttäuscht. Ich war so fasziniert, dass ich kaum bemerkte, dass mir Papier und Tabakkrümel einfach aus der Hand gefallen waren. Scheiß auf die Zigarette!

Sie zog ihren dunklen Rock aus. Der Reißverschluss war links an der Seite, nicht hinten. Sie ging in eine Ecke und kam mit einer hellen Hose wieder an dieselbe Stelle, wo sie vorher gestanden und getanzt hatte. Wahrscheinlich ist das der beste Fleck im Zimmer, wo sie sich gut im Spiegel sehen kann. Sie trug einen weißen Tanga, so eine Art Nichts mit Spitze, ein winziges Dreieck vorne, um die Taille und hinten nur ein Faden wie Zahnseide. Im Freibad sind diese Dinger in diesem Jahr aus der Mode. Da waren die letzten Jahre besser.

Ihr Po beim Bücken, als sie in die Hose stieg! O Mann! Ich meine, im Freibad, die Mädchen wissen ja, dass alle zugucken, wenn sie sich zum Handtuch bücken, wenn sie aus dem Wasser oder von der Dusche kommen. Die wissen ganz genau, wie sie sich bewegen. Die wollen die Kerle anwichsen, ist doch klar. Aber wehe, man kommt ihnen dann wirklich zu nahe! Als ob man ein Triebtäter wäre oder so was. Einen anmachen und dann Ohrfeige, das macht den Weibern Spaß. Aber sie? Sie hatte doch keine Ahnung, dass ihr jemand zuschaut. Und trotzdem bewegte sie sich genau wie die Mädchen im Freibad. Sie ist einfach sexy, von Natur.

Sie probierte noch eine dunkle Hose, zog sie aber ganz schnell wieder aus und stieg wieder in die helle. Alles so, dass ich es ganz genau sehen konnte, nur von ein bisschen weit weg eben. Klar, das sind immerhin gut zwölf, vielleicht fünfzehn Meter von hier bis ins Zimmer. Jedesmal, wenn sie den Reißverschluss hochzog, stieg sie auf die Zehen und zog den Bauch ein. Dabei ist sie doch schlank. Ob sie Sport treibt? Ich glaube, ihr Bauch muss ganz weich sein. Nachgiebig und doch auch fest und glatt wie Seide.

Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Sie streifte eine hellblaue Bluse über, knöpfte sie flink zu, zog dunkelgelbe Gardinen vor das breite Fenster und die Balkontür, und gleich darauf ging das Licht aus. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und der Regen setzte ganz leicht wieder ein. Alles blieb dunkel. Es war still im Wald. Das war schön, so allein im dunklen Wald. Der Niesel machte kaum Geräusch auf den Blättern. Ich war wie benommen, aber auch irgendwie glücklich. Ich nahm den letzten Bus in die Stadt.

Das war im vorigen Herbst, am 21. September, um genau zu sein. Das hätte ich mir nicht aufzuschreiben brauchen, das hätte ich mir auch so gemerkt. Aber ich habe alles aufgeschrieben. Ein Tagebuch, ihr Tagebuch könnte man sagen, auch wenn sie nichts davon weiß. Ich sag mal: unser Tagebuch. Aber davon wird sie nie erfahren. Ich meine, ich zerreiße alles, was ich da reinschreibe, nach ein paar Tagen, damit es niemand findet. Aber dann habe ich schon alles im Kopf und kann es von Anfang bis Ende abrufen. Das ist aufregend, jedesmal neu, obwohl ich alles in- und auswendig kenne. Das ist wie bei den Videos oder DVDs, die ich immer wieder gucken kann, obwohl ich genau weiß, was im nächsten Moment passiert. Da kann man sich dann schon vorher drauf freuen. Früher habe ich manchmal schnell vorgespult, um an die richtigen Stellen zu kommen, so wie man sich in Büchern die richtigen Stellen sucht. Aber dann kriegt man den Film oder die Geschichte gar nicht als Ganzes richtig mit, eben nur die Stellen. Vielleicht weil der Film oder das Buch als Ganzes uninteressant sind, nur eben die bestimmten Stellen nicht. Das Tagebuch wiederhole ich mir immer ganz genau, Wort für Wort, aber manchmal ändere ich auch etwas, das mir nicht mehr so gefällt. Dann wird es noch aufregender.

Ich habe mir nach dem nächsten Ersten ein Fernglas gekauft, so ein kleines, lichtstarkes für die Jackentasche. Das ist gut. Ich bin ihr dann einfach näher, fast als wäre ich im Zimmer, nur der Ton fehlt. Eine gute Videokamera müsste man sich leisten können, aber die ist nicht drin. Außerdem bin ich nicht sicher, ob das wirklich so toll wäre. Ich finde, so mit Aufschreiben und abends wieder lesen, auswendig lernen und dann davon träumen und alles noch ein bisschen ausschmücken, das ist besser.

Überhaupt bin ich richtig professionell geworden, um es mal so zu sagen. Ich habe mir dunkle Klamotten besorgt, die stehen mir sowieso gut. Ich gehe immer einen etwas anderen Weg zu meinem Posten am Hang, damit ich keinen Trampelpfad zwischen den Holunderbüschen austrete. Meistens sowieso von der Autobahnseite her, da sieht mich erst recht keiner. Ich verstecke die Glut meiner Zigarette in der hohlen Hand, selbst wenn ich irgendwo anders bin, so sehr ist mir das in Fleisch und Blut übergegangen. Ich weiß längst, wann die Kinder aus den Nachbarhäusern abends nach Hause müssen. Sie bekommen mich nicht zu sehen, aber ich weiß eine Menge über sie. Sie spielen gern in den Büschen, manchmal finde ich da Spielsachen von ihnen. Die lege ich dann auf meinem Heimweg unten an die Straße, damit sie sie finden und nicht in den Büschen danach suchen. Ich sammle meine Kippen immer sorgfältig ein, damit sie nichts spitzkriegen. Kinder sind schlauer, als man denkt. Außerdem würde das viele Nikotin den Büschen bestimmt schaden, wenn es durch den Regen ins Erdreich käme, könnte ich mir vorstellen.

So viel Glück wie am ersten Abend hatte ich bisher nicht wieder, aber irgendwas ist immer. Ich hab sie schon im Nachthemd gesehen oder wieder nur in Unterwäsche, alles so was, aber meistens sind das nur so Kleinigkeiten. Die würden niemand was bedeuten. Mir schon. Ich bin einfach froh, sie zu sehen, wie sie sich in ihrer kleinen Wohnung bewegt, sich ihr Abendbrot auf einem kleinen Tablett reinbringt, solche Sachen. Sie isst mit dem Tablett auf den Knien und sieht dabei die Tagesschau oder einen Vorabendkrimi. Wie Prinzessin Diana. Die hat auch mit dem Tablett auf den Knien ferngesehen, habe ich mal gelesen. Sie geht fast nie spät ins Bett, ich kriege immer noch den letzten Bus.

Sie heißt Kerstin Schmalstieg. Das steht am Klingelschild. Sie arbeitet in einer Rechtsanwalts- und Notariatskanzlei ganz in der Nähe vom Amtsgericht. Freitags geht sie manchmal mit ein, zwei Freundinnen oder Kolleginnen nach der Arbeit ins Café Döhring. Dann sind sie sehr albern und lachen fast die ganze Zeit. Ich sehe das von draußen, weil ich mich nicht an einen Nebentisch setzen will, um zu lauschen. Das macht man nicht. Außerdem will ich nicht, dass sie mich bemerkt. Ich meine, bis jetzt hat sie mich nicht bemerkt – aber wenn sie mich bemerkt, also wenn sie irgendwie Verdacht schöpft, dann ist doch alles aus, oder? Dann zieht sie die Vorhänge zu. Ist doch klar. Ich meine, ich will ihr nichts Böses, echt nicht, ich will sie doch nur sehen und von ihr träumen. Ihr einfach ein bisschen nah sein. Aber sie würde sicher die Vorhänge zuziehen, das ist klar.

Einen festen Freund hat sie nicht. Darüber bin ich einerseits froh, andererseits auch nicht. Mit ihren Freundinnen geht Kerstin samstags in Discos, meistens ins »Downstairs«. Da gehe ich nicht mit rein, weil die einen horrenden Eintritt verlangen. Ich würde sie gern tanzen sehen, so richtig wild und ausgelassen, dass die Haare fliegen und sie ihre Bluse durchschwitzt, nicht nur so ganz verhalten wie am 21. September vorm Spiegel, obwohl das auch ganz irre war, so anmutig, so in sich versunken. Also, sie mal richtig wild zu sehen, das wäre schon was, aber ich kann da nicht reingehen, nicht nur wegen dem Eintritt, sondern weil es mich verrückt machen würde, wenn sie da mit anderen Kerlen tanzt und die mit ihr flirten und so.

Weil manchmal bringt sie in ihrem grünen Fiesta einen Kerl aus dem »Downstairs« mit nach Hause. Ich habe dann längst Posten bezogen, obwohl man nie weiß, wie lange man warten muss. Meistens ist der letzte Bus dann schon weg, und ich muss mit dem ersten am Morgen fahren, aber ich warte trotzdem immer. Ich bin treu. Sie hat noch nie zweimal denselben mitgebracht. Sie ist keinem treu. Ich meine, das ist doch leichtsinnig. Sogar gefährlich. Aber für mich lässt das andererseits alles offen, oder? Denn wenn sie einen festen Freund hätte, so eine richtig gute Beziehung, das wäre auch schlecht. Ich meine, für mich. Dann könnte ich mir gar nichts mehr ausrechnen, oder?

Sie zieht die Vorhänge zu, wenn sie einen dabeihat. Das tut sie sonst nie. Ich bin dann sehr eifersüchtig. Richtig unglücklich. Und gleichzeitig macht mich der Gedanke ganz geil, dass die beiden da oben hinter den Vorhängen sind und was sie so machen miteinander. Das Licht macht sie in solchen Nächten sofort aus, so als wollte sie den Kerl gar nicht sehen, den sie dahat. Ich meine, klar, Kerstin ist von Natur aus sexy, sie braucht das ab und an, wer nicht? Und von mir weiß sie ja nichts. Da kann ich ihr echt keinen Vorwurf machen, aber verrückt macht es mich trotzdem, wo ich doch der Kerl sein könnte, wenn sie was von mir wüsste. Aber dann müsste das Licht an bleiben. Ich will sie immer sehen. Ich liebe sie. Das Gefühl verzehrt mich. Ich liebe sie sehr. Sie ist … entzückend. Sie ist … einfach Wahnsinn.

Das mit dem Klauen hat sich übrigens nicht wiederholt. Vielleicht war das im September Anfängerglück, jedenfalls keine Routine durch Gewohnheit. Kerstin sieht wenig fern. Sie liest viel, so richtig dicke Schinken wie Ken Follett und so oder Bücher über gesunde Ernährung und Fitness. Ihr Fiesta ist alt und oft zur Reparatur. Dann fahren wir zusammen im Bus. Einmal hätte ich sie beinahe angesprochen. Aber sie hat so an mir vorbeigeguckt. Als ob ich unsichtbar wäre. Es ging einfach nicht, selbst wenn sie geguckt hätte. Was hätte ich schon sagen sollen? Hallo, Kerstin, du kennst mich nicht, aber ich kenne dich besser als deine Mutter, denn ich beobachte dich seit einem Dreivierteljahr? Aber selbst wenn mir was eingefallen wäre: Sie hat mich einfach nicht gesehen.

Manchmal denke ich wirklich, mich sieht sowieso keiner. Also mache ich ihr auch keinen Vorwurf. Das ist schon seit meiner Kindheit so, im Kindergarten, in der Schule, auch zu Hause. Mutter vor allem, die konnte alles und jeden ignorieren, wenn sie wollte. Hat einfach auf stur geschaltet und Löcher in die Luft geguckt. Selbst wenn man ihr fast ins Gesicht gekrochen ist wegen einem Lutscher oder später, ob man abends noch länger weg darf. Und Vater hat sich ihr angepasst, der arme Kerl. Ihm war alles egal, was nicht mit Sport zu tun hatte. Später hat er sich totgesoffen. Schön ist das sicher nicht, wenn man immer übersehen wird, das muss ich schon sagen, aber man kann’s überleben, ohne Schaden zu nehmen. Das sieht man ja an mir. Andererseits kein schlechter Gedanke, unsichtbar sein zu können, wenn man’s braucht. Was man dann für Möglichkeiten hätte! Aber das ist natürlich nur so eine Fantasie.

Zum Rauchen geht Kerstin auf den Balkon. Sie raucht wenig. Zwei, vielleicht drei an einem Abend. Am Sonntagmorgen auch mal gleich nach dem Frühstück und noch vor dem Duschen. Das sind Glücksmomente für mich. Oft, so wie eben gerade, ist sie dann nur im Bademantel, so einem dünnen weißen aus Plüsch, der nur bis kurz übers Knie reicht. Ich denke immer, drunter hat sie nichts an. Das zu denken macht mich unheimlich an. Ich meine, vielleicht hat sie doch etwas an unterm Bademantel, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich denke, sie hat vielleicht nichts an. Das sind so meine Lieblingsstellen im Tagebuch.

Gerade ist sie wieder rein. Wie immer, wenn es einigermaßen warm ist, lässt sie die Tür einen Spalt offen. Jetzt kann ich rauchen. Die Zigarette in der hohlen Hand, dass man die Glut nicht sieht in der Dämmerung. Einundzwanzig Uhr dreißig. Es wird bald ganz dunkel sein. Sie haut sich jetzt mit ihrem Schmöker in den Sessel, trinkt vielleicht einen Schluck Weißwein dazu. Ich sehe dann stundenlang nur ihren Haarschopf und manchmal eine wippende Fußspitze. Ich denke, dann ist sie in einer ganz anderen Welt, ganz weit weg. So wie ich in meiner ganz eigenen Welt bin, wenn ich in meinen Gedanken unser Tagebuch durchgehe und umschreibe.

Aber das ist etwas für meine einsamen Stunden, das will ich jetzt nicht tun. Unten machen sie spätestens um zehn das Licht aus, die alten Mertens gehen immer früh zu Bett. Vielleicht schaffe ich es heute, auf Kerstins Balkon zu klettern. Das hatte ich schon ein paarmal vor, habe mich aber nie wirklich getraut. Aber heute will ich. Dann werde ich ihr doch viel näher sein. Und ich denke, sie will das auch. Alle wollen jemanden, der ihnen nahe ist, nicht nur mal für eine Nacht, sondern für lange. Für immer. Aber wenigstens ab und an. Deswegen geht sie doch in die Disco, oder? Diese Scheißkerle! Wenn da auch nur ein Guter drunter gewesen wäre, wäre Kerstin schließlich auch nicht mehr allein. Ich bin ihr treu. Nur weiß sie nix davon.

Ich denke, heute kann ich es schaffen raufzuklettern. Ich muss mich nur zusammenreißen. Einmal muss es ja doch sein. Das Regenrohr ist fest, das habe ich getestet. Ich meine, ich will sie nicht erschrecken, ich doch nicht. Ich liebe sie doch. Ich werde warten, bis sie im Bett ist und das Licht ausgemacht hat. Dann noch eine halbe Stunde, um sicher zu sein, dass sie schläft. Ich will doch nur erst einmal gucken. Ich will ihr nichts tun. Ich will sie nur sehen, wie sie da in ihrem Bett liegt. Vielleicht kann ich mal ihre Wäsche in die Hand nehmen, sie riechen und befühlen. Mehr will ich doch gar nicht.

Und wenn sie wach wird? Und wenn sie schreit? Weil sie sich erschreckt, obwohl ich sie doch liebe und nicht erschrecken will? O Scheiße! Warum ist das Leben so kompliziert? Ich will nichts Böses, aber die Leute würden bestimmt sonst was denken. Ich meine, was gehen mich die Leute an? Trotzdem, ich muss ganz vorsichtig sein, ihretwegen, aber auch meinetwegen.

O Kerstin! So lange habe ich schon gewartet. Ich kann nicht mehr warten. Sonst geht etwas kaputt in mir, das weiß ich. Also werde ich nicht mehr warten. Nur noch, bis du fertig bist mit Lesen. Und dann noch eine halbe Stunde.

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