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Einleitung:
Neapel 1962

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63 n. Chr. von einem Erdbeben erschüttert und im Jahr 79 unter Vulkanasche begraben, war die antike römische Stadt Pompeji weltweit einer der ersten Schauplätze systematischer archäologischer Ausgrabungen. Weil sie außergewöhnlich gut erhalten war, bietet sie seitdem intimste Einblicke in das Leben einer altertümlichen Gesellschaft. Mit ihren intakten Straßen, Wandmalereien, Läden, Tempeln, Häusern, Gärten, Gemälden, Statuen, Mosaiken und den erschütternden Spuren der Katastrophenopfer, Menschen wie Tieren, hat die untergegangene Stadt die Fantasie ganzer Generationen von Besuchern, Lesern und Kinogängern befeuert. Das Pompeji der Vorstellung stand jedoch stets für eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort, eine spezielle Auslegung der überreichen archäologischen Zeugnisse. Daher ist die Geschichte von Pompejis Platz in der Fantasie heute so komplex und aufschlussreich wie die der Stadt selbst.

Meine eigene Geschichte mit Pompeji begann Mitte Januar 1962, als ich acht Jahre alt war und einem italienischen Ozeanriesen namens Leonardo da Vinci entstieg. Mein Vater war Chemiker, hatte ein Guggenheim-Stipendium erhalten und wollte sechs Monate in Mainz und dann zwei Monate im englischen Cambridge verbringen. Meine Eltern, mein Bruder und ich reisten jedoch via Neapel von New York nach Mainz, weil meine Eltern Italien sehen wollten: das Land von Sophia Loren, Claudia Cardinale, Marcello Mastroianni, Espresso, Leonardo – und Pompeji. Wir nahmen ein Auto mit an Bord: einen kistenförmigen roten Ford Falcon mit großem Chromkühlergrill, der (ebenso wie seine groß gewachsenen Insassen) auf der ganzen italienischen Halbinsel Menschenmengen anzog. Ich hatte mich bereits verliebt in den italienischen Akzent („Abend-ä-essen wirdä jetzä servierddä“), die neue Sprache, das Essen. Nach einer Nacht in Neapel in dem gepflegten, Sixties-modernen Hotel Mediterraneo nahmen wir die neue Autostrada del Sole nach Pompeji und erreichten mit unserem auffälligen Gefährt den Haupteingang Porta Marina. Beim Aussteigen umdrängte uns eine Schar Frauen, die an Gurten um den Hals Holzkisten trugen, in denen sich Modeschmuck, Kaugummi und Zigaretten stapelten. Sie baten meine Mutter um ein paar ihrer amerikanischen Zigaretten; Italiener bekamen damals nur ihre regierungsamtlichen Marken zu rauchen. Wie sich herausstellte, war das Gelände wegen des allwöchentlichen „riposo“ geschlossen, und meine Eltern, genervt von all den stämmigen, beharrlichen Frauen, zogen meinen Bruder und mich über die Straße in die Lobby des Hotels Vittoria. Dort sagte man uns am Empfang, Herculaneum sei geöffnet. Bevor wir wieder aufbrachen (schließlich waren mein Bruder und ich noch Kinder), tranken wir was in der Hotelbar, wo die Vitrinen des hoteleigenen Kameen-Ladens geschickt in unser Blickfeld fielen. Ich erinnere mich lebhaft an den Laden; es gab dort den Gipsabdruck einer antiken pompejischen Leiche in einem Glasschrank und einen Kameen-Graveur, der uns zeigte, wie er Stücke von Muschelschalen in Miniaturkunstwerke verwandelte. Wir sahen uns nur um und kauften nichts (selbstverständlich wollte ich unbedingt eine Kamee haben, aber das behielt ich jahrzehntelang für mich). Wie ich Jahre später erfuhr, konnten sich meine Eltern das Jahr im Ausland kaum leisten, und das war unsere allererste Station. Durch eine Mautstelle aus Beton, die wie ein antiker Tempel wirkte, gelangten wir wieder auf die Autostrada. Eine kurze Fahrt brachte uns nach Herculaneum am Grund eines riesigen viereckigen Kraters, der sich plötzlich inmitten einer belebten modernen Stadt auftat. Ein Wächter mit Schirmmütze führte uns auf gepflasterten Straßen durch die antiken Häuser mit ihren wie durch ein Wunder bestens erhaltenen, halb überdachten Balkonen und Überresten von Gärten. Es war hinreißend und ließ uns die Enttäuschung von Pompeji vergessen. Mein Vater machte zwei Fotos; Filme waren damals wie die meisten anderen Dinge sehr teuer. Auf dem einen (Abb. E.1) steht der Wächter hinter meinem Bruder, etwas unsicher auf seiner stählernen Beinschiene, und ich blicke in die Kamera, meinen eigenen Fotoapparat um den Hals. Da hatte meine Mission bereits begonnen.


E.1 Ingrid und Jeffrey Rowland mit einem unbekannten Wächter in Herculaneum, Januar 1962. Foto: F. Sherwood Rowland.

Ich setzte die kleine Brownie-Starmite-Kamera an der antiken Stätte eifriger ein als irgendwo sonst auf unserer achtmonatigen Reise, aber die Bilder zeigen mehr Begeisterung als Können. Dann fuhren wir den Vesuv hinauf, so weit die Straße reichte. Zur Erleichterung meiner Mutter war die Seilbahn, die bis zum Kraterrand des Vulkans hinaufführte, den Winter über geschlossen. So fuhren wir die dunklen, funkelnden Hänge wieder hinab, zurück nach Neapel und unserer Aussicht auf die Bucht von Capri (das wir aus einem populären Lied als „the isle of Cap-ree“ mit Betonung auf der letzten Silbe kannten). Der englische Name „Naples“ verwirrte mich, er klang ganz und gar nicht wie das schöne „Napoli“. Am nächsten Tag brachen wir zu dem Ort auf, den meine Eltern „Rome“ nannten, obwohl alle Schilder nach „Roma“ wiesen.

Die kurze Reise meiner Familie durch die Bucht von Neapel bestand aus der üblichen Mixtur aus verschütteter Stadt, Vulkan und Metropole. Bis vor nicht langer Zeit war ein Besuch in Pompeji oder Herculaneum unweigerlich mit einem Trip nach Neapel verbunden, und um den Vesuv kam keine Reise in die Gegend herum. Ebenso unmöglich ist es, diese außergewöhnlichen Orte ohne außergewöhnliche Erinnerungen zu verlassen. Weil sie in der Kindheit entstanden, bilden meine ersten Eindrücke von Neapel, Pompeji und Herculaneum eine tiefe Schicht in einer Art persönlicher Archäologie, aber Reisende jedes Alters und Lebensabschnittes kehren von dort verändert zurück, manchmal tief greifend. Dieses Buch widmet sich einer Auswahl an Besuchern, deren Leben durch die Begegnung mit Pompeji für immer geprägt wurde, sowie einigen, die weniger drastisch darauf reagierten. Die Liste ist unvollständig; ausgewählt wurden sie, weil ihre Geschichten ungewöhnlicher oder unerwarteter als die meisten anderen sind, so etwa die überraschenden Erlebnisse von Renoir aus Frankreich, Freud aus Wien, Hirohito aus Tokio und die spirituelle Odyssee eines einfühlsamen, ehrgeizigen Mannes namens Bartolo Longo, der Pompeji mindestens ebenso veränderte wie Pompeji ihn.

In den 50 Jahren seit meiner ersten Reise nach Pompeji haben sich Italien und die öffentliche Wahrnehmung seiner berühmtesten verschütteten Stadt tief greifend gewandelt. Die vielleicht wichtigste Veränderung ist die zunehmende Bedeutung internationaler Zusammenarbeit in allen Aspekten der Ausgrabungsstätte, vom Verständnis der Realitäten des antiken Lebens bis hin zur Bewahrung seiner fragilen Überreste. Als aufklärerische Disziplin diente die Archäologie ursprünglich eher den Zwecken jener weiteren großen Erfindung der Aufklärung, des Nationalstaates. So setzte eine Reihe von Regierungen, vom Königreich Neapel bis zur Republik Italien, Pompeji für alle möglichen unterschiedlichen patriotischen Ziele ein. Ausländische Gelehrte wiederum blickten oft auf ihre italienischen Kollegen herab und beanspruchten größeres Wissen über die klassische Antike für sich, neben vielen weiteren religiösen, sozialen und kulturellen Überlegenheiten. In unserer globalisierten Welt indes, in der Italien unter den ökonomischen Weltmächten rangiert, ist die untergegangene antike Stadt auf eine ganz andere Weise zum Modell geworden: als ihre eigene Version einer globalen Gemeinschaft, eine Stadt, in der einst Römer, Griechen, Samniten, Etrusker, ägyptische Einwanderer und eine vielfältige Bevölkerung fremdländischer Sklaven lebten, die alle einigermaßen erfolgreich ihre Geschmäcker, Sprachen und religiösen Neigungen einbrachten.

Zugleich gemahnt der grundlegend veränderte Vesuv, dessen symmetrischer antiker Kegel bei jüngeren Ausbrüchen zerstört wurde, daran, dass das katastrophale Ende der Stadt Pompeji zu Zeiten des alten römischen Reiches auch heute noch Grund zur Besorgnis gibt. Seismografen und Vulkanologen halten den Berg unter ständiger Bewachung, aber wenn er sich zu einem neuen Ausbruch entschließt, wird seine Macht über die menschlichen Bewohner der Bucht von Neapel nicht weniger absolut sein wie zur Regierungszeit des Kaisers Titus vor fast 2000 Jahren. Die Schönheit der natürlichen Szenerie von Pompeji und die Milde seines Klimas üben auf die modernen Einwohner der Stadt eine ebenso potenziell fatale Anziehungskraft aus wie auf ihre antiken Vorgänger, die sich Geschichten von lange zurückliegenden Erdbeben und unterirdischen Feuern erzählten – aber nie erwarteten, am eigenen Leib Unheil zu erfahren. Diese Mischung aus Schönheit und Gefahr macht Pompeji so aufregend, und die beständige Erinnerung an unsere eigene Sterblichkeit lässt diese verschüttete Stadt so wirklich und so vertraut erscheinen. In den Geschichten der Besucher, die ihr Leben aufgrund dieser kurzen Begegnung mit Pompeji ganz anders weiterlebten, findet sich jedoch auch ein bedeutender Schatz an Erfahrung und Inspiration.

Auch Pompeji selbst verändert sich, diese begrabene Stadt, die eine unwirtliche Ebene, ein Weinberg, ein Nest von Banditen, eine sorgfältig organisierte Touristenattraktion war beziehungsweise ist, eine weltberühmte Ruine, bedroht von einem neuen Untergang, jetzt, da sie entblößt und verletzlich daliegt. Pompeji verändert sich, aber manchmal verändert es sich langsam. Bei einem meiner jüngsten Abstecher, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem ersten, rief eine Verkäuferin an ihrem Stand an der Porta Marina: „Kommen Sie, schauen Sie! Ich habe ein Geschenk für Sie!“ Das gleiche Angebot hatte sie mir schon 1962 gemacht.

In Pompeji

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