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Kapitel 4 Schulzeit (1930 -1940)

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Zu jener Zeit kamen Kinder in der Sowjetunion erst mit acht Jahren in die Schule. Stichtag war der 1. September, wo auch alle Schulen im Land nach dem Sommerferien wieder begannen. Da ich im November geboren bin, war ich bei meiner Einschulung fast neun Jahre alt. Meine Eltern hatten nicht darauf geachtet, dass ich noch dazu für mein Alter recht groß war und fast alle Neunjährigen überragte. Ich wurde in meiner Klasse fürchterlich ausgelacht, doch ließ ich mir, glaube ich, nicht anmerken, wie sehr mich das verletzte.

Als ich 1930 in die Schule kam, war das die Zeit, als Ukrainisch an Bedeutung gewann. Auf allen Amtsstuben musste man plötzlich Ukrainisch sprechen und alle Erwachsenen, die diese Sprache nicht genügend beherrschten, mussten sie in Abendklassen schleunigst nachlernen. Meine Eltern schickten mich in eine ukrainische Schule, damit ich die Sprache von Anfang an richtig beherrschte. Später im Leben wurde mir bewusst, was für eine ausgezeichnete Grundschullehrerin ich damals hatte. Es war eine Polin, sie hieß Franziska Bronislawna.

Anfangs sprach sie Russisch, so wie wir alle untereinander und die meisten zuhause auch Russisch sprachen. Allmählich wechselte sie dann sachte immer mehr zum Ukrainischen über und Russisch wurde ein Fach für sich. Niemand in meiner Klasse fand es schwer, Ukrainisch zu lernen. Da es damals Pflicht war, seinen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, bevor sie eingeschult wurden, fiel es uns auch leicht, die paar unterschiedlichen ukrainischen Schriftzeichen dazuzulernen. Wir alle machten im ukrainischen Diktat weniger Fehler als im Russischen, denn im Ukrainischen wird alles so geschrieben, wie es ausgesprochen wird. Außerdem war uns diese Sprache nicht ganz fremd, denn wir hatten sie seit unserer frühen Kindheit im Ohr, da wir sie in Dörfern und auf Märkten gehört hatten.

Am ersten Schultag fragte die Klassenlehrerin, wer denn schon ein Gedicht aufsagen könne. Ich meldete mich und begann „Das Luftschiff“ von Lermontow zu rezitieren. Die Lehrerin schnitt mir jedoch das Wort ab und meinte: „Dieses Gedicht ist unpassend.“ Dann nahm sie eine andere Schülerin dran, die ihr Wohlwollen mit „Der Soldat der Roten Armee auf seinem Wachtposten“ errang.


Abbildung Tatjana Sergejewna Witkowskaya 1932

Vor meiner Schulzeit war ich fast nie krank gewesen. Zweimal jedoch erwischte es mich, ich hatte Masern und Lungenentzündung. Da es noch keine Antibiotika gab, verliefen diese Krankheiten sehr intensiv. Bei meiner Masernerkrankung hatte ich entzündete Augen und musste tagelang in einem abgedunkelten Raum verweilen. Mein hohes Fieber bereitete mir Albträume, ich sah die rotglühenden Kohlen eines Ofens, die immer näher kamen und denen ich scheinbar nicht ausweichen konnte.

In der Schule wurden wir jedes Jahr gegen Diphterie und Pocken geimpft, nicht jedoch gegen Mumps, Scharlach und Röteln. Diese Krankheiten bekamen wir dann auch prompt. Im zweiten Schuljahr, als ich zehn war, bekam ich Scharlach und wurde im Krankenhaus wochenlang interniert. Meine Eltern hatten keinen guten Draht zu den Behörden, also durften sie mich nicht privat zu Hause pflegen, wie ich es von einigen meiner Klassenkameraden gehört hatte. Alle Scharlach-Kinder lagen in einem großen Zimmer, diejenigen unter zwei hatten auch ihre Mütter bei sich. Bei allen wurden die Haare so kurz wie möglich direkt am Kopf abgeknipst, um die Verbreitung von Läusen zu verhindern. Ein junges Mädchen mit wundervollem langem kastanienbraunem Haar weinte bei dieser Prozedur bitterlich.

Besucher durften das Zimmer nicht betreten, auch Eltern nicht. Sie konnten uns durch ein Fenster sehen und Päckchen für uns abgeben. Ich bekam so viele Süßigkeiten, dass ich den anderen Kindern reichlich davon abgeben konnte. Bücher und Spielzeug durfte man auch bekommen, diese mussten allerdings dann für immer im Krankenhaus zurückbleiben.

Eines Morgens wachte ich auf und sah eine Ratte auf meinem Kopfkissen sitzen. Sie kratzte sich gerade mit ihrer Pfote die Nase. Entsetzt schrie ich auf und wurde prompt geschimpft, weil ich ein Aufhebens gemacht und die anderen geweckt hätte. Die Ratte war längst davongehuscht.

Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich auch in diesem Krankenzimmer. Die Mutter des toten kleinen Kindes weinte und schrie abwechselnd. Ein anderes Schreckerlebnis dort war ein Feuer, bei dem wir evakuiert werden sollten und die Feuerwehr das in letzter Minute durch Löschen des Brandes verhindert hatte.

Meine erste Schulfreundin hieß Walja Protassowa. Ihr Vater war Briefträger und ihre Mutter drehte für eine Zigarettenfabrik in Heimarbeit Zigarren. Neidische Nachbarn zeigten sie schließlich an. Auch noch eine unverheiratete Tante lebte mit der Familie in dem einen Zimmer mit Küche, das sie bewohnten. Walja erzählte mir, dass ihre Eltern eigentlich ihre Großeltern seien. Sie wuchs bei ihnen auf, weil ihre Mutter starb, als sie erst vier Jahre alt war. Später erfuhr ich unter der Hand, dass Walja ein uneheliches Kind sei. Mir war es vorher schon so vorgekommen, als litte Walja insgeheim unter einer verborgenen Last. Sie war launisch und führte gern das große Wort. Zuerst gehorchte ich ihr, dann stritten wir uns manchmal. Nach jedem Streit schrieb sie mir einen Brief, in dem sie unsere Freundschaft für beendet erklärte. Da ich sie sehr mochte, setzten mir diese Worte jedesmal sehr zu und ich vergoss Tränen darüber. Meine Mutter jedoch tröstete mich, denn es geschah nach ein bis zwei Tagen immer dasselbe: Waljas Stimmung schlug um und sie redete wieder mit mir und wollte meine Freundin sein.

Auch nach unserer Entlassung erhielt ich immer wieder diese Art von Briefen, denn unsere Freundschaft hielt noch Jahre an. Walja hörte allerdings mit deren wiederholter Aufkündigung schließlich auf, als sie merkte, dass ich nicht mehr darauf reagierte.

Erst Jahre später wurde mir klar, unter welch schwierigen Bedingungen die Leute damals existierten. Zu jener Zeit lebten die meisten Sowjetbürger in sehr beengten Wohnverhältnissen. Obwohl mein Vater gut verdiente und ich das einzige Kind der Familie war, hatte ich nie mehr als ein Paar Sommer- und ein Paar Winterschuhe. Es waren entweder bis ans Knie reichende oder knöchelhohe gefütterte Gummistiefel.

Verglichen mit vielen anderen Kindern war ich gut angezogen, weiß aber noch, wie wenige Kleider ich hatte. Als ich in der 4. Klasse plötzlich in die Höhe schoss und meine Kleider mir nicht mehr passten, nähte mir meine Mutter einen Rock und zwei Flanellblusen und ich trug das gesamte Schuljahr durch nichts anderes. Viele Kinder hatten Löcher für den großen Zeh in den Schuhen und angenähte Stofffetzen an ihren zu kurz gewordenen Sachen.

Einmal fuhr mein Vater geschäftlich nach Moskau , wo er bei einem Bruders meines Großvaters übernachten konnte. Er sparte seine Spesen und kaufte für meine Mutter und mich richtige Wollpullover. Wolle gab es damals nicht einmal in Charkow, geschweige denn Strick- oder Häkelnadeln. Für mich war dieser Pullover der einzige, den ich während meiner gesamten Schulzeit besitzen sollte. Ich zog ihn an, bis die Ärmel vollkommen fadenscheinig waren und danach trennte meine Mutter sie ab und der Pullover wurde meine Weste, bis ich daraus völlig herausgewachsen war. Und anschließend trennte meine Großmutter die Wolle auf und strickte mir daraus einen warmen Schal. Ich hatte ihn noch um, als wir im Krieg nach Deutschland gebracht wurden. Er hatte die Farbe von Erdbeeren mit Milch.



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