Читать книгу Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp - Страница 3

eins

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Der Arzt in der Unfallambulanz der Neuen Kliniken sah aus wie neunzehn, war offenbar frisch von der Uni und schien schon die Messer zu wetzen.

„Ich würde so einen Bruch ja immer operieren. Macht man heutzutage so. Natürlich kann man das auch konventionell behandeln. Es gibt halt noch die Ärzte der alten Schule“, er zuckte die Schultern, „die sagen wir haben das immer so gemacht ... Aber das hat der Oberarzt zu entscheiden. Er müsste jeden Moment hier sein.“

Inga lehnte sich vorsichtig in ihrem Stuhl zurück und stöhnte. Ihr linkes, dick geschwollenes Handgelenk pochte höllisch und nahm jede Bewegung übel. Nach dem Stirnrunzeln der Röntgenschwester hatte sie schon geahnt, dass sie nicht mit einem Verband davonkommen würde, und mit einem Gips gerechnet. Aber eine Operation? Das schien doch etwas übertrieben zu sein. Und ausgerechnet jetzt einfach zu viel für sie, da sie vollauf damit beschäftigt war, ihr Leben neu in den Griff zu bekommen. Was für eine Frau in ihrer Lage schon mit zwei gesunden Händen schwierig genug gewesen wäre. Oh nein, das ist nicht fair, wie soll ich das alles schaffen, überlegte Inga. Sie versuchte vergebens, an den Krankenhausgerüchen vorbeizuatmen, die sich in der klimatisierten Luft festgesetzt hatten wie schlechte Angewohnheiten. Ihr Magen begann zu flattern. Mit dem Druck, unter den sie sich gesetzt fühlte, lief wieder dieser Film vor ihrem geistigen Auge ab: Detlefs dunkelrotes Gesicht direkt vor ihrem, so dicht, dass Speicheltröpfchen, die er zusammen mit seinen Schmähworten ausspie, ihre Wangen trafen. Der plötzliche Sichtwechsel auf die neue Sofagarnitur, als ihr Kopf zur Seite flog. Die Flucht aus einer Wohnung, die nie etwas anderes gewesen war als ein bis ins Detail durchgestylter Selbstbetrug ...

Ruhig bleiben, mahnte Inga sich, das ist seit Monaten vorbei, das hast du überstanden. Du wirst auch dies hier überstehen. Erstmal weiteratmen. Hören, was der Fachmann meint.

Fünf Minuten später wehte der angekündigte Oberarzt, in modisch-teurer Freizeitkleidung und mit lässig übergeworfenem offenen Kittel, temperamentvoll in den Raum. Lange Beine in Jeans, die exakt die derzeit angesagte Waschung aufwiesen. Edle Lederschuhe, Designerbrille, Chronograph am Handgelenk. Er fuhr sich durch sein volles, gut geschnittenes schwarzes Haar und setzte sich rittlings auf einen Schreibtischstuhl, mit dem er im selbem Schwung direkt vor Inga zu stehen kam.

„Na, was haben wir hier?“

„Leicht dislozierte distale Radiusfraktur links.“

„Wie ist das passiert?“

„Die Patientin ist aus einem Kirschbaum gefallen.“

„Sie wollen mich wohl verarschen. Hochsaison für Kirschbaumstürze ist im Juni. Jetzt haben wir Februar.“

„Es stimmt“, mischte Inga sich ein. Beide Ärzte schauten sie an. Peinlich wurde ihr bewusst, dass sie ihre älteste Jogginghose und einen linksseitig ausgezogenen Fleecepullover trug, der voller Heuhalme hing und nach Pferd roch. Ihr Haar hatte sie unordentlich unter eine selbstgestrickte Mütze gestopft. Wie frau eben aussah, wenn sie nur kurz die Tiere versorgen und dann wieder zurück aufs Sofa wollte. Tatsächlich fühlte sie sich durchaus nicht passend angezogen, um sich mit einem irritierend gutaussehenden Oberarzt auseinanderzusetzen. Alles nur, weil diese blöde Nachbarskatze bei Glatteis in den Kirschbaum klettern musste, dachte Inga giftig. Was hatte eine Perserkatze mit etwas Grips im Kopf mitten im Winter in einem verschneiten Baum zu suchen?

Miezi, der Name sagte alles, war allerdings unter normalen Umständen schon nicht die Hellste, und ohne ihr geliebtes Frauchen im Haus komplett unzurechnungsfähig. Inga mochte die schrullige Frau Reuter und tat ihr gerne den Gefallen, ab und zu ihre geliebte Katze zu versorgen, wenn sie ihre Schwester besuchte. Als das dumme Tier mittags kläglich von der Kirsche heruntergemauzt hatte und sich weder mit guten Worten noch mit Rinderhack locken ließ, blieb Inga zunächst unbeeindruckt. Doch die Stunden vergingen, es war kalt, und schließlich holte Inga die lange Leiter aus dem Schuppen und kam dem Vieh zu Hilfe. Ob die Leiter auf dem glatten Schnee oder vom vereisten Stamm abgerutscht war, konnte sie nicht sagen. Beide erreichten den Boden schneller als geplant, die Perserin unverletzt, Inga mit einem stechenden Schmerz im linken Handgelenk, das zusehens anschwoll. Sie biss die Zähne zusammen, fütterte Petersens Ponies und versorgte ihre eigenen Meerschweinchen. Als die Schmerzen immer heftiger wurden und eine zittrige Übelkeit hinzu kam, hatte Inga sich von ihrer Nachbarin Marianne ins Krankenhaus bringen lassen. Da saß sie nun, hin- und hergerissen zwischen Sorgen um ihren Arm und dem Wunsch, diese beiden schnöseligen Streithähne anzufauchen. Sie biss sich auf die Lippen.

„Also, es gibt zwei Möglichkeiten. Wir können eine Gipsschiene anlegen, die müssen Sie dann mindestens sechs Wochen tragen und in der Zeit die Hand schonen. Oder wir setzten da eine Metallplatte rein, dann können Sie sie bald wieder belasten.“

Ja - sollte sie das etwa selber entscheiden? Wie konnte sie wissen, was besser war? Eine Operation kam nicht in Frage, nicht mit all den Terminen, die sie wahrzunehmen hatte. Wenn aber der Knochen sonst womöglich nicht richtig zusammenwuchs ...? Wie sie es drehte und wendete, sie hatte ein echtes Problem. Auch mit einem Gips würde sie kaum arbeiten können. Inga starrte den Arzt verzweifelt an.

„Wissen Sie was, wir versuchen es mit der Schiene, und Sie kommen in fünf Tagen zur Kontrolle. Wenn die Bruchstellen dann nicht gerade voreinander geblieben sind, können wir immer noch operieren. Es wäre für eine Operation sowieso besser noch zu warten, bis der Arm etwas abgeschwollen ist.“

Das klang vernünftig. Bevor er wieder verschwand, wies der Oberarzt seinen jungen Kollegen an, wie die Hand in dem Gips gewinkelt sein sollte.

„Sie fassen hier an ... und hier ... und biegen dann so ...“

„Ich weiß, wie ich das machen muss“, entgegnete dieser pampig.

Sieh mal an, dachte Inga, der Angriff des Jungvolkes auf die Vormachtstellung des alten Leithengstes lief in vollem Gange. So alt sah der allerdings gar nicht aus. Hinter dem Schickimicki-Outfit und dem weißen Kittel schimmerte noch etwas anderes durch. Da lag etwas in seinen Augen, in seinem Blick, das verriet, dass er nicht nur ein braver Chirurg war. Er hatte so etwas von ‚Bad Boy’ ... Wie er eben ‚verarschen’ gesagt hatte, das klang auch nicht gerade akademisch. Er nervt, aber er ist irgendwie ein echt cooler Typ, dachte Inga. Jetzt reichte ein scharfes Aufblitzen aus seinen dunkelbraunen Augen, um den Assistenzarzt verstummen und den Blick auf sein Clipboard senken zu lassen. Noch blieb die Macht des Alphawolfes unerschüttert. Er nickte Inga aufmunternd zu, dann war er schon wieder zur Tür hinaus.

Draußen dämmerte es bereits, als der mürrische Jungdoktor mit dem Gips fertig war. Inga steckte den Kopf zum Wartezimmer herein und gab Marianne Bescheid.

„Ich muss mir nur noch einen Termin für die Kontrolle geben lassen, dann können wir fahren.“ Das wurde auch Zeit, fiel Inga ein. Ihre Nachbarin war nachtblind.

Entsprechend aufregend verlief die Rückfahrt. Marianne lehnte mit verkrampften Händen über dem Lenkrad und blinzelte hilflos durch die Windschutzscheibe, während Inga dirigierte: „Bisschen weiter rechts halten ... nein, nicht so weit ... jetzt genau geradeaus. Da kommt gleich eine Kurve nach links ...“

Es war, fand Inga, genau wie in dem Roman ‚The Widows´ Adventures’ von Charles Dickinson, in dem zwei alte Damen quer durch die USA fahren, wobei die eine nicht autofahren und die andere nicht sehen kann. Immerhin waren die Straßen so verschneit und leer, dass ihnen nicht viel Schlimmeres passieren konnte, als in einer Schneewehe stecken zu bleiben.

Früh am nächsten Morgen rief Inga die Werbeagentur an, in der sie arbeitete, und meldete sich beim Anrufbeantworter krank. Vor neun ließ sich dort nie jemand blicken. Auf ihre Nachricht hin (‚Arm gebrochen, mindestens sechs Wochen Gips’) würde ein mittleres Chaos ausbrechen, was ihr eine kleine Galgenfrist zu verschaffen versprach. Danach sollte sie sich lieber einen verdammt guten Plan zurechtgelegt haben, wie um Himmels Willen sie die neue Situation meistern könnte.

Zum nächsten Quartal wollte Inga als Teilhaberin in die Firma einsteigen. Verträge mussten unterzeichnet, Zuständigkeiten neu verteilt werden. Sie befand sich in der Bewährungsphase, sollte ein umfangreiches Projekt für einen der größten Kunden fertigstellen und präsentieren. ‚Da haben Sie ja nochmal Glück gehabt, dass es nicht der rechte Arm ist’ hatte dieser dämliche Arzt gesagt. Ja, ganz toll. Inga schnaubte. Sie war Linkshänderin. Schreiben und vor allem Zeichnen würde ein Problem werden. Abgesehen davon ließ sich das Schonen und Hochlegen eines frisch gebrochenen Knochens nicht mit dem hektischen zehn-Stunden-Tag in der Agentur vereinbaren. Sie gab sich keinerlei Illusionen hin: Die Werbebranche glich einem Haifischbecken, in dem ein gnadenloser Konkurrenzkampf herrschte. Inga fielen auf Anhieb mehrere Kollegen ein, die nur auf ein Zeichen von Schwäche bei ihr lauerten. Diese dürre Zicke mit den grell orangerot lackierten Fingernägeln zum Beispiel und nicht zuletzt Detlef.

Detlef, der die Trennung und Ingas Auszug aus der gemeinsamen Wohnung nicht wie ein Gentleman aufgenommen hatte. Er würde der Erste sein, der an ihrer Position in der Agentur und anstehenden Teilhaberschaft rüttelte. Sie hätte sich niemals mit ihm einlassen dürfen. Sechs Jahre harter Arbeit, hastige Kurztrips an Stelle von richtigem Urlaub, dauernde Verfügbarkeit per E-Mail und Handy ... sollte dies nun alles vergebens gewesen sein? Beim Stichwort ‚Trennung und Auszug’ fiel Inga siedendheiß ein, dass sie im April ihre neue Wohnung beziehen wollte. Und bald, im Grunde nächste Woche, damit beginnen musste, die Wände zu streichen. Der Fußboden im Schlafzimmer musste ausgetauscht werden ... Wie, um alles in der Welt, sollte sie jetzt mit einer Hand renovieren und packen? Vom Möbelschleppen gar nicht zu reden ...

Bevor ihr vor lauter Panik noch übel wurde, ging sie lieber hinaus an die frische Luft. Die privaten Pflichten würden sich hoffentlich leichter erfüllen lassen. Als Inga sich einhändig in Schuhe und Jacke wurschtelte, klingelte das Telefon.

„Immeli, Süße, was ist dir passiert? Ya salam - O Gott ...“

„Morgen, Sabe. Woher weißt du denn so früh schon Bescheid?“

„Marianne hat mir alles erzählt. Ich muss gleich in eine Verhandlung, aber in der Mittagspause komme ich zu dir. Hast du starke Schmerzen?“

„Nö, eigentlich nicht.“

„Das glaube ich dir erst, wenn ich dir dabei ins Gesicht sehen kann. Also - bis später. Wenn du etwas brauchst, sende mir eine SMS. Allah sei mit dir.“

Sabije war Ingas beste Freundin. Seitdem die Albanerin damals mit ihren Eltern und vier Brüdern über Italien nach Deutschland und in Ingas Kindergartengruppe gekommen war, hingen die beiden aneinander wie die Kletten. Zum Erstaunen und Befremden der Familie war Sabije, sich von klein auf über alle kulturellen und sozialen Grenzen hinwegsetzend, nach der Hauptschule auf das Gymnasium gewechselt. Sie hatte ihr Abitur mit dem besten Notendurchschnitt ihres Jahrgangs bestanden und in Berlin und Brüssel Jura studiert. Mit dem Doktortitel in der Tasche hatte sie sich bei renommierten Anwaltskanzleien in Boston und New York einen Namen gemacht. Ihre Eltern und drei Brüder waren mittlerweile zurück nach Albanien gegangen, der vierte Bruder nach Italien. Sabije dagegen hatte es wieder nach Lüneburg gezogen. Um ihr Talent in hinterwäldlerischen Amts- und Landgerichten zu begraben, murrte ihr alter Tutor noch heute. Um ihren Traum zu leben, hielt Sabije dagegen und warf sich mit Elan und Kompetenz in die Verteidigung von Atomkraftgegnern. Nun würde sie zwischen zwei Gerichtsterminen nach Marunthien hetzen, um ihrer Freundin einen großen Topf Suppe zu kochen und sie zu trösten.

Grinsend öffnete Inga die Haustür, um ihre Runde durch die Ställe zu beginnen und zumindest alle hungrigen Mäuler zu stopfen. Fast wäre sie mit Marianne zusammengestoßen, die vor Ingas Haustür Schnee schippte.

„Morgen, Inga. Wie geht`s? Tut es noch sehr weh?“

„Nö, geht so. Vielen Dank, Janne, das ist aber lieb von dir.“

„Ach, ist doch selbstverständlich. Geert hätte auch geholfen, aber den muss ich gleich zum Flughafen bringen. Zum Füttern heut abend bin ich wieder da, und inzwischen ...“

„Sabe hat eben angerufen, sie kommt mich versorgen. Euer Buschfunk klappt wie am Schnürchen. Ich will gerade die Tiere füttern gehen.“

„Den Ponies hab ich schon Heu gegeben und das Wasser aufgefüllt. Deinen Meerschweinchen auch. Nur bei Miezi kam ich ja ohne Schlüssel nicht rein.“

Auweia. Wenn Marianne die Ponies gefüttert hatte, sollte sie besser schnell nach dem Rechten sehen. Inga lief durch Frau Reuters Obstgarten, stieg durch die Lücke im Zaun und betrat den gemütlichen kleinen Offenstall. Wie erwartet standen die Shetties bis zu den Bäuchen in einem großen Berg Heu und mampften genüsslich. Inga warf mit der gesunden Hand große Büschel voll über die Trennwand zurück, bis ein angemessener Rest übrig blieb. Der Wasserbottich war bis zum Rand gefüllt, das Eis entfernt, und auch das Treibholz hatte Marianne nicht vergessen. Es sorgte dafür, dass das Wasser in Bewegung blieb und nicht so schnell wieder zufror. Gute Janne, dachte Inga gerührt, sie ist einfach ein Schatz.

Bis zum Mittag hatte Inga gelernt, mit einer Hand ihr Frühstück zuzubereiten, Wäsche aufzuhängen und Staub zu saugen. Dabei hatte sie höllisch aufgepasst, den verletzten Arm nicht zu benutzen, damit er nur ja heilte. Schwitzend und triumphierend war es ihr gelungen, einhändig das Bett neu zu beziehen. Erstaunlich, was man alles improvisieren konnte, indem man seine Zähne und Knie zu Hilfe nahm. Doch jeden Augenblick befürchtete sie einen Anruf von ihrem Chef, immer noch unschlüssig, was sie in ihrer verzwickten Lage tun sollte. Wie eine Maus in der Falle huschten Ingas Gedanken hin und her, ohne den erlösenden Ausweg zu finden.

Sabije tauchte wie versprochen auf, ließ zwei Taschen voller Lebensmittel auf Ingas Küchentisch plumpsen und kochte einen leckeren Eintopf. Während sie gemeinsam den Tisch deckten, fiel Sabije die nervöse Unruhe der Freundin auf.

„Sage einmal, was für eine Art Drogen hat man dir im Krankenhaus verabreicht? Ich hätte gedacht, dass du wesentlich erschöpfter sein müsstest von dem Unfall, Schmerzmitteln und allem. Stattdessen springst du umher wie ein vom Hund gefallener Floh.“

„Ach Sabe ... du weißt doch, was in der Agentur für mich auf dem Spiel steht! Jeden Moment kann mein Chef anrufen und ich hab nicht den leisesten Schimmer was ich ihm sagen soll und ...“ Inga sprudelte ihre ganze Not heraus.

Gelassen zog Sabije den Telefonstecker aus der Wand, schaltete Ingas Handy aus und schöpfte Eintopf in zwei tiefe Teller.

„So.“ Sie stellte die dampfende Suppe auf den Tisch. „Du bist erst wieder erreichbar, nachdem du dein Inneres sortiert hast. Allah segne unsere Mahlzeit.“

Satt und zufrieden saßen die beiden Frauen sich nach dem Essen bei einer Tasse Kaffee gegenüber.

„Ah, das tat gut.“ Inga legte ihren verletzten Arm auf dem Tisch ab und griff nach einem der beiden dampfenden Kaffeebecher. „Danke, dass du hier bist und mich bekochst, und dir mein Gejammer anhörst ...“

„Sei nicht so hart gegen dich. Schließlich macht dein Leben es dir gerade wirklich nicht leicht.“ Sabije schob ein gefaltetes Küchenhandtuch zu Inga hinüber. „Du hast dir Kinder gewünscht, eine eigene Familie. Stattdessen ging die Beziehung auseinander, mit einem so furchterregenden Knall, dann noch der Unfall und vielleicht Probleme in der Werbeagentur ... Es ist doch völlig normal, wenn du für eine Weile den Mut verlierst.“

Inga hob den Gipsarm an, so dass Sabije das Handtuch darunter zurechtlegen konnte, und senkte ihn dann auf den Stoff. „Immer, wenn ich denke es geht aufwärts, passiert irgend ein Mist. Ich hatte so gehofft, den Mann fürs Leben gefunden zu haben - plötzlich bin ich Single, gehe auf die vierzig zu, und meine berufliche Existenz hängt an einem dünnen Stück Verbandmull.“ Inga fuhr sich mit der gesunden Hand durchs Haar und seufzte. „Warum kann ich mich nicht einfach auf meine Karriere konzentrieren, auf die nächste schicke Wohnung und ein teures Auto? Wer bekommt heutzutage noch Kinder? Meine Vater-Mutter-Kind-Denke ist doch wohl oberpeinlich ...“

„Im Gegenteil. Es ist die älteste und natürlichste Sehnsucht der Menschheit.“ Sabije stellte ihren Kaffee ab und strich Inga aufmunternd über den Oberarm. „Auch wenn du es noch nicht einsehen magst: Nach der Trennung von Detlef stehen die Chancen, deinen Familienwunsch zu realisieren, besser als vorher. Nicht schlechter.“

„Ich fürchte, dazu wird es allmählich zu spät. Mir ist schon ewig kein interessanter Mann mehr begegnet. Außer diesem Oberarzt in der Ambulanz vielleicht ... aber der ist erst recht kein Familientyp.“

„Von dem Arzt hast du noch gar nichts erzählt. Was für ein Mensch ist er?“

„Sehr gutaussehend, sehr eilig, sehr kompetent. Dr. Oliveira. Total arrogant, aber ...“

Sabije lachte, doch dann beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Lass dir nichts anmerken, ermahnte sie sich, es ist viel zu früh, um die Rechtsanwältin hervor zu kehren. Sollte Inga ruhig ein bisschen schwärmen, das würde sie von ihrem gebrochenen Arm ablenken. Bis jetzt klang es schließlich ganz harmlos. Aber sie würde die Freundin bremsen müssen, falls diese Sache sich in eine ungute Richtung entwickeln sollte.

Dr. Robson Oliveira stand mit einem Becher Kaffee in der Hand im Innenhof der Klinik und atmete tief die kalte Winterluft ein. Er war seit zwanzig Stunden im Dienst. Drinnen herrschte Hochbetrieb, kein Wunder bei diesem Wetter. Zunächst angetauter, dann neu überfrorener Schnee hatte Gehwege und Straßen in spiegelglatte Eisflächen verwandelt. In der Notaufnahme gaben die Sanitäter sich die Klinke in die Hand, brachten rund um die Uhr neue Knochenbrüche. Das Klinikpersonal hastete im Slalom durch die Gänge, um Krankenbetten herum, die in den überfüllten Zimmern keinen Platz mehr gefunden hatten. Über allem klang das Dröhnen an- und abfliegender Rettungshubschrauber. Fast wie 2003 in Kabul, dachte Robson. Immerhin gab es hier rund um die Uhr Strom, und sie mussten nicht befürchten, beschossen zu werden. Er betrachtete den stahlgrauen Himmel und trank einen Schluck Kaffee. Eigentlich hätte er sich etwas zu essen holen sollen, doch er brauchte dringend ein paar Minuten Ruhe.

Die hellblonde Frau mit der Radiusfraktur und den stinkenden Klamotten von gestern Nachmittag fiel ihm wieder ein. Eine ziemliche Kratzbürste ... aber verdammt hübsch. Sie hatte die Frage des jungen Rettig, wie alt sie sei und was sie beruflich mache, in den falschen Hals bekommen und ihn zornig abgekanzelt: ‚Ich möchte schon, dass Sie meine Hand wieder richtig hinbekommen, statt sie einfach so zu lassen weil sich`s eh nicht mehr lohnt’. Rettig, dieser kleine Wadenbeißer, war rot angelaufen, hatte verlegen etwas wie ‚Jaja, natürlich, Sie sind ja noch jung’ gestammelt und sie damit natürlich erst recht in Rage gebracht. Robson hatte später das Geburtsdatum in ihrer Akte nachgeschlagen und war überrascht gewesen. Er hätte sie auf Anfang dreißig geschätzt, höchstens, doch sie war neununddreißig. Acht Jahre jünger als Melissa ...

Rob schüttelte energisch seine verjährten Erinnerungen ab, stürzte den restlichen Kaffee hinunter und ging zurück an die Arbeit.

Fünf Tage später wirbelten Schneeflocken vom Himmel und überstäubten Marunthien wie mit Puderzucker. In diesem Jahr ist der Winter ganz schön hartnäckig, dachte Inga. Oder nehme ich ihn erst richtig wahr, seit ich so weit draußen wohne? Sie schaute immer wieder aus dem Fenster, um ihre Mitfahrgelegenheit nach Lüneburg nicht zu verpassen. Heute sollte sie zum Gipswechsel ins Krankenhaus kommen. Die öffentlichen Verkehrsmittel im Dorf beschränkten sich auf einen Minibus für die Schulkinder und die Bahnstrecke für Castortransporte, deren nächster Haltepunkt fünf Kilometer entfernt lag. Früher hätte Inga eine Handvoll im lockeren Kreis angeordneter Häuser kaum als ‚Dorf’ bezeichnet, eher als ‚menschenleere Gegend’. Der unberührte Schnee auf der einzigen Straße bewies, dass in den letzten Stunden kein Fahrzeug vorbeigekommen war.

So lästig ein Armbruch auch sein konnte, er hatte Inga in den vergangenen Tagen viel über die Menschen in ihrem Leben gelehrt. Da waren ihre Freunde und Nachbarn, unter denen sich der Unfall herumgesprochen hatte wie ein Lauffeuer. Innerhalb kürzester Zeit waren die nötigsten Arbeiten in Haushalt und Stall verteilt, Mitfahrgelegenheiten und Einkaufsdienste organisiert worden. Ihre Heinzelmännchen riefen an oder standen spontan vor der Tür mit den Worten: ‚Ich komm’ gerade vom Einkaufen und dachte, ich miste mal eben bei den Ponies aus’. Sie brachten Lebensmittel und Bücher oder holten Inga zu allen Veranstaltungen ab, die Spaß und Abwechslung versprachen. ‚Herumsitzen und deinen Gips hochlegen kannst du dort auch’ sagten sie fröhlich und sorgten dafür, dass sie den bequemsten Sessel bekam und ein Kissen für ihren verletzten Arm. Inga war glücklich und gerührt über all diese Hilfsbereitschaft und Wärme.

Sicherlich gab es Menschen, die sich auf dem Lande eingeengt fühlten, wo man so viel voneinander wusste und kein Ehestreit, keine neue Waschmaschine den anderen verborgen blieb. Doch Inga war heilfroh, nach ihrer Flucht aus der Beziehung zu Detlef diese Wohnung in einem alten Bauernhaus gefunden zu haben. Die Besitzer befanden sich auf einer neunmonatigen Wanderung durch Südeuropa und vermieteten ihre vier Wände für diese Zeit unter. Ohne hinzusehen hatte Inga zugegriffen, um erst einmal ein Dach über dem Kopf zu haben und in Ruhe eine neue Bleibe zu suchen. Vom ersten Tag an war sie überall mit offenen Armen empfangen worden, hatte neue Freundschaften geschlossen. Manchmal fand sie es direkt schade, dass sie bald wieder in der Stadt wohnen würde. Sie liebte das kleine Rundlingsdorf am Rande des Wendlandes und fühlte sich wunderbar geborgen.

Auf der anderen Seite war da die Werbeagentur. Sabijes Lösung mit den gekappten Telefonverbindungen hatte genau vierundzwanzig Stunden gewirkt. Danach fuhr ein Wagen vor Ingas Tür vor. In einer kurzen Nachricht, die der Fahrer ihr überreichte, wurde sie mit eher deutlichen als höflichen Worten angewiesen, umgehend in der Agentur anzutreten, um ‚die neue Situation zu besprechen’. Inga sah sich gezwungen, hastig umgezogen und mit ungewaschenen Haaren an ihren Arbeitsplatz zu eilen, sich den missbilligenden Mienen der Chefs und den abschätzenden, lauernden Blicken der Kollegen zu stellen. Kein zuvorkommend zurechtgeschobener Sessel. Keine Kuschelkissen. Inga kam sich vor wie ein angezählter Boxer im Ring. Beim nächsten Schlag würde sie zu Boden gehen.

Ohne befriedigendes Ergebnis, aber mit einer Menge Druck im Nacken, wankte Inga nach Hause. Solange der Fahrer sie noch sehen konnte, hielt sie ihre mühsam bewahrte Fassung aufrecht. Dann fütterte sie mit letzter Kraft die Tiere und brach auf ihrem Bett zusammen. Vollständig angezogen, mit schmerzendem Arm und verzweifeltem Herzen.

Ralfs gelber Bulli bog in den Hof ein, und Inga lief rasch hinaus. Ralf und Hilke Drossel züchteten Schafe und betrieben eine Imkerei. Sie hatten Inga bei ihrem Sprung ins Landleben unter ihre Fittiche genommen und hielten immer ein offenes Ohr und ein Mittagessen für sie bereit. Sie waren zwei der warmherzigsten und großzügigsten Menschen, die Inga kannte. Jetzt lief Ralf im Schneetreiben um das Auto herum, um die Tür aufzuhalten und ihr auf den Beifahrersitz zu helfen.

„Kommst du einigermaßen zurecht?“

„Ja, alles in Ordnung, danke dir“, lächelte Inga. „Es ist enorm, was man mit einer Hand hinbekommt. Nur Dosen öffnen ging gar nicht. Janne ist am ersten Abend mit rüber gekommen, hat fünf Dosen Katzenfutter auf Vorrat aufgemacht und sie mit Frischhaltefolie bedeckt in den Kühlschrank gestellt.“

Was eine enorme Leistung gewesen war. Marianne fand den Geruch von Dosenfutter schier unerträglich. Sie hatte die ganze Zeit mit ihrem Brechreiz zu kämpfen gehabt und nach jeder Dose den Kopf zum Küchenfenster hinaus stecken müssen.

„Diese verdammte Katze. Das nächste Mal sagst du mir Bescheid, und ich schieße sie runter.“

Inga grinste. Nach aussen hin gab Ralf sich stets bärbeißig, doch er würde nicht mal eine Mücke erschlagen. Alles, was atmete, drückte er liebevoll an seine breite Brust.

„Miezi kann ja im Grunde nichts dafür. Aber ich bin froh, dass Frau Reuter heute zurückkommt.“

Ein hektischer Dr. Rettig nahm Inga die Gipsschiene ab, testete ihre Reflexe und schickte sie zum Röntgen. Auf dem Rückweg kam ihr der gutaussehende Oberarzt entgegen. Er stutzte und warf einen Blick auf ihren linken Arm. „Wo ist denn Ihr Gips?“

„Doktor Rettig hat ...“

„Einen Moment.“ Mit beherrschter Miene und langen Schritten verschwand er in Richtung der Röntgenabteilung.

Inga schwante nichts Gutes. Zwar hatte sie sich flüchtig gewundert, als ihre Hand ohne die Schiene bewegt und zurechtgelegt wurde, aber alles war so schnell gegangen. Und die Ärzte hier mussten doch wohl wissen, was sie taten?

Dr. Oliveira kehrte zurück und blieb mit ernstem Gesicht vor Inga stehen. Sie wusste es, bevor er es aussprach.

„Tja, der Bruch ist verrutscht. Ich habe mir Ihre Bilder angesehen. Wir könnten das theoretisch nochmal richten und es mit einer neuen Schiene versuchen, aber ...“

Inga fühlte sich wie betäubt. Also doch eine Operation. Dieser blöde Pfuscher! Ob sie gleich hierbleiben musste? Wie sollte sie das alles organisieren? Ihr Job, die Kunden ... völlig unmöglich. Sie hatte nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln dabei. Die Ponybesitzer waren zum Glück wieder zu Hause, aber da blieben immer noch ihre Meerschweinchen ... Andererseits - was, wenn sie aus reiner Ungeduld einen bleibenden Schaden riskierte? Und mit der operierten Hand würde sie mehr arbeiten dürfen als mit dem Gips ...

Dr. Oliveira stand abwartend da, die Hände in die Taschen seines weißen Kittels vergraben, und schaute auf sie herunter. Lächelte dieser schreckliche Mensch denn nie? Inga riss sich zusammen und nickte stumm.

„Gut. Sie sind wahrscheinlich am späten Nachmittag dran, je nachdem, wie viele Notfälle dazwischen kommen. In drei Tagen können Sie wieder nach Hause. Eine Schwester holt Sie ab und bringt Sie auf Ihr Zimmer.“

Inga stand mit zitternden Knien auf und atmete tief durch. Im Hintergrund schlich Dr. Rettig über den Flur, nicht ganz so selbstbewusst wie zuvor. Blitzschnell drehte sie sich zum Oberarzt herum, hätte am liebsten mit beiden Händen den Kragen seines Kittels gepackt und sich an ihm festgeklammert.

„Dieser Rettig operiert mich aber nicht!“

Dr. Oliveira sah Inga fest in die Augen. „Ich operiere Sie selbst.“

Kurz vor Mitternacht schob eine betont muntere Krankenschwester Ingas Bett in den Operationbereich und half einer Kollegin, die Patientin auf einen OP-Tisch umzulagern. Inga konnte beim besten Willen nicht begreifen, wozu das gut sein sollte. Schließlich hatte sie sich nicht die Beine gebrochen. Von dem Moment an, als sie auf die Station gekommen war, hatte man sie wie ein schwachsinniges Kind behandelt. Da sie privat versichert war, hatte die Dame in der Aufnahme suggeriert:

„Sie haben doch sicher Anspruch auf Chefarztbehandlung und Einzelzimmer?“

Nach einem Blick durch die Glastür in die überfüllte Station überschlug Inga die Konsequenzen. Man würde kurzerhand drei andere Patienten auf den Flur schieben, um ein Zimmer für sie frei zu machen. Außerdem wollte sie überhaupt nicht vom Chefarzt operiert werden. Womöglich war der so mit dem Schütteln von Privatpatientenhänden beschäftigt, dass er über weniger Routine verfügte als sein Fußvolk. Jedenfalls stellte er eine unbekannte Größe dar. Inga fühlte sich nicht mehr in geneigter Stimmung für unbekannte Größen. Sie blieb lieber bei dem Oberarzt. Der benahm sich zwar nicht übermäßig freundlich, doch er schien wenigstens seinen Job zu beherrschen.

„Nein, habe ich nicht“, log sie.

Nun teilte sie ein enges Zimmer mit einer jungen Frau aus Russland, die wegen zweier angebrochener Wirbel ein Korsett trug, einer reizenden kleinen Omi mit gebrochener Schulter und einer mürrischen Dicken, die kein Wort sagte.

Der entsetzliche Dr. Rettig traute sich tatsächlich noch einmal zu ihr hinein und nahm ihr etliche Röhrchen Blut ab, wobei er ununterbrochen redete und einen aufdringlichen Geruch nach Aftershave verbreitete. Inga begann sich gerade zu fragen, warum ein Arzt sich mit einer solchen Arbeit aufhielt - da machte er sie wortreich darauf aufmerksam, dass der Knochen sich vermutlich bereits vorher verschoben habe und sie niemandem ein Verschulden würde nachweisen können. Aha. Nach dem Einlauf, den dieses Frettchen zweifellos von Dr. Oliveira empfangen hatte, wurde nun die Gelegenheit genutzt, um sich wieder in eine günstigere Position zu manövrieren. Nun fing Rettig auch noch mit bissigen Bemerkungen über den Oberarzt an. Er glaubte doch nicht im Ernst, dadurch besser dazustehen? Inga wäre es lieber gewesen, wenn der Arzt seine Energie auf die Heilung ihrer Hand gerichtet hätte.

Sie rief Hilke an, die zum Glück sofort ans Telefon ging. Hilke zeigte sich voller Mitgefühl und bereit, Rettig bei nächster Gelegenheit zu verhauen. Eine Aufgabe, der die kräftige Hilke im Gegensatz zu ihrem friedfertigen Mann durchaus gewachsen schien. Vorerst jedoch würde sie die Fütterung der Meerschweinchen organisieren und dafür sorgen, dass jemand die notwendigsten Sachen zu Inga ins Krankenhaus brachte.

Das Erste, was Inga im Operationssaal auffiel, war ein dicker, alter Mann, der zusammengesunken auf einem Drehstuhl mitten im Raum hockte und von der OP-Pflegerin durch leichtes Rütteln an der Schulter geweckt wurde.

Um Himmels Willen, dachte Inga und schoss in die Senkrechte, nun hab ich doch den Chefarzt erwischt, und der ist schon völlig fertig.

Da beugte sich eine andere grüne Gestalt über sie, drückte ihren gesunden Arm und sagte:

„Ich bin da. Es ist alles gut.“

Gerettet. Zutiefst erleichtert sank Inga wieder zurück. Seine dunkelbraunen Augen über dem Mundschutz schauten sie beruhigend und ein wenig spöttisch an. Dann tat das Narkosemittel seine Wirkung, der Anästhesist rückte ihre Sauerstoffmaske zurecht und die grün gekachelten Wände verschwammen im Nebel.

Inga verschlief den gesamten folgenden Tag. Sie nahm undeutlich wahr, wie man ihr Medikamente verabreichte, weiße Kittel ein und aus gingen und eine große Tasche neben ihrem Bett abgestellt wurde. Als sie jemanden sagen hörte, sie könne voraussichtlich am Freitag entlassen werden, wachte sie kurz auf und protestierte.

„Am Donnerstag! Drei Tage, hat Dr. Oliveira gesagt.“

„Na, wenn Dr. Oliveira das gesagt hat ...“, murmelte einer der Ärzte der Visite ironisch.

Inga hörte ihn nicht mehr. Sie war schon wieder eingeschlafen.

Robson Oliveira betrat mit einer Brötchentüte in der Hand und der taz unter dem Arm seine Penthauswohnung in der Ilmenaustraße. Wenn sein Dienst erst am Nachmittag begann, gönnte er sich eine Stunde mehr Schlaf, joggte zwölf Kilometer und lief auf dem Rückweg beim Bäcker vorbei. Er warf seine verschwitzten Sportklamotten in die Ecke, aus der seine Putzfrau sie später aufsammeln würde, und stellte sich unter die Dusche. Aah, das tat gut. Bei dieser Kälte war er keinem einzigen anderen Läufer begegnet. Doch Rob ließ sich weder durch glatten Schnee, noch durch Regen oder drückende Hitze von seinem Training abhalten. Nächstes Jahr wurde er fünfzig, und er war stolz darauf, dass man es ihm bei Weitem nicht anmerkte. Teufel, er konnte es locker mit den meisten Vierzigjährigen aufnehmen. Einen Bandkumpel hatte er letztens beim Squash in Grund und Boden gespielt, und der war erst fünfunddreißig.

In der Klinik waren sie jetzt mit der Visite durch. Wie es wohl der hellblonden Frau ging, die er als Vorletzte operiert hatte? Die OP war reine Routine gewesen, für die drei-Loch-Platte und sechs Schrauben hatte er neunundvierzig Minuten gebraucht. Aber er hatte ihr Gesicht mit den kornblumenblauen, vor Angst geweiteten Augen nicht vergessen können und zum Feierabend heimlich nach ihr gesehen. Rob war froh gewesen, dass es ihr offensichtlich gut ging. Und dass ihn niemand bemerkt hatte. Wenn er mit dem Chef über diesen Schwachkopf Rettig sprach, würde er verdammt vorsichtig sein müssen. Er wusste nur allzu gut, dass er auf dem besten Wege war, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Wieder einmal. Hatte er denn gar nichts aus dem Spießrutenlaufen gelernt, den inquisitorischen Befragungen vor der Ärztekammer, der Gerichtsverhandlung? Mittlerweile sollte er doch alt genug sein, sich wenigstens neue Dummheiten auszudenken anstatt dieselben zu wiederholen.

Junge, reiß dich bloß zusammen, mahnte er sich und stellte den Hebel der Duscharmatur auf ‚kalt’.

Am Morgen ihres zweiten Krankenhaustages wachte Inga davon auf, dass jemand einen Strauß Moosröschen und Statice auf ihrem Nachttisch arrangierte. Rosa-pink-blau leuchteten die Blumen im Sonnenlicht.

„Hallo, du kleine Schlafmütze.“ Sabije stupste die Freundin an, damit sie ihr Platz machte, und hockte sich auf die Bettkante. „Wie geht es dir? Du siehst furchtbar aus.“

„Ich fühl mich wie etwas, das die Katze ins Haus geschleppt hat. Aber ich glaub, mir geht’s ganz gut. Musst du nicht arbeiten? Was für ein Tag ist heute?“

„Es ist zwanzig vor neun am Mittwochmorgen, und ich bin schon so gut wie weg. Ich war gestern kurz hier und habe dir diese Blumen gebracht, aber du hast geschlafen wie ein Murmeltier.“

„Sie sind wunderschön. Danke, Sabe.“

Sabije verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung und stöckelte hinaus. Wenn sie so aufgebrezelt auftrat, musste es sich um einen wichtigen Termin handeln. Inga überprüfte ihre eigene Aufmachung und stöhnte. Sie trug immer noch das lächerliche, hinten offene Hemdchen und den schrecklichen Einwegslip. Die grüne Kopfbedeckung hatte ihr eine barmherzige Seele abgenommen, doch ihr Haar hing ungepflegt herunter. Was von ihrer linken Hand aus dem Verband herausschaute, war jodverschmiert, auch die Vorderseite ihres Nachthemdes wies orangefarbene Schlieren auf. ‚Furchtbar’ schien noch stark untertrieben. Inga schwang ihre Beine aus dem Bett und bemerkte die Tasche. Darin fand sie ihr Waschzeug, Kleidung zum Wechseln, Bücher und einen Zettel:

‚Gute Besserung und alles Liebe,

Hilke + Ralf’

Lächelnd tappte sie unter die Dusche. Was für eine Erleichterung! Den linken Arm hoch über ihren Kopf gereckt schaffte sie es, sich die Haare zu waschen und ihre eigene Kleidung anzuziehen. Hilke hatte nicht zusammen passende Unterwäsche herausgesucht, ein langärmeliges Ringelshirt und eine bequeme Cordjeans. Inga fühlte sich wie neu geboren als sie wieder auf ihrem Bett saß, die langen hellblonden Haare frisch gekämmt, und nach einem Buch griff.

So fand Robson sie vor, als er wenig später mit dem üblichen Tross zur Visite herein platzte. Hellwach, gut gelaunt und leicht nach einem blumigen Duschgel duftend. Wäre der Verband nicht gewesen, hätte man sie für kerngesund halten können. Vergnügt lächelte sie ihn an.

„Sie sind doch die Dame mit der Hand ...?“ Er konnte kaum die Augen von ihr lassen. Rasch brachte er sich hinter geschäftsmäßigen Themen in Sicherheit. Operationsverlauf, Nachuntersuchungen, Krankengymnastik ... Während Rob mit seinen Kollegen von einer Patientin zur anderen ging, schielte er unauffällig zu ihr herüber. Doch sie, in ihre Lektüre vertieft, schaute nicht hoch. Im Hinausgehen warf er einen Blick auf die Bücher auf ihrem Nachttisch. ‚The Audacity of Hope’ von Barack Obama und eine Gandhi-Biografie.

„Mann, die ist echt Wahnsinn”, kam es von einem der Medizinstudenten, als sie wieder auf dem Flur standen.

„Wen meinen Sie?“ fragte Robson betont gleichgültig und wandte sich dem nächsten Raum zu.

Da schlenderte ihnen Dr. Rettig entgegen. Rob behielt seinen Weg und das Tempo unverändert bei, so dass Rettig gezwungen war, ihm auszuweichen. Statt jedoch empört oder zumindest irritiert zu wirken, grinste Rettig ihn höhnisch an. Fast so, als ob er etwas wusste, was Robson erst noch erfahren - und nicht mögen würde.

Mit einem großen Pott heissem Kakao saß Inga im alten Lehnsessel vor dem Ofen. Draussen peitschten Sturm und Regen um das Haus, drehten die Pferde ihre Hinterteile gegen den Wind. Die Katzen staksten mit hochgezogenen Pfoten und missbilligenden Gesichtern durch die nassen Wiesen, bemüht, so schnell ins Trockene zu gelangen, wie eine würdevolle Haltung es zuließ. Umso gemütlicher war es im warmem Haus. Nach den Tagen im Krankenhaus fühlte es sich wie das Paradies an.

Dem armen Muttchen neben Inga war es furchtbar schlecht gegangen. Da die Krankenbetten nur durch einen vierzig Zentimeter breiten Nachttisch voneinander getrennt gestanden hatten, war es Inga vorgekommen, als habe die Benutzung der Bettpfanne oder das Erbrechen in ihrem eigenen Bett stattgefunden. Das kleine Zimmer war stickig, weil die Russin bei offenem Fenster umgehend anfing zu frieren. Herrschten nicht in Russland Temperaturen von minus vierzig Grad? Inga machte sich immer wieder bewusst, wie vergleichsweise gut es ihr selbst ging: Kaum Schmerzen, die Möglichkeit, aufzustehen und ins Bad zu gehen ... Dennoch zählte sie die Stunden bis zu ihrer Entlassung.

Jetzt reckte sie sich wohlig und zog ihr Laptop auf den Schoß. Einen Vorteil hatte die Operation gehabt, das musste sie zugeben: Sie konnte ihre Hand benutzen und wenigstens ein paar Stunden täglich am Computer arbeiten, versuchen, den Unmut der Werbeagentur in Grenzen zu halten.

Der Bruch heilte gut. Zwei Kontrolltermine, nach einer und nach zwei Wochen, waren zufriedenstellend verlaufen. Die Bürokratie in der Klinik bedeutete jedoch immer wieder eine harte Geduldsprobe. Zwei verschiedene Röntgenbereiche, die Unfallambulanz, die Chirurgie um den Chefarzt und ein auswärtiger Chirurg bildeten ein undurchschaubares Geflecht aus teils einseitigen, teils rivalisierenden Verbindungen. Inga hasste es, an immer neue Ärzte zu geraten, die sie nie zuvor gesehen hatte. Ihr Auto brachte sie stets zum selben Mechaniker ihres Vertrauens, aber was ihre eigene Gesundheit anging, reichte man sie nun durch wie ein Maschinenteil. Und jeder erzählte ihr etwas anderes: Sie solle auf jeden Fall einen Chirurgen konsultieren. Sie solle sich lieber an einen Radiologen wenden. Sie könne in die Sprechstunde der Chefarztabteilung kommen. Sie müsse zum externen Chirurgen gehen ...

Schließlich begegnete Inga am Zeitungskiosk im Erdgeschoss ihrem rettenden Engel. Sie griff nach demselben Schokoriegel, nach dem gleichzeitig eine Frau mit zerzausten, rotblonden Locken die Hand ausstreckte. Die beiden Frauen sahen sich an und lachten.

„Ich brauche unbedingt was für meine Nerven“, schimpfte die Rotgelockte fröhlich.

„Haben Sie auch Ärger mit der Radiologie?“ Das konnte Inga nun wahrhaftig nachfühlen.

„Nein, mit den Chirurgen. Genauer gesagt, mit einem von ihnen ...“

Es stellte sich heraus, dass die Rothaarige Sekretärin und Mädchen für alles des Chefarztes der Chirurgischen Abteilung war. Außerdem unglücklich verliebt in einen der Ärzte, der für sie unerreichbar schien. Die Frauen schütteten einander ihr Herz aus wie es manchmal passiert, wenn zwei fremde Menschen im seelischen Ausnahmezustand einander sympathisch finden. Zum Abschied bot sie an: „Melden Sie sich das nächste Mal direkt bei mir, und ich schleuse sie durch. Fragen Sie nach Bärbel Lohmann.“

Das Telefon klingelte. Inga stellte ihren Kakao vorsichtig auf den Fußschemel.

„Hallo, Inga. Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht.“

„Hallo, Sandra. Hier ist alles in Ordnung - und bei dir?“ Inga bemühte sich um einen freundlichen Ton, während sie innerlich mit den Zähnen knirschte. Ihre Schwester Sandra, drei Jahre älter und in Frankfurt mit einem Zöllner verheiratet, befand sich auf telefonischer Patroille. Inga ahnte, was gleich kommen würde, und wappnete sich.

„In Ordnung nennst du das, wenn du mit gebrochenem Arm ganz allein in der Pampa sitzt? Mutter hat mir alles erzählt. Du hättest mit dem armen Detlef nicht so hart sein sollen, dann wäre das alles nicht passiert.“

Wenn ich die Wahl hätte, noch eine einzige Nacht bei Detlef zu schlafen oder mir auch den anderen Arm zu brechen, wüsste ich, was ich nehmen würde, dachte Inga. Merkwürdig ... so klar hatte sie das bis jetzt nicht empfunden. Wenigstens in diesem Bereich schien sie Fortschritte zu machen. „Ich habe sehr gute Freunde, die sich um mich küm- “

„Du meinst ja wohl nicht diese stinkenden Hinterwäldler, die in deinem Kaff hausen?“ Sandra lachte schrill. „Schafhirten und Randalierer - ich bitte dich! Würd mich nicht wundern, wenn dich dieser Umgang irgendwann deine Stellung in der Agentur kostet ...“

Das war wieder typisch Sandra, den Finger zielsicher in die offene Wunde zu legen und darin zu bohren. Inga fragte sich wohl zum hundertsten Mal, welchen Vorteil die Schwester sich dadurch versprach. Seit sie denken konnte, hatte Sandra ihr alles geneidet: Ihre Monchichi-Puppen, das rosa Fahrrad, ihre hellblonden langen Haare, die Freundschaft mit der Tochter des Süßwarenverkäufers ... Was Sandra ihr nicht wegnehmen konnte, hatte sie kaputt gemacht. Inga hegte den Verdacht, dass lediglich die große Entfernung sie mittlerweile daran hinderte, ihr beruflich zu schaden oder sich an ihre Freunde heranzumachen. Es blieb ein genetisches Rätsel, wie aus der Verbindung zweier freundlicher Elternteile ein derart scharfzüngiges Ekel hervorgehen konnte. Bei Sandras Erscheinen nahm die gesamte Verwandtschaft unwillkürlich Haltung an und atmete erst wieder aus, wenn sie den Raum verließ.

Ben, jüngerer Bruder und schwarzes Schaf der Familie, hatte einmal hinter ihrem entschwindenden Rücken ein ‚rührt euch!’ gemurmelt und beinahe einen Familienkrieg ausgelöst. Er war es aber auch, der die einzig wirksame Methode fand, der ältesten Schwester Paroli zu bieten. Inga und die Eltern lernten den Kniff schnell und betrachteten daraufhin Ben, den jungen Nichtsnutz, mit ganz anderen Augen.

„Du hast sicher Recht, Sandra“, flötete Inga nun nach der ben`schen Methode, „Ich werde darüber nachdenken.“

Was sie nicht beabsichtigte. Was wiederum Sandra argwöhnte, doch schwerlich beeinflussen konnte.

„Nun, ich hoffe, du findest bald einen passenderen Umgang. Bis dahin gute Besserung.“

„Ja, danke. Tschüs.“ Inga seufzte. Wenn es nach ihr ginge, würde sie lieber heute als morgen jeglichen Kontakt mit dieser Frau abbrechen. Aber das konnte sie den Eltern nicht antun. Erstens, weil diese noch größere Schuldgefühle bekommen würden, bei der Erziehung ihres ältesten Kindes versagt zu haben. Und zweitens, weil den beiden eine entsprechend höhere Dosis boshafter Bemerkungen zuteil würde, wenn eine Abnehmerin wegfiele.

Nach diesem deprimierenden Gespräch brauchte Inga dringend Zuspruch von einer befreundeten Seele. Sabije befand sich noch bei Gericht. Sie wählte ihre ‚Nummer für alle Fälle’ in Hamburg.

„Neverland Cut“, meldete sich eine Männerstimme mit professioneller Herzlichkeit.

„Jörg, wie sieht`s aus bei dir? Hast du ´n Moment Zeit?“

„Für dich immer, mein Goldstück.“ Seine Stimme klang sofort um mindestens zehn Grad wärmer. Inga hörte ihn über die Hintergrundgeräusche des Frisörsalons hinweg einige kurze Anweisungen geben. Dann das Zischen der Kaffeemaschine, Porzellangeklapper. Sie sah ihren Kumpel Jörg vor sich, wie er einen Milchkaffee zubereitete, ihn in sein winziges Büro balancierte, das gleichzeitig als Aufenthaltsraum und Hundezwinger diente, und die Tür hinter sich anlehnte. Jörg machte niemals eine Tür ganz zu, um seinen Angestellten das Gefühl zu geben, jederzeit ansprechbar zu sein. Irgendwann hatte ihn ein Freund darauf hingewiesen, dass es leicht als übertriebene Fürsorge ausgelegt werden könne, wenn er diesen Tick auf die Toilettenräume ausdehnte.

„So, jetzt bin ich ganz dein.“ Jörg machte es sich in seinem abgewetzten Schreibtischsessel gemütlich. Inga hörte das Knarzen des alte Leders, welches sich der Körperfülle seines Besitzers anpasste.

„Wie geht es dir, Figaro?“

„Oh, bestens. Den Hamburgern wachsen unaufhörlich die Haare nach, man kann kaum dagegen an schneiden. Und wie sieht`s bei dir aus? Seid Ihr in Marunthien noch im Winterschlaf?“ Er klang merkwürdig aufgedreht, was bedeutete, dass ihm etwas auf die Seele drückte. Doch das würde er niemals direkt zugeben. Inga musste es langsam aus ihm herauslocken, wie einen Einsiedlerkrebs aus einem Schneckenhaus.

„Hab mir die Hand gebrochen, vielmehr den Arm. Ist aber halb so wild.“

„Waas?! Wann? Kann ich dir irgendwie helfen? Nimm dir eine Haushaltshilfe, ich zahle. Taugen deine Ärzte was? Wird das wieder richtig heilen?“ Jörg verschluckte sich fast vor Schreck.

Inga beruhigte ihn damit, dass der Unfall schon eine Weile her und alles unter Kontrolle sei. Bis auf ihren Job natürlich, den bevorstehenden Umzug und ihr Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Aber mehr als eine schlechte Nachricht pro Tag verkraftete sein sensibles Gemüt nicht. Unter der Art, wie Detlef damals Inga behandelt hatte, hatte Jörg womöglich stärker gelitten als sie selbst.

„Da kannst du mal sehen, wie selten wir uns treffen. Das müssen wir sofort ändern. Ich führe dich zu einem sündteuren Stadtbummel mit Essen im Maritim aus, mindestens. Wann kannst du kommen?“

Inga angelte nach ihrem Terminkalender und trug die Verabredung dick unterstrichen ein. Am anderen Ende der Leitung gab es ein hastiges Gemurmel.

„Tut mir furchtbar leid, Goldstück, aber eben ist so eine neureiche Fregatte aus Blankenese eingelaufen. Die wird mir den ganzen Laden verrückt machen, wenn ich sie nicht sofort hofiere. Bis dann ... leg deinen Arm hoch. Ciao.“

Irgend etwas in seiner Stimme verriet Inga, dass es dem angesagtesten Haarstylisten der Hamburger Pfeffersäcke gerade ziemlich dreckig ging.

Robson Oliveira überflog seine Termine für den nächsten Tag. Besprechung mit den Assistenzärzten, Visite, Sprechstunde. Überwiegend Nachuntersuchungen von Knochenbrüchen, saisonbedingt kaum überraschend. Moment mal ... Robson stutzte. Inga Döring - das war doch die blonde Dame mit der Hand? Hoffentlich ging es ihr gut. Wo sie wohl wohnte? In einem Dorf, in dem es Kirschbäume gab ... Robson lächelte. Doch er wusste, dass er nicht so ohne Weiteres ihre Adressdaten im Computer aufrufen durfte. Nach ihrem Alter zu schauen war schon grenzwertig gewesen. Er hatte sich felsenfest vorgenommen, sie zu vergessen, doch offensichtlich hatte das nicht besonders gut funktioniert. Rob hätte sich gerne mit ihr unterhalten, zum Beispiel über die Bücher, die sie las. Ehrlich gesagt interessierte er sich für mehr als eine Unterhaltung ... Ach, was soll`s, dachte er, gegen ein bisschen Smalltalk während der Untersuchung ist wohl kaum etwas einzuwenden. Rob sammelte seine Siebensachen ein und verließ die Klinik.

Abends, als er bei den Proben mit seiner Rockband den Text von ‚I Would Do Anything For Love’ in den staubigen alten Festsaal von Carl`s Kneipe hinein sang, dachte er an die hellblonde Frau, die in ihr Buch versunken auf dem Krankenbett gesessen hatte, und die er in wenigen Stunden wiedersehen würde.

Die anderen Bandmitglieder nickten einander anerkennend zu: Ihr Frontmann konnte singen, das war mal sicher.

Inga klopfte an den offenen Türrahmen vom Chefarztsekretariat und wurde von Bärbel Lohmann mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Wie versprochen hatte sie Ingas Termin vorbereitet.

„Gehen Sie direkt durch ins Wartezimmer der Radiologie. Sie brauchen sich nicht anmelden, nichts ausfüllen, nur röntgen lassen und danach direkt vor diesem Büro hier Platz nehmen. Ich hab Sie bei Dr. Oliveira eingetragen.“

Das Telefon klingelte, und mit einer entschuldigenden Handbewegung nahm Frau Lohmann ab. So eine Nette. Inga beschloss, sich bei nächster Gelegenheit für ihre Hilfe zu bedanken. Beim Oberarzt würde sie jetzt in besten Händen sein. Warum fühlte sie sich dann so flatterig? Inga schwebte fast durch den Flur und durchquerte die belebte Eingangshalle. Trotz der vielen Menschen nahm sie plötzlich aus den Augenwinkeln einen weißen Kittel wahr, der aus einer Tür im Hintergrund trat. Instinktiv wusste sie: Das war er. Jetzt ganz cool bleiben, nur nicht wie ein Schulmädchen reagieren. Es gelang Inga, ohne zu stocken weiterzulaufen.

„He, Sie sind doch die Dame mit der Hand ...“, scholl es hinter ihr. Äußerlich gelassen drehte sie sich um und sah Dr. Oliveira quer durch die Halle auf sie zu eilen. In seiner effizienten Art schüttelte er ihr zur Begrüßung behutsam die linke Hand und prüfte gleichzeitig deren Heilungszustand.

„Und? Wie sieht`s aus?“ Er sah ihr tief in die Augen.

Versteckte sich da ein Lächeln, oder bildete sie sich das nur ein?

„Oh, ich glaube ganz gut. Ich hab gleich einen Termin bei Ihnen.“ Inga konnte sich nicht erklären, was sie an ihm fand. Besonders charmant war er ja nicht. Wenn er überhaupt mal eine Miene verzog, dann durch ein ironisches Zucken des Mundwinkels. Zugegeben, eines sehr sinnlichen Mundwinkels. Sie hegte den dringenden Verdacht, dass sich dieser Oliveira dessen allzu bewusst war, und das ärgerte sie. Vergiss es, Freundchen, ich werde dich nicht anschmachten.

„Also dann bis gleich.“ Anmutig entzog sie ihm ihre Hand, die er immer noch festhielt, und setzte ihren Weg fort.

Robson blieb verwirrt zurück. Wie konnte eine einzige Person gleichzeitig so bezaubernd und so abweisend sein? Sie ließ ihn tatsächlich einfach stehen. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm dies das letzte Mal passiert war. Hatte er das nötig? Am Wochenende würde er in Hamburg auftreten, wie immer mit einer ganzen Schar Groupies am Bühnenausgang. Doch diese belanglosen Flirts (na gut, mehr als nur Flirts) verloren zunehmend an Reiz. Nur wenige Frauen besaßen eine so sprühende Art, dieses gewisse Etwas ... Amüsiert über sich selbst stellte Robson fest, dass er immer noch mitten in der Eingangshalle stand und ihr nachschaute.

Als Inga wenig später Dr. Oliveira im Behandlungsraum gegenüber saß, schien dieser sich ganz auf die Untersuchung zu konzentrieren. Zwei routinierte Handgriffe, und er hatte den Knackpunkt gefunden.

„Die Beweglichkeit der Finger ist in Ordnung. Die Kraft, die Sie in der Hand haben, auch. Aber für ihr Handgelenk müssen Sie was tun, dringend! Bekommen Sie Krankengymnastik?“

„Ja, natürlich ...“

„Was machen die denn mit Ihnen? Wenn Sie nicht sofort richtig Gas geben, bleibt das Gelenk für immer steif! Es lässt sich kaum hierhin biegen ... und die Beweglichkeit in diese Richtung ... das geht ja gar nicht! Belasten Sie, dehnen Sie! Kennen Sie Liegestütze?“

„Nur vom Hörensagen ...“

Dr. Oliveira geriet jetzt richtig in Fahrt. Er sprang von seinem Stuhl, warf sich vor Inga auf den Boden und gab eine praktische Demonstration. Es sah mühelos aus.

„So. Alles klar?“ Er staubte seine Hände ab und setzte sich wieder. „Haben Sie noch Fragen?“

Ja: Würden Sie mir eine private Trainingsstunde in meinem Schlafzimmer geben, dachte Inga. Oder: Erklären Sie mir das doch nochmal in Ruhe bei einem Bier. Nein, besser: Sie gefallen mir in dieser Position, so zu meinen Füßen. Was hatte sie nicht später für originelle, schlagfertige Antworten parat. Doch in diesem Moment brachte sie nichts anderes heraus als: „Ehm ... Sie haben gesagt, dass ich die Platte nicht für immer im Arm behalten muss. Wann ... wann kann das Metall wieder raus?“

„In sechs Monaten, wenn der Bruch weiterhin gut zusammenwächst. Wir würden dann kurz vorher nochmal eine Kontrolle machen. Möchten Sie einen Termin?“

Für einen gemeinsamen Kaffee, oder was meint der jetzt, stutzte Inga. Natürlich für die Untersuchung. Himmel! Dieser Kerl brachte sie aus dem Konzept, und sie konnte nicht einmal sagen, womit. Als er eine Bemerkung darüber machte, dass er in der vorhandenen Narbe schneiden und diese beim nächsten Mal vielleicht etwas schöner hinbekommen würde, platzte Inga heraus:

„Sieht wirklich ein bisschen nach Handarbeitsunterricht der fünften Klasse aus.“

„Es war ja auch verdammt spät an dem Abend, und wir waren alle müde“, schoss Oliveira zurück.

Du meine Güte, was rede ich da, dachte Inga erschrocken.

Bin ich denn verrückt geworden, dachte Robson, so einen Spruch loszulassen.

Sie funkelten einander an wie zwei Kampfhähne. Zwischen ihnen vibrierte die Luft. Fast mit Händen greifbar hatte sich eine knisternde Energie, eine Gewitterstimmung aufgebaut, die sich nur in einem leidenschaftlichen Kuss oder einer schallenden Ohrfeige entladen konnte. Wer würde den ersten Schritt wagen? Herausfordernde Blicke flogen hin und her: Du zuerst. Sag ‚feige’. Raum und Zeit schienen den Atem anzuhalten.

Ein kurzes, hartes Klopfen an der Tür und drei Personen, die sich hinein drängten, rissen Rob und Inga in die Wirklichkeit zurück.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege, wir müssten leider mal ganz kurz ...“. Der Chefarzt wandte sich einem Computerbildschirm zu, um Daten für eine Fallbesprechung aufzurufen. Neben ihm stand Dr. Prudens, schräg dahinter Frau Lohmann mit gezücktem Notizblock.

Diese sah erst Inga, dann Dr. Oliveira aufmerksam an. Irgend etwas war hier im Busch. Hoffentlich hatte die Patientin sich nicht in den größten Frauenschwarm der Klinik verliebt.

Dr. Prudens, der ihren Blick zu Dr. Oliveira hinüber falsch deutete, biss die Zähne zusammen. Von Bärbel, für die er eine besondere Schwäche besaß, hätte er irgendwie mehr erwartet. Frustriert wandte er sich von ihren entzückenden Sommersprossen ab und dem Monitor zu.

„Schon in Ordnung. Wir sind gerade fertig geworden“, antwortete Robson geistesgegenwärtig und erhob sich.

Inga wünschte inständig, wenigstens halb so souverän reagieren zu können. Stattdessen fühlte sie, wie ihr Gesicht rot anlief und ihr Mund trocken wurde. Sie musste sich zwingen, nicht hastig aufzuspringen. Blindlings angelte sie nach ihrer Tasche und drückte sich zur Tür hinaus.

Mit immer noch bis zum Halse pochendem Herzen durchquerte Inga eilig den Clamart-Park. Sie lief durch die Rote Straße, Kleine und Große Bäckerstraße, über den Marktplatz und die Burmeisterstraße entlang bis in Sabijes Kanzlei, wo sie sich nach Atem und Fassung ringend an den Empfangstresen lehnte. Gottlob, die Sekretärin erfasste die Lage mit einem Blick.

„Hallo, Frau Döring. Frau Rahmani müsste jeden Moment zurück sein. Sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn Sie in ihrem Büro warten. Gehen Sie nur durch ...“

Dankbar flüchtete Inga in den behaglichen Raum im hinteren Bereich der Kanzlei, in dem Orient und Okzident sich trafen. Zu aufgewühlt, um sich zu setzen, wanderte sie langsam hin und her. Bei jedem Besuch freute sie sich an den üppigen Pflanzen und farbenprächtigen albanischen Teppichen, an einer fein verzierten Lampe, einer osmanischen Schale. Sitzbezüge und Gardinen nahmen einzelne Farben der Teppiche wieder auf. Um den Eindruck von Exotik nicht zu übertreiben, waren die Möbel dagegen schlicht und modern gehalten. Der Schreibtisch und das große Regal mit Fachliteratur strahlten Sachlichkeit und Kompetenz aus. Inga schien es, als vereine dieses Büro genau wie seine Besitzerin in sich alle Vorzüge der verschiedenen Länder und Kulturen, die sie geprägt hatten.

Sie bemerkte, wie die Anspannung von ihr abfiel, während sie die Hand nach der Misbaha, die Gebetskette, ausstreckte, die stets in einem hölzernen Kästchen auf dem Schreibtisch bereit lag. Langsam ließ sie Perle für Perle durch ihre Finger gleiten. Es gibt keinen Gott außer Allah ... Merkwürdig, dachte Inga, dass jede Religion sich für die einzig wahre hält und sie sich doch so ähneln. Ob Imam, Priester oder Rabbi - stets bleibt es männlichen Stimmen vorbehalten, Gott anzurufen.

„Ahlan wa-sahlan. Willkommen.“ Sabije betrat das Büro, legte ihre Aktentasche auf einen Stuhl und umarmte Inga herzlich.

„Schön, dass du mich besuchst. Ich habe eine Stunde Zeit. Wollen wir zum Italiener rüber oder uns etwas liefern lassen? Ich muss dir unbedingt von Magnus erzählen.“

„Lieber was liefern lassen. Wer ist Magnus?“

„Ein sehr sympathischer Spezialist für Einschusslöcher. Moment ...“, Sabije drückte eine Taste an ihrem Telefon.

„Gemma, bitte bestellen Sie uns eine kleine Pizza Piccante und ...“, sie sah fragend zu Inga herüber.

„Eine Pizza Spinaci, bitte. Auch eine kleine.“

„Haben Sie das? Danke.“ Sabe wandte sich wieder an ihre Freundin. „Nun sprich dich aus. Was ist passiert?“

„Woher weißt du nur immer so schnell Bescheid?“

„Dein Gesicht hat es mir sofort verraten. Und die Perlen. Jedes Mal, wenn du die Misbaha zur Hand nimmst, bist du wegen irgend etwas sehr erregt. Bevor du mir nicht gesagt hast, was es ist, kann ich dir mein kleines Erlebnis nicht erzählen.“

Nachdem Inga ihre Untersuchung ausführlich geschildert hatte, berichtete Sabije von einer vielversprechenden Verabredung mit dem erwähnten Magnus, schien aber nicht ganz bei der Sache. Sie kam wieder auf Ingas Untersuchung zurück. „Wie wird es denn jetzt weitergehen? Macht die Heilung Fortschritte?“

Inga registrierte, dass Sabe sich mit Bemerkungen über Dr. Oliveira zurückhielt und sich stattdessen auf die medizinische Seite konzentrierte. Irgend etwas schien an ihr zu nagen. Inga wusste, ihre Freundin würde nicht darüber sprechen. Nicht, bevor sie die Zeit als reif dafür befand.

„Meine Hausärztin sagt mir, ich soll schonen und hochlagern und kühlen“, seufzte Inga. „Der eine Krankengymnast vertröstet mich wochenlang. Der nächste zitiert Statistiken, wonach eher zuviel tun schadet als zu wenig. Ich bekomme von sechs Leuten zehn Meinungen, und das ist nicht annähernd so lustig, wie es sich anhört.“

„Und was sagt dir dein Bauch?“ Sabije stellte stets die richtigen Fragen.

„Wahrscheinlich sollte ich mir einen neuen Physiotherapeuten suchen und tatsächlich Gas geben, wie der Oberarzt gesagt hat. Nur - wen soll ich diesmal ausprobieren? In Lüneburg scheint es hunderte zu geben.“

„Marianne war bei einer kleinen Praxis in der Altstadt, und einen Klienten habe ich auch schon dorthin geschickt. Bis jetzt habe ich nur Gutes von diesem Therapeuten gehört. Seine Freundin ist bei Janne in der Tanzgruppe. Er heißt Levin. Michael Levin.“

Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel

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