Читать книгу Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp - Страница 5

drei

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„Die zahlen nicht.“

„Was?! Das können die nicht machen! Verflucht nochmal, Sabe, warum zum Teufel ...“

„Mama hat gesagt, man soll nicht fluchen.“ Anneke nahm es mit dem, was ihre Mutter Marianne sagte, noch sehr genau.

Inga, rechts und links je ein Shetlandpony am Strick, von denen jedes in eine andere Richtung dem saftigen Gras zustrebte, hielt ihr Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt und schrie nach dem Collie. In Gedanken überschlug sie hektisch, wie lange sie sich und die Meerschweinchen noch würde ernähren können, wenn ihr Geld aus der Agenturbeteiligung futsch wäre. Die beiden kleinen Mädchen auf den Shetties kreischten und lachten, der Hund bellte, und jetzt hupte auch noch ein Autofahrer hinter ihnen. Wenn man dabei nicht fluchen sollte, wann dann, fragte Inga sich. Nachdem sie ihre kleine Karawane zur Seite dirigiert, das Auto, dessen Fahrer freundlich winkte, vorbeigelassen und die Ponies am Straßenrand geparkt hatte (sollten sie doch einen Moment fressen, in Gottes Namen), versuchte sie es noch einmal.

„Sabije, bist du noch dran? Was hast du eben gesagt - die Agentur will mir meine Kohle nicht zurückzahlen?“

„Oh, die Geschäftsanteile schon. Aber sie versuchen, sich um deine Lohnzahlung zu drücken. Schließlich hast du eine reguläre Kündigungsfrist, und wenn sie dich bis zum Ende deines Arbeitsverhältnisses freistellen, ist das deren Sache. Du hast bis zum Schluss Anspruch auf deinen Lohn.“

Darüber hatte Inga noch gar nicht nachgedacht. Zwei volle Monatslöhne mehr auf dem Konto, das wäre nicht schlecht. „Und was nun?“

„Kannst du heute noch vorbeikommen und deine Unterlagen mitbringen?“

Inga verrenkte sich den Arm, um auf ihre Uhr sehen zu können, und überlegte. Bis mittags hatte sie die Kinder, um vier Krankengymnastik, abends sollte sie zu Mariannes Mann Geert kommen. „Passt es dir gegen halb drei?“

„Wunderbar. Sag mal, was ist das für ein Geschrei im Hintergrund? Jobbst du jetzt auch noch als Babysitter?“

„So was ähnliches. Mehr eine Art Raubtierdressur, und ich übe noch. Bis nachher.“

Mit den widerstrebenden Shetties im Schlepptau und einem umso eifrigeren Hund kehrte Inga ins Dorf zurück. Anneke und ihre Spielkameradin Melli rutschten von den blanken Pferderücken und halfen Inga, die Tiere zu versorgen. Anschließend kochten sie gemeinsam Nudeln mit Tomatensauce und zum Nachtisch Vanillepudding. Während sie in de Vries’ Küche wirtschaftete, die Mädchen in den Garten schickte, um Salat zu pflücken und Kräuter für die Sauce, stellte sie sich vor, es wären ihre Küche und ihre Kinder. Ihre eigenen Kinder, die mit frisch geerntetem Gemüse in den erdigen Händen zur Tür hereingetobt kamen, eifrig und stolz. Was für eine verrückte Idee, dachte Inga. Komplett abwegig ... und extrem verlockend.

Ihre frisch ausgelebten Hausfrauentriebe ließen Inga nicht nur Unterlagen in die Kanzlei mitnehmen, sondern auch einen selbstgebackenen Kuchen. Sabije hatte bereits alles Wesentliche vorbereitet, arbeitete rasch letzte Details aus Ingas Arbeitsvertrag ein und bat gleichzeitig per Telefon um frischen Kaffee. Als Gemma ihn brachte, reichte Inga ihr im Gegenzug einen Teller mit großen Stücken Nusskuchen.

„Hier, für Sie und die Kollegen.“

„Oh, vielen Dank, Frau Döring. Haben Sie den selber gebacken?“

„Ja - mein neuestes Hobby.“

Sabije unterschrieb schwungvoll das soeben ausgedruckte Dokument und gab es ihrer Kanzleiperle in die freie Hand.

„Das geht bitte heute noch an die Werbeagentur.“

„Einschreiben mit Rückschein?“

„Ja, warum nicht. Sie sollen ruhig bemerken, dass wir es ernst meinen.“

Anders als die meisten Anwaltskanzleien führte Sabije einen nicht zu straffen Terminplan, der ihr und ihren Mitarbeitern kleine Auszeiten und Puffer für Unerwartetes gewährte. Spontane Kaffeepausen mit selbstgebackenem Kuchen waren genau, was ihr dabei vorgeschwebt hatte.

„Hmm, köstlich. Du solltest Konditorin werden.“

„Im Moment ist bei mir alles möglich. Ich genieße es, mit den Händen zu arbeiten und ganz bodenständige Dinge zu tun: Ausmisten. Kochen. Stricken. Ja, lach nicht. Auf die Dauer werde ich bestimmt wieder auf die hohe Bildung zurückgreifen - spätestens, wenn mein Geld alle ist. Aber da meine hervorragende Rechtsanwältin sich für meine Finanzen einsetzt“, Inga grinste die Freundin verschmitzt an, „kann ich mich ohne Stress umschauen.“

„Hast du schon einen Plan? Ich meine - möchtest du in der Werbebranche bleiben? Oder etwas ganz anderes machen?“

„Zur Konkurrenz gehen und meine alten Kunden mitnehmen? Ich gebe zu, manchmal schien mir das verlockend. Allein schon die blöden Gesichter zu sehen und Detlef eine Lektion zu erteilen wäre es wert. Mittlerweile bin ich mir aber sicher, dass das nichts mehr für mich ist. Nee, was Kreatives wäre schon schön, aber in eine andere Richtung.“ Ingas Blick fiel auf die Uhr.

„Meine Güte, schon halb vier! Ich komme zu spät zur Krankengymnastik.“ Sie sprang auf und sammelte hastig ihre Kuchenplatte und die Aktenordner ein.

„Das wäre in der Tat eine mittlere Katastrophe“, neckte Sabije und half der Freundin, alle Sachen in ihrer geräumigen Stofftasche zu verstauen. „Lass uns bald wieder in Ruhe miteinander reden. Wir waren lange nicht mehr essen.“

„Ich liefere morgen Abend in Dannenberg Honig aus. Komm doch mit, und wir gehen danach zu Tante Lina.“

Während sie sich verabschiedeten fiel Inga ein, dass sie vergessen hatte nach Magnus zu fragen. Sie hätte Sabije zu gerne mit Jörg verkuppelt, aber trotz einiger vorsichtiger Anstupser hatte sich in dieser Richtung leider nie etwas getan.

Auf dem Weg in die Altstadt klopfte Ingas Herz, als wolle es ihr voraus eilen. Mittlerweile würde sie den Weg zu Michael Levins Praxis mit verbundenen Augen finden. Seit ihrem unordentlichen Liebesgeständnis hatten zwei weitere Termine stattgefunden. Sein Verhalten ihr gegenüber wirkte unverändert freundlich und entspannt. Gelegentlich meinte Inga, eine leicht flirtende Regung bei ihm festzustellen. Ein besonderes Lächeln, einen zärtlichen Ton ... Beim letzten Mal hatte sie zum Abschied ,Bis Freitag’ gesagt, und er hatte mit warmer Stimme geantwortet ‚Ich freue mich’. So etwas sagte man doch normalerweise nicht zu seinen Patienten, oder? Machte sie sich etwas vor? Ohne Zweifel war ihr Umgang miteinander vertrauter geworden, die Gespräche angeregter. Nach wie vor blieben seine Berührungen sachlich, so dass Inga während der Krankengymnastik nicht in Versuchung geriet, ihm die Klamotten vom Leibe zu reißen. Doch sobald sie ihm gegenüber saß und ihn beim Erzählen beobachtete, ihn ansah, wie er gestikulierte und sich durch das Haar strich, war es um sie geschehen. Manchmal glaubte sie, sich auf ihre Hände setzen zu müssen, um ihre Sehnsucht im Zaum zu halten. Nur ein einziges Mal diese Stelle an seinem Haaransatz berühren, mit den Fingern durch sein graumeliertes Haar fahren und es zerstrubbeln ...

Als sie durch das große Holztor trat, sah sie ihn auf der Bank sitzen. Er blickte lächelnd auf. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als sei sie eine Ehefrau, die nach Hause kommt.

„Gehen Sie schon mal durch in den Behandlungsraum, ich bin sofort bei Ihnen.“ Er legte seine Zeitung zusammen.

Inga tat wie geheißen und setzte sich auf den Besucherstuhl neben seinem Schreibtisch. Die offenbar unsortierten Papierstapel und rund um das Telefon verteilten Zettel erinnerten sie an ihren eigenen unordentlichen Büroplatz. Ein bunter Briefkopf mit einem weich gezeichneten Babygesicht fiel Inga ins Auge. Neugierig reckte sie den Hals. ‚Traumkind’ stand im Halbkreis über dem Bild und darunter die Adresse einer Samenbank in Hamburg. ‚Sehr geehrter Herr Levin ... Ihre Vertragsnummer LV 8676-200 ...’ Den Rest verdeckte der Flyer eines Pizzabringdienstes. Mist. Inga traute sich nicht, nach dem Schreiben zu greifen. Was, wenn er durch die Tür trat und sie dabei erwischte, wie sie seinen Schreibtisch durchwühlte? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. War Michael Levin ein professioneller Samenspender? Was brachte einen Mann dazu, in einem Labor in einen sterilen Becher zu ejakulieren? Das Honorar? Hilfsbereitschaft? Eine perverse Neigung? Oder waren er und seine Freundin dort Kunden, weil sie auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen konnten? Und vor allem: Wie kam man an diesen Samen heran ...? Aus einem Impuls heraus tippte sie die Adresse und Karteinummer als SMS-Entwurf in ihr Handy. Es würde so aussehen, als beantworte sie eine eingehende Nachricht.

Da hörte sie schon seine Schritte. Inga fuhr ertappt zusammen. Sie glaubte, man müsse ihr ansehen, was sie trieb. Doch Michael warf seine Zeitung auf den größten Stapel auf dem Schreibtisch, wodurch er ihn ins Rutschen brachte, und begann mit der Behandlung. Wie üblich fragte er nach Ingas Befinden, prüfte die Beweglichkeit ihres Handgelenks. Als sie seufzte, es sei noch nicht hundertprozentig wie früher, erhielt sie eine unerwartete Antwort.

„Jedes Mal, wenn ich im Leben unbedingt hundert Prozent erreichen wollte, ist es schlechter gegangen.“

Er hat recht, dachte Inga, ich setze mich und meinen Körper unnötig unter Druck. Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Tatsächlich konnte sie die meisten Handgriffe schon wieder ausführen, litt nicht direkt unter Schmerzen, aber ... „Es fühlt sich immer noch an, als würde die linke Hand mir nicht gehören. Sie ist wie ein Fremdkörper. Nachts im Bett weiß ich nicht, wohin damit ...“ Wie sollte sie es erklären?

Michael Levin sah sie nachdenklich an und nickte. Er schien einen Entschluss zu fassen. „Wissen Sie, ich beschäftige mich seit einigen Jahren intensiv mit der Osteopathie. Dabei geht es grob gesagt darum, den Körper zu unterstützen, ins Gleichgewicht zu kommen. Meiner Meinung nach kann die Osteopathie eine optimale Ergänzung der Physiotherapie sein. Ich möchte Ihnen vorschlagen, diese bei ihrem Arm anzuwenden.“

Das klang vielversprechend, fand Inga. Wie würde so eine Behandlung wohl ablaufen? Ob sie sich dafür ausziehen musste? Blitzschnell überlegte sie, welche Unterwäsche sie trug ... Blau mit ein wenig Spitze, noch ziemlich neu, na ein Glück. „Ja, gerne“, antwortete Inga und wollte bereits nach den Knöpfen ihrer Bluse greifen.

„Gut. Ziehen Sie bitte die Schuhe aus und legen Sie sich auf die Liege.“

Die Schuhe? Ingas Gedanken wanderten zum Sauberkeitszustand ihrer bloßen Füße. Morgens hatte sie geduscht, aber danach war sie in der Hitze durch die Stadt gelaufen ...

„Ihr Haarband nehmen Sie lieber raus, das drückt sonst.“

Natürlich, da hätte sie auch selber drauf kommen können. Während Inga, bereits im Liegen, an ihrer Frisur herumnestelte, griff er nach dem Band und löste es, legte es zur Seite und strich Ingas Haar mit gleichmäßigen Bewegungen in Richtung Kopfende, wo es lang herunter hing. Viermal, fünfmal glitten seine Hände sanft über ihren Kopf. Inga hielt den Atem an. Er ging an das Fußende, setzte sich auf einen Hocker und nahm ihre Fersen in die Hände. Verblüfft wollte Inga sich aufrichten um zu sehen, was er tat. Doch er schüttelte lächelnd den Kopf, und so blieb sie flach auf dem Rücken liegen. Eine ganze Weile saß er mit ihren Füßen in den Händen da und schaute konzentriert geradeaus. Warme Wellen breiteten sich von Ingas Füßen her aus, zogen in ihre Beine und den gesamten Körper. Nun stand er auf, griff hierhin und dorthin, bog ihre Beine, murmelte leise Anweisungen wie ‚ganz ruhig halten’ ... bitte einmal gegendrücken’ ... Und dann:

„Ich schnappe mir jetzt dein Sitzbein. Mach gar nichts, bleib einfach ruhig liegen.“

Inga hielt den Atem an. Hatte sie eben richtig gehört? Er hob ihr Becken an, drückte hier und schob dort, ließ sie wieder herunter. Als seine Hände sich auf ihren Bauch legten, seine Fingerspitzen sich an ihren Hosenbund schoben, stieg leises Unbehagen in ihr auf. Die letzten männlichen Hände, die sie dort gespürt hatte, waren die von Detlef gewesen. Und dessen Avancen waren nicht immer besonders zärtlich gewesen, sondern eher zweckorientiert ... Nein, sie wollte nicht mehr an Detlef denken und daran, wie sie sich selbst klein gemacht, ihre Wünsche zurückgestellt hatte ....

Michael Levin sah ihr prüfend ins Gesicht, ohne jedoch loszulassen. Als könne er in ihr lesen wie in einem offenen Buch, mit dessen Sprache er vertrauter war als sie selbst.

„Geht`s?“ Er flüsterte fast.

Und alles Schreckliche löste sich auf, wurde weggewischt von der liebevollen, ruhigen Stimme und seinen sicheren Händen.

„Ja“, antwortete Inga. Tiefe Erleichterung erfasste sie. Es ging tatsächlich, gut sogar. Nicht, dass die schlechten Erfahrungen aus ihrem Kopf gelöscht wären, nein, Inga erinnerte sich nach wie vor an jedes Detail. Doch die Erinnerung regte sie nicht mehr auf. Bitterkeit und Selbstvorwürfe blieben aus. Die ehemals belastenden Bilder fühlten sich bedeutungslos an, wie auf ein Abstellgleis rangiert, wo sie künftig unbeachtet vor sich hin rosten und langsam verfallen würden.

Detlef hatte sie verletzt und ihr Vertrauen erschüttert, doch es war ihm nicht gelungen, sie zu brechen. Nach den körperlichen verschwanden nun auch die seelischen Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte. Und Inga ging aus einem langen, ungleichen Kampf als Siegerin hervor.

Der Mann, der ihr dazu verhalf, setzte sich nun an das obere Ende der Liege. Noch einmal strich er ihre Haare zurück, sehr vorsichtig, und nahm ihren Kopf in seine Hände, beugte sich ganz nah über sie. Inga konnte seinen Atem riechen, jedes kleine Lachfältchen um seine Augen sehen. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme gekuschelt, um für immer so liegen zu bleiben ...

Da stand er mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung auf, fuhr abschließend mit beiden Händen an ihrem Körper entlang und sagte: „So, das war`s für heute.“

Fast wäre Inga von der Liege gepurzelt. Sie blinzelte sich zurück in die Wirklichkeit, richtete sich langsam auf.

Michael erklärte wortreich, was er festgestellt und behandelt hatte. Noch leicht benommen, war Inga gar nicht in der Lage, alles aufzunehmen, was da auf sie ein strömte. Zwei wichtige Informationen jedoch drangen zu ihr durch: Er beschrieb eine Verkrampfung, die sich in ihrem Körper festgesetzt habe, und kam ihrer Lebenssituation, ihrer missglückten Suche nach einer Beziehung, in der sie Wurzeln schlagen durfte, überraschend nahe. Und er duzte sie immer noch.

Sie musste unbedingt sicher sein und konzentrierte sich, während sie fragte: „Ich dachte, du wolltest meinen Arm behandeln?“

„Ja, das auch. Aber wenn du daran denkst, wie alles miteinander in Verbindung steht ...“

Als merke er, dass Inga keine neuen Informationen mehr verdauen konnte, wechselte Michael das Thema. Sie unterhielten sich über die letzten Anti-Atom-Aktionen, ob das sogenannte ‚Schottern’ eine gute oder schlechte Idee darstellte und wie sehr der Einsatz der Bäuerlichen Notgemeinschaft sie beeindruckte. Auf dem Flur knarrte bereits der nächste Patient ungeduldig über den Holzfußboden, doch sie redeten immer weiter. Schließlich beendete er das Gespräch, widerstrebend wie es schien. Auch Inga fiel es schwer, sich zu verabschieden. Am Tor sah sie sich noch einmal um. Michael stand auf der Türschwelle und hob grüßend die Hand. Er hat Recht, dachte Inga, man sollte nicht immer hundert Prozent verlangen. Wer auch einmal mit neunzig Prozent zufrieden sein konnte, bekam letzten Endes mehr vom Leben.

Gerne hätte Inga sich an ihren Lieblingsplatz an der Elbe zurückgezogen, um die letzte Stunde in Ruhe zu überdenken. Stattdessen wartete Mariannes Mann Geert mit einem Arbeitsangebot auf sie. Da die de Vries keine Landwirtschaft betrieben, konnte Inga sich nicht vorstellen, worum es sich wohl handeln mochte. Marianne arbeitete halbtags in der mobilen Krankenpflege. Über Geerts Tätigkeit wusste sie nichts.

„Hallo Inga, schön dich zu sehen. Komm rein.“ Janne packte die Hunde am Schlafittchen, bevor sie an Inga hochspringen konnten. „Geert hängt noch am Telefon. In der Firma geht es drunter und drüber, keine Ahnung wie lange wir das noch durchhalten ...“

„Hör dir diese unmögliche vrouw an! Erst bringt es nicht genug Geld und das ist nicht richtig. Op de andere keer bringt es te veel Geld und es ist ook verkeert.“ Geert, der während Mariannes Klagen in der offenen Tür auftauchte, warf in übertriebener Verzweiflung beide Arme in die Luft, doch er lächelte seine Frau dabei an. „Inga wil uns rette, was denkst du?“

„Bevor Ihr die Welt rettet, kommt erstmal essen“, bestimmte Janne und schob sie in die Küche, wo Timo und Anneke den Tisch deckten und herrlich duftende Gemüselasagne auf die Teller schaufelten.

Nach dem Abendbrot rückte Geert mit seinem Anliegen heraus. Vor zwei Jahren hatte er sich mit Solaranlagen selbstständig gemacht. Seine kleine Firma entwickelte neue Module, die nicht mehr als separate Platten auf ein fertiges Dach montiert wurden, sondern Teil der Dacheindeckung waren. Diese ästhetische Form der Dachgestaltung in Verbindung mit leistungsfähigen Speichern traf einen Nerv. Schnell hatte sich Geert unter Bauträgern und Architekten einen Namen gemacht. Nun kam er mit den vielen Aufträgen kaum hinterher. Doch auf einen Schlag mehrere neue Leute einzustellen entsprach nicht seiner Art. Lieber sollte der Betrieb sich langsam vergrößern und jeder Mitarbeiter einzeln hineinwachsen. Falls also Inga aushilfsweise den einen oder anderen Bereich übernehmen könnte, bis sein Team komplett war? Geert fing an zu erklären, welche Arbeiten in der Buchführung und Organisation anfielen, redete über Korrespondenzen mit Lieferanten und Kunden, Werbung und den Import von Bauteilen. Er überließ es Inga zu überlegen, welche ihrer Fähigkeiten sie einbringen könnte. Prompt sprudelten die Ideen. Am Computer war sie fit, Werbung war natürlich ihr Ding und Kundenbetreuung ... Bald hockten Geert und Inga im Arbeitszimmer und tüftelten Einzelheiten aus. Zu einem durchaus attraktiven Stundenlohn sollte Inga je nach Arbeitsanfall und eigenem Wunsch mitarbeiten. Von gelegentlichen festen Terminen abgesehen, würde sie sich ihre Zeit frei einteilen können. Außerdem würde es möglich sein, hier in Marunthien zu arbeiten, in de Vries’ Büro oder sogar zu Hause.

Den Formalitäten von Ingas Arbeitsvertrag taten sie mit einem Handschlag und einigen Gläsern von Mariannes selbstgemachtem Johannisbeerwein genüge.

Wie merkwürdig, dachte Dr. Oliveira als er seinen Spind öffnete. Sein weißer Kittel war vom Bügel gerutscht und lag zusammengeknäuelt auf den darunter stehenden Schuhen. Das war noch nie passiert. Robson war sicher, dass er ihn am Tag zuvor ordentlich aufgehängt hatte. Er griff sich den letzten frischen Kittel aus dem oberen Fach. Vom alten nahm er nur sein Namensschild ab und ließ ihn liegen, wo er war.

„Dr. Oliveira bitte in die Notaufnahme.“

Die Schicht fing direkt hektisch an. Wahrscheinlich ein Verkehrsunfall. Im Hinauseilen warf Rob sich den Kittel über und heftete das Schild schief an die Brusttasche.

Selbstverliebt kämmte Schwester Wilma ihr langes, rabenschwarzes Haar. Zu schade, dass sie es gleich wieder mit dem obligatorischen Gummiband verschandeln musste. Kleiderordnung, Hygienebestimmungen, Schminkvorschriften ... Lange hielt sie das nicht mehr durch. Trotzig sprühte sie sich eine reichliche Menge Moschusparfüm in den Ausschnitt. Wenn sie nur könnte, wie sie wollte!

Sieh zu, dass du dir einen reichen Arzt angelst, hatte ihre Mutter auf dem Sterbebett geflüstert, bist doch meine Hübsche.

Wilma war systematisch der Hierarchie nach vorgegangen. Beim Chefarzt hatte sie ein paar Tage lang geglaubt, landen zu können. Doch der alte Knopp blieb seiner Ehefrau treu ergeben. Der Oberarzt hatte sie unmissverständlich abgewiesen, obwohl er sonst kein Kind von Traurigkeit schien. Bitter war das gewesen. Sie hatte schon befürchtet, es mit dem langweiligen Dr. Prudens treiben zu müssen, wenn ihre Pechsträhne anhielte. Na, das blieb ihr jetzt ja wohl erspart. Dr. Rettig besaß den Ehrgeiz, sich rasch nach oben zu boxen. Sicherlich würde er sich für ihre Unterstützung erkenntlich zeigen.

Michael zog abgeschnittene Jeans und ein graues T-Shirt über und verließ leise das schlafende Haus. Barfuß ging er durch die taufeuchten Wiesen in Richtung Wald. Wie immer, wenn er vor Morgengrauen erwachte, Träume von seinem Sohn nicht von der Realität entwirren konnte, wendete er sich der Natur zu. Junge Bäume wuchsen neben knorrigen Buchen und Eichen. Dazwischen umgestürzte Exemplare, die im Tod Nahrung und Heimat für andere Lebewesen boten.

Wer war er denn, gegen den Kreislauf von Geburt und Tod, von Leben und Sterben aufbegehren zu wollen? Alles hatte seine Zeit und seinen Sinn. So viele Jahre war es her, aber Michael konnte noch immer die helle Kinderstimme hören: Papa, schlafen Bäume nachts? Was passiert mit den Vögeln, wenn sie tot sind? Oh, er liebte seine beiden Töchter und war dankbar für jeden Tag, den er mit ihnen verbringen durfte. Doch es war eine Liebe, die schwieriger und fremder war durch die Andersartigkeit ihrer weiblichen Körper und Seelen, die erste Regelblutung, Kleiderkataloge. In der Beziehung eines Vaters zu seinem Sohn dagegen fand der Mann sich im Kind wieder. Erlebte noch einmal mit wie es war, sich anderen Jungs gegenüber zu behaupten. Zum ersten Mal selbstständig auf dem Männerklo zu pinkeln. Allein in den Wald zu gehen, die Hand um das Taschenmesser gekrampft. Heimlich die Oma zu besuchen und mit dem Fahrrad die Bundesstraße zu überqueren, eine stark befahrene Bundesstraße. Florian war nur neun Jahre alt geworden.

Michael setzte sich auf einen Baumstamm und wartete auf das Hirschrudel, welches sie oft zusammen in der Morgendämmerung beobachtet hatten. Micha und Flo, das war seiner damaligen Frau wie ein Wort über die Lippen gekommen. Gestorben war das Wort, gestorben war ein Teil von ihm. So sehr er sich bemühte, die Tatsachen zu akzeptieren, es erschien ihm nahezu unmöglich. In seiner Arbeit wurde ihm ein hohes Maß an Sensibilität, an Respekt und Demut abverlangt. Mit einem dafür geschärften Bewusstsein erwischte er sich häufiger, als ihm lieb war, wie er gegen das Schicksal strampelte und wütete. Florians Spielzeug in seinem Arbeitszimmer, sein Foto in jedem Raum, sogar die Einlagerung seines eigenen Samens in einer Samenbank: Verzweifelte Versuche, das unwiederbringlich Vergangene festzuhalten. Seine Ehe war zerbrochen, seine Töchter erwachsen und aus dem Haus. Seit zwei Jahren lebte er mit einer neuen Frau und ihren Kindern zusammen, und noch immer lag über seinem Leben der Schatten der Vergangenheit. Dabei wäre es längst Zeit, loszulassen. Erde zu Erde, Staub zu Staub.

Michael grub seine Zehen tief in den Waldboden.

Hart schlugen die Stollen von Robsons Laufschuhen auf das Kopfsteinpflaster. Schweiß floss ihm in Strömen den Rücken hinab, sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Doch wenn er auch nur ein wenig langsamer liefe, würde er verrückt werden. Rob zwang seinem heftig widerstrebenden Körper weitere zwei Kilometer ab, bevor er sich keuchend eine Schrittpause erlaubte. Niemandem wäre damit geholfen, wenn er mitten in der Nacht auf der leeren Straße zusammenbrach. Scheiße.

Am Nachmittag hatte der Alte ihn zu einem ernsten Gespräch unter vier Augen gerufen. Eine Patientin habe sich wegen eines sexuellen Übergriffs nach ihrer Operation beschwert. Robson war hell empört von seinem Stuhl aufgefahren, um den Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Im nächsten Moment musste er ungläubig feststellen, dass er selber derjenige war, den die Dame belastete. Wie betäubt versuchte er zu begreifen, was der Chefarzt ihm auseinandersetzte.

Vor zwei Tagen wurde die Patientin Lena Baumgarten, sechsundzwanzig Jahre jung und sehr attraktiv (hier warf der Chef ihm über den Rand seiner Brille hinweg einen scharfen Blick zu), am Blinddarm operiert. Die OP war ohne besondere Vorkommnisse um fünfzehn Uhr dreiundzwanzig beendet. Ungefähr um sechzehn Uhr dreißig fand eine Narkoseschwester die Patientin schreiend und wild um sich schlagend in ihrem Bett im Aufwachraum vor. Zunächst ging man von einer besonders starken Nachwirkung der Narkosemittel aus. Später, als sie wieder richtig zu sich kam, berichtete sie ihrer Mutter unter Tränen von einem schlanken, dunkelhaarigen Mann im weißen Kittel, der sie zwischen den Beinen berührte. Sein Namensschild konnte sie nur teilweise erkennen. Etwas wie Olmeier, Oliver ... Die aufgebrachte Mutter schaltete sowohl die Klinikleitung als auch die Polizei ein. Der Besucherstuhl, auf dem Rob saß, war noch warm vom Hintern des ermittelnden Polizeibeamten gewesen.

Immer noch keuchend setzte Rob sich wieder in Trab. Längst hatte er die Stadtgrenze hinter sich gelassen. Er bog in einen geschotterten Feldweg ein, an dessen Rand sich knorrige Obstbäume als schwarze Schatten abzeichneten.

Dann das Gespräch mit ebendiesem Beamten, eine Zeugenbefragung, keine Vernehmung als Beschuldigter, noch nicht, soviel hatte Robson noch vom letzten Mal gewusst. Und in den Augen des Kommissars stand zu lesen, dass ihm das bereits bekannt war. Mit Robs Einverständnis, nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss, wurde der Inhalt seines Schreibtischcontainers und seines Spindes begutachtet. Bitte sehr, warum nicht? Es gab nichts zu verbergen. Aber schon einmal hatte er angesichts harter Anschuldigungen ein blütenreines Gewissen gehabt. Genützt hatte es ihm nicht das Geringste.

Im letzten Moment wich Robson einem länglichen Hindernis aus, einem Ast oder einer Flasche. Er strauchelte, fing sich wieder. Mal joggend, mal taumelnd trieb Rob durch die Nacht. Erst als der Morgen graute, hinkte er in seine Wohnung und in Richtung Bett. Im Fallen, noch bevor sein Kopf das Kissen berührte, verlor er das Bewusstsein.

Es war ein wunderschöner Frühsommertag. Inga saß am Steuer von Ralfs gelbem Bulli und sang aus voller Kehle.

Neben ihr schüttelte Sabije ihre Locken im warmem Fahrtwind und fiel ein: „I`ve got a feeling ... that tonight`s gonna be a good night, that tonight`s gonna be a good good ni-i-ight ...”

Fröhlich die Black Eyed Peas grölend, bogen sie in den Dannenberger Ortskern ein und parkten die Gelbe Gefahr vor der Polizeiwache. Nebenan bei Tante Lina wurde draußen ein Tisch frei. Glücklich seufzend plumpste Sabije in einen bequemen Rattansessel. Inga setzte sich ihr gegenüber und schlüpfte unter dem Tisch aus den Sandaletten, um ausgiebig mit den Zehen zu wackeln. Pippi Langstrumpf wusste schon, was gut war, dachte Inga. Mit den Zehen zu wackeln war eine der lustigsten Möglichkeiten, seine Lebensfreude auszudrücken. Sie bestellten Antipasti und Mineralwasser. Sabije trank keinen Alkohol. Doch dieselbe Toleranz, die sie für sich selbst wünschte, brachte sie auch anderen entgegen und bot sich bereitwillig als Fahrerin an.

„Gönn dir ruhig einen Merlot. Ich bekomme den Wagen schon heil zu Drossels zurück.“

Während Inga ihren Stuhl hin und her rückte, um möglichst viel Sonne zu tanken, fragte sie sich, warum es ihr nie gelungen war, eine so tiefe und gleichzeitig entspannte Gläubigkeit an einen Gott zu entwickeln wie ihrer Freundin. Es schien das Leben so viel leichter und zufriedener zu machen. Sabije wohnte allein, hatte weder einen Lebensgefährten noch Kinder, nicht einmal ein Haustier. Ihre Angehörigen lebten weit entfernt. Und doch fühlte sie sich niemals einsam. Jeden Tag, hatte sie Inga einmal erklärt, beten etliche, tausende Brüder und Schwestern zur selben Stunde wie ich. Wir sind verbunden miteinander, und mit Allah.

Sie spendete den Zakah, den vorgeschriebenen Teil ihrer Einkünfte, für wohltätige Zwecke, fastete während des Ramadan und versäumte nur dann ihr Salat, das fünfmal täglich zu verrichtende Glaubensgebet, wenn sie in einer wichtigen Verhandlung saß und den Richter nicht zu einer Pause bewegen konnte. War der Anblick einer Dr. jur., die am Ende des Flures oder im Hof auf ihrem Gebetsteppich kniete, anfangs als irritierend empfunden worden, hatte man sich mittlerweile an die muslimische Frau Dr. Rahmani gewöhnt. Bei aller Gottesfürchtigkeit war sie jedoch eine moderne Frau, die sich figurbetont kleidete und selbstbewusst mit Männern flirtete. Sabijes geschulter Verstand unterschied sehr genau zwischen Allahs Willen und diktatorischem Eigennutz. Die aggressive Unterwerfung der Frau durch radikalislamische Männer durchschaute sie als das Bestreben, andere klein zu machen, um selber größer zu wirken. Nur ein starker Mann, wusste Sabije, ertrug, ja wünschte sich eine starke Frau. Allahu akbar - Gott war groß. Es gab keinen Gott außer Allah, und er machte keinen Unterschied zwischen seinen Propheten. Für Sabije wäre es vollkommen undenkbar, einem anderen Menschen ihren Glauben aufzureden, nicht einmal ihrer besten Freundin. Für sie beten, ihr Trost anbieten wenn sie traurig war, ja. Sie bekehren, nein.

Die Bedienung brachte die Getränke, schenkte Wein aus einer kleinen Karaffe in ein ballonförmiges Rotweinglas, goss stilles Wasser in zwei Gläser. Nachdem sie zum Nachbartisch weitergegangen war, konnte Inga endlich Sabije über Magnus ausfragen.

„Hast du dich mittlerweile mit ihm getroffen? Irgendwie sind wir immer wieder davon ab gekommen. Du hast erwähnt, dass Ihr Euch bei der Arbeit kennengelernt habt. Wo genau, bei Gericht?“

„Fast. Im Kühlraum des Rechtsmedizinischen Instituts. Seine Leiche war verschwunden. Ich wollte einen Autopsiebericht abholen, aber der zuständige Mediziner verspätete sich. Wahrscheinlich rannte er mit den anderen Kollegen umher und suchte die Leiche, auf die wie gesagt Magnus wartete. Wir standen also beide da und konnten nicht viel tun als Kaffee aus dem Automaten zu trinken und uns zu unterhalten.“

„Wie meinst du das, seine Leiche war verschwunden?“

„Genau wie ich es sage. Magnus ist als Spezialist hinzugezogen worden, um die Schussverletzungen eines Opfers mit den Einschüssen in seiner Kleidung abzugleichen. Als er zum verabredeten Termin in der Rechtsmedizin eintraf, waren alle Beteiligten im Autopsieraum versammelt - bis auf den Toten. Schließlich fand man ihn in einem falschen Kühlfach. Am nächsten Tag rief Magnus mich in der Kanzlei an.“ Sabijes Augen glänzten. „Wir sind dann in der Mittagspause gemeinsam essen gegangen ... Und stell dir vor, er hat mir Blumen geschickt. Einen Riesenstrauß Lilien mit einem Kärtchen: ‚Bewährtes Hausmittel gegen Leichengeruch. Ich würde Sie gerne wiedersehen, M.H.’ Bei Fleurop werden sie sich sicherlich gewundert haben.“

Beide Frauen lachten.

„Da ist aber was dran. Wozu sonst die ganzen Kränze und Gestecke bei Beerdigungen?“ Inga vermutete, dass es diesen Brauch nicht gäbe, wenn das Raumspray einige hundert Jahre früher erfunden worden wäre. Jedenfalls schien Magnus Sinn für Humor zu haben. „Und? Hast du ihn wiedergesehen?“ Sie wünschte ihrer Freundin so sehr ein wenig mehr Glück in der Liebe.

Obwohl Sabije gern und häufig flirtete, hielt sie sich und ihr Herz zurück, sobald es ernst wurde. Viele männliche Muslime betrachteten sie als Gotteslästerin, da sie sich nicht blind unterwarf. Andersgläubigen Männern blieben ihre Gebete, ihr Fasten suspekt.

Es hatte einmal eine große Liebe in ihrem Leben gegeben, als sie siebzehn war. Gemeinsam waren sie in der Anti-Atom-Bewegung aktiv gewesen, zwei junge verliebte Menschen mit großen Idealen. Staatsangehörige der Freien Republik Wendland. Bei der radikalen Räumung des Hüttendorfes in Gorleben zerbrach unter den Gummiknüppeln der Polizei alles. Sabijes Freund war nie wieder derselbe, betäubte ständige Kopfschmerzen und ohnmächtigen Frust mit Alkohol, verlor seinen Job und jeglichen Zugang zu positiven Gefühlen. Schließlich stürzte er sich von einem Baugerüst. Eine schreckliche Zeit, in der Inga keinen Moment von Sabijes Seite wich, mit ihr im selben Bett schlief und sie überallhin mitschleppte.

Dies und ihr tiefer Glaube halfen Sabe schließlich wieder auf die Füße. Hartnäckiger als zuvor kämpfte sie gegen Atomkraft und für die Rechte friedlicher Demonstranten. Sie beriet Teilnehmer gewaltfreier Aktionen und verteidigte Aktivisten vor Gericht wie eine Löwin ihre Jungen. Nie wieder sollte in diesem Land ein Mensch, der keinem etwas zuleide tat, dafür zusammengeschlagen werden, dass er einfach nur unbequem war. Kein Farbiger von einer Rotte Neonazis, kein Demonstrant von einer Hundertschaft überforderter Beamter. Ein oft unerreichbar scheinendes Ziel.

Jetzt lächelte Sabe, als sie an Magnus dachte, und sah dabei jung und unbeschwert aus. „Wir sind zum Abendessen in einen urigen Landgasthof gefahren. Weißt du, was Magnus tat, als es Zeit für mein Maghrib, mein Abendgebet, war? Ich habe ihn gebeten, kurz anzuhalten. Da fragt er mich, ob ich noch einen Moment warten kann. Und er biegt von der Bundesstraße ab, durch die Felder und zeigt mir einen wunderbaren Platz auf einem Hügel. Als ich nach dem Maghrib zum Wagen zurück kam, meinte er, er verstünde zwar nichts vom Islam, aber er glaube, jeder Gott mit einem guten Geschmack müsse sich über diesen Ort freuen.“

„Womit bewiesen wäre, dass er mehr vom Islam versteht, als er ahnt. Und dass er sich wirklich Gedanken um dich macht.“

„Ja ... Ich habe das Gefühl, man kann mit ihm über alles sprechen. Magnus ist so ... offen. Alles interessiert ihn, und dabei ist er ganz unvoreingenommen.“ Sabe geriet ins Schwärmen.

„Wie sieht er denn aus? Hast du ein Foto?“

„Leider nicht. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein Rausschmeißer, groß und muskulös und kahlrasiert. Dabei ist er ein ganz Lieber ...“

Unwillkürlich musste Inga einen Seufzer unterdrücken. Sabe sollte nicht glauben, dass sie neidisch war. Aber natürlich erriet die Freundin Ingas Gedanken.

„Gibt es bei dir Fortschritte an der Herzensfront?“

„Nicht viele. Wenn überhaupt, dann in Millimetern. Er hat angefangen mich zu duzen, und darüber bin ich echt froh. Es fühlte sich irgendwie komisch an, den Mann den man liebt mit ‚Sie’ anzusprechen. Ich spüre einfach, dass wir auf einer Wellenlänge liegen. Aber falls da bei ihm etwas ist, lässt er es nicht zu. Du brauchst mir nicht zu sagen, dass er gebunden ist und seine Prinzipien hat und dass ich mir jemand anderen suchen soll. Das sage ich mir selbst jeden Tag dreißigmal. Außerdem ist er zwölf Jahre älter als ich und eigentlich gar nicht mein Typ. Aber ich brauche ihn nur anzusehen oder seine Stimme zu hören ... er ist der wunderbarste Mensch, den ich kenne.“

„Die große Liebe, hm?“ Sabijes Stimme war ohne Spott, voller Mitgefühl.

„Ach Sabe, ich war noch nie so verliebt. Ich meine - es gab diese kichernde, aufgeregte Jungmädchenverliebtheit, die eine oder andere Schwärmerei. Dann wurde es irgendwie härter. Prinzen, die sich als Frösche erwiesen. Aber das hier ... Als ich ihn das allererste Mal sah, wusste ich genau: Das ist er, der Mann meines Lebens.“

„Du kanntest ihn doch überhaupt nicht.“

„Irgendwie schon. Da war sofort so ein Gefühl ... Ich bin mir bei ihm ganz sicher. Wenn Michael mich an dem Tag gefragt hätte, ob ich ihn heiraten will, hätte ich ohne zu zögern ja gesagt.“

„Ihn heiraten! Einen Mann, den du noch nie zuvor gesehen hattest!“ Das musste Sabije erst einmal verdauen.

Zum Glück wurden in diesem Moment die Antipasti serviert. Die Freundinnen schoben einander Probierhäppchen auf die Teller. Mit der Routine einer langjährigen Beziehung pickte eine die schwarzen Oliven auf, die andere alle getrockneten Tomaten. Sonnenstrahlen streichelten ihre Gesichter. In einem kräftig pinkfarbenen Rosenbusch summten Bienen.

Ob Michael auch eine Schwäche für Blüten in Pinktönen und italienisches Essen hatte? Inga stellte sich vor, mit ihm an einem Tisch in der Sonne zu sitzen und Wein zu trinken. Sie bemerkte Sabijes teilnahmsvollen Blick erst, als diese sie ansprach.

„Meine arme Immeli. Dein Herz hat es wohl mitten drin erwischt.“

Auch Jörg hatte mit einem gewissen Mitleid in der Stimme Bemerkungen über ihre ‚unglückliche Verliebtheit’ fallen lassen. Irritiert überlegte Inga, was sich daran so verkehrt anfühlte. Der Gedanke an Michael machte sie nicht traurig, sondern froh. Meistens jedenfalls. „Ich schätze, ‚unglücklich verliebt’ bin ich einfach nicht. ‚Unerwidert verliebt’ trifft es irgendwie besser“, sagte sie. „Im Grunde ist es doch schön, überhaupt lieben zu können. Festzustellen, dass es einen Menschen gibt, der diese überwältigenden Gefühle in einem auslöst ... Wenn ich Michael sehe oder nur an ihn denke, bin ich nicht immer nur traurig und frustriert, das manchmal auch, klar, aber vor allem macht es mich glücklich. Ich bin glücklich, dass es ihn gibt.“ Wie sollte sie es erklären? Inga fielen die Stunden nach ihrer ersten Begegnung mit Michael ein. „Erinnerst du dich an den Abend, als ich dich anrief und dir von meinem Entschluss zu kündigen erzählte?“

„Aber ja. Du warst an der Elbe, und ich fühlte mich sehr in Versuchung, dich aufzuspüren und dich zu dem zu bringen, was ich als vernünftig ansah.“

„An dem Abend war einfach alles perfekt: Die friedliche Landschaft, der Sonnenuntergang ... Und ich sah einen Fischadler ganz aus der Nähe, ich konnte sein Gefieder erkennen ...“ Inga lächelte bei der Erinnerung.

Sabije lächelte ebenfalls. „Du Glückspilz. Das muss überwältigend gewesen sein.“

„Ja. Und das meine ich: Der Fluss gehört mir nicht, die Felder und die Sonne und der Adler erst recht nicht. Nichts davon ist meins, aber es erfüllt mich mit einem solchen Glück, dass ich platzen könnte.“ Inga beugte sich über den Tisch und sah ihrer Freundin in die Augen. „Verstehst du, Sabe? Michael gehört mir ebensowenig wie der Adler über der Elbe, aber er macht mich glücklich.“

„Einfach damit, dass er existiert“, sagte Sabije langsam und nachdenklich. „Ich glaube ich verstehe, was du meinst. Ein schönes Bild.“

Inga trank von ihrem Wein und blinzelte in den blauen Himmel. „Klar wäre es mir lieber, wir kämen zusammen. Mit ihm könnte ich mir das gut vorstellen ... Ich möchte ein Kind von ihm.“

Jetzt war es heraus. Inga atmete tief durch. Ja, sie wünschte sich Kinder. Von Michael. Allerdings hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wie sie das anstellen sollte. Machte der auserwählte Kindsvater doch nicht einmal Anstalten, sie zu küssen.

Inga saß im de Vries`schen Büro am Schreibtisch und erwartete jeden Moment einen Rückruf aus Rotterdam. Um sich die Zeit zu vertreiben, durchstöberte sie das Internet nach Michael Levin. Das hätte sie längst tun können. Leider fand sie außer seiner Praxis rein gar nichts. Nicht einmal ein Foto, das sie sich hätte ausdrucken können. Entweder war er zu altmodisch, um sich mit dem Internet zu beschäftigen, oder er hielt sich mit der Veröffentlichung persönlicher Daten bewusst zurück. Schade.

Der Anruf aus Rotterdam ließ immer noch auf sich warten. Spaßeshalber gab Inga ‚Dr. Oliveira’ ein und fiel fast vom Stuhl, als sie auf der Homepage einer Rockband landete. Dr. Robson Oliveira, Sänger der Muddy Blue Waters. Wow. Inga erinnerte sich an die Begegnung im Krankenhaus, an diesen leicht wilden, unangepassten Touch, den er ausstrahlte. Na, das passte. Nachdenklich spielte sie mit der Maus. Bei Michael hatte sie, wenn sie ehrlich war, kaum eine Chance. Sabije und auch Jörg lagen ihr sowieso in den Ohren, sie solle ihn sich endlich aus dem Kopf schlagen. Ihn vergessen, das würde sie nie können, niemals. Aber was hinderte sie daran, sozusagen während sie auf ihren Zug wartete, zwischendurch ein gutes Buch zu lesen? Inga kopierte sich die Auftrittstermine in ein Worddokument. Nur mal gucken konnte ja nicht schaden.

Wo waren die verdammten Dinger bloß? Dr. Stefan Prudens kramte im Kämmerchen hinter dem Aufenthaltsraum nach Filtertüten. Bärbel Lohmann sorgte stets dafür, dass immer frischer Kaffee und etwas Süßes bereit standen. Andere Vorzimmerkräfte hatten sich empört geweigert, auch nur ein einziges Mal Kaffee zu kochen, wohl aus Angst, sich mit niederen Tätigkeiten den Respekt der Ärzte zu verscherzen. Frau Lohmann jedoch schien es Freude zu machen, ‚ihre Chirurgen’ zu bemuttern. Sie war einfach wunderbar. Stefan genoss ihre kleinen Aufmerksamkeiten, besonders nach einer anstrengenden OP. Ausgerechnet heute war ihr freier Tag, und Stefan lechzte nach einer Tasse Kaffee.

Zwei Personen betraten leise redend den Raum: Dr. Rettig und Schwester Wilma. Er war nicht gerade darauf erpicht, sich mit ihnen zu unterhalten. Vielleicht verschwanden sie gleich wieder. Als Dr. Oliveiras Name fiel, horchte Stefan unwillkürlich auf.

„Unser Weiberheld steckt jedenfalls ganz schön in der Tinte. Sexuelle Belästigung, noch dazu von Patientinnen ...“

Stefan stockte der Atem. Seit Tagen lag irgend etwas in der Luft, es wurde wild spekuliert. Doch bisher hielt der Alte sich eisern an seine Regel, keinen Wind zu machen bevor nicht tatsächlich gesegelt wurde. Und Oliveira wirkte wirklich sehr ernst und schottete sich womöglich noch stärker ab als er es ohnehin tat. Aber Patientinnen angrabschen? Hatte ein Kerl das nötig, dem die Frauen sowieso in Scharen hinterher liefen?

„Ist er dir nicht auch schon mal zu nahe getreten, Wilma?“

Das war ja wohl der Gipfel. Jeder wusste, dass Wilma den Oberarzt heftig angebaggert hatte - und abgeblitzt war.

„Hm, ja, jetzt wo du es erwähnst ... Damals hab ich mich wohl so geschämt, dass ich ihn nicht angezeigt habe ...“

„Vielleicht ist es langsam Zeit, das Schweigen zu brechen und dich jemandem anzuvertrauen. Dem Chef oder einer verständnisvollen Polizistin ...“

Endlich verließen sie das Zimmer. Stefan wollte hinterherlaufen, sie zur Rede stellen, das böse Spiel vereiteln. Mit der Hand schon an der Türklinke sah er plötzlich Bärbel Lohmann vor sich, und sein Herz zog sich zusammen. Wenn Dr. Oliveira nicht mehr hier wäre - ob er dann eine Chance bei ihr hätte? Nein, das konnte er nicht tun. Aber er würde doch nicht wirklich etwas tun ... nur den Mund halten in einer Sache, die ihn nichts anging. Stefan zögerte und hasste sich gleichzeitig dafür. Um sich nicht zu verzetteln entschied er sich, erst einmal gar nichts zu unternehmen. Bloß kein blinder Aktionismus. Gerade so, wie er in einer fremden Stadt auch so lange weiter geradeaus fuhr, bis er wirklich sicher war, dass er abbiegen musste.

Während die Kaffeemaschine vor sich hin blubberte, lehnte er an der Arbeitsplatte und dachte nach.

Um elf Uhr abends herrschte in Drossels Imkerei eine fröhliche Stimmung. Ralf füllte mit konzentrierter Miene Honig aus dem großen Tank in Gläser, die er auf einen Tisch stellte. Inga und Marianne drückten Deckelpappen in die Kunststoffdeckel, schraubten die Gläser zu und verpackten sie zu je zwölf Stück in Kartons. Hilke flitzte hin und her, brachte leere Kartons und Gläser, stapelte die fertigen im Lager und bereitete Bestellungen vor. Heute Abend um kurz vor acht hatten sie angefangen, und noch war der Tank nicht einmal halb leer. Inga gefiel diese Arbeit. Es roch nach Bienenwachs und Honig, sie kamen gut voran und konnten sich trotzdem stundenlang dabei unterhalten. Nie hätte sie gedacht, wie ungeheuer vielseitig der Beruf des Imkers war.

„Bienen sind Haustiere, so wie Schafe oder Kühe“, erzählte Ralf. „Auf sich selbst gestellt in der freien Wildbahn hätten sie weniger Überlebenschancen als ein ausgebrochenes Schaf.“

„Weil sie im Winter erfrieren müssten?“

„Nein, weil niemand sie gegen die Varroa-Milbe behandeln würde. Dazu gießt man eine Desinfektionslösung in den Stock oder bedampft ihn. Ohne eine solche Behandlung sterben die Tiere.“

Inga staunte. Bis der Honig ins Glas kam, galt es viel mehr zu beachten und zu tun, als sie ahnte. Honig war auch nicht gleich Honig. Da gab es den fast weißen Rapshonig, Akazienhonig, den dunklen und kräftigen Kastanienhonig, Sommerblüte ...

„Warum ist eigentlich Heidehonig so teuer?“

„Wegen der Spinnweben zwischen den Heidepflanzen. Unzählige Bienen verfangen sich darin und sterben. Du brauchst also viel mehr Tiere, um ein Kilo Honig zu gewinnen.“ Ralf lächelte über Ingas betroffenes Gesicht. „Die meisten Leute machen sich darüber keine Gedanken. Und ich würde das auch nicht unbedingt meinen Kunden erzählen ...“

„Völlig richtig. Können wir nicht statt über verschiedene Arten zu sterben über was Schönes reden?“ verlangte Marianne.

„Über was Schönes? Wir sind doch nicht zum Spaß hier.“ Ralf schnitt ein strenges Gesicht. Alle lachten.

„Am Wochenende ist Stadtfest in Lüneburg. Samstag Abend spielen die ‚Muddy Blue Waters’. Stellt Euch vor, deren Sänger ist der Chirurg, der mich operiert hat. Wollen wir nicht alle zusammen hingehen?“ schlug Inga vor.

Ralf stöhnte. „Fressbuden und ´n Haufen Leute? Nee danke, nicht meine Szene.“

„Was ist nicht deine Szene?“ fragte Hilke hinter einem großen Stapel Kartons hervor.

„Rock auf dem Stadtfest. Inga und ich wollen hin“, antwortete Marianne. „Bist du dabei?“

„Klar. Lasst uns noch ein paar Weiber zusammentrommeln und richtig einen drauf machen. Vielleicht kommen welche aus der Tanzgruppe mit ...“

„Meine Freundin Sabije ...“

„Das wird wie früher in der neunten Klasse. Vor der Bühne stehen und sich gegenseitig kichernd anstupsen, wenn ER einer von uns zulächelt ...“

„... in der Pause zusammen auf`s Klo gehen ...“

„Ich hoffe bloß, dass der nicht durch die Menge läuft und mir das Mikro unter die Nase hält“, sagte Inga. „Hilke, wenn so was passiert, dann musst du da rein singen. Schließlich bist du im Chor.“

„Alles klar.“

Ralf schüttelte grinsend den Kopf. „Ihr seid vielleicht ein paar verrückte Hühner.“

Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel

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