Читать книгу The sound of your soul - Isabella Kniest - Страница 11

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Es war Samstag. Erneut. Traditionell gesehen war er der letzte Wochentag und somit ein Feiertag. Die standardisierte Zählung des ISO 8601 machte Schluss mit dieser Gepflogenheit.

Einst hatte ich diesen Tag inniglich geliebt, mich wahnsinnig darauf gefreut.

Und nun?

Nun empfand ich im besten Falle Trauer.

Ausschlafen konnte ich zwar nach wie vor – meine Arbeitswoche ging glücklicherweise ausnahmslos von Montag bis Freitag – das hibbelige Gefühl, welches mich überkam, wenn ich am Donnerstag bemerkte, dass das Wochenende mittlerweile in greifbarer Nähe lag, war jedoch zur Gänze verschwunden.

Ausgelöst hatte diese Verstimmung mein Ex-Freund. Nachdem dieser Dreckskerl mich grauenhaft behandelt und schlussendlich schäbigst verlassen hatte, hatte mich alles verlassen: meine Heiterkeit, mein Glück, meine Hoffnung, meine Lebensfreude. Obgleich Letztes noch nie recht zu meinen Charaktereigenschaften gezählt hatte.

Ich schob mein Selbstmitleid zur Seite und streckte mich – und wie in den vergangenen Tagen schoss Tom mir durch mein Gehirn.

Verflucht!

Irgendwann würde ich noch durchdrehen!

Freilich, er sah umwerfend gut aus, und Sympathiepunkte hatte er bei mir längst in voller Zahl abkassiert … Davon einmal abgesehen brächte mir eine Liebäugelei mit ihm bestenfalls frische Seelenqualen. Ich hatte nicht das Händchen dafür, verständnisvolle, anständige Männer kennenzulernen – falls solche Traumwesen unter uns wandelten.

Es war ein Fluch. Ein unmöglich zu brechender Fluch. Damit musste ich mich abfinden! Hoffentlich würde mein Herz dies irgendwann verstehen und Ruhe geben.

Nach einigem Krafttanken schwang ich mich aus dem Bett, duschte mich heiß und zog mich an. Mein heutiges Frühstück bestand aus Dinkelcornflakes mit Milch und Honig. Ich machte mein Bett, wusch das Geschirr ab und fuhr im Anschluss daran ins Einkaufszentrum.

Mein Kühlschrank musste befüllt werden. Außerdem ging das Mehl zur Neige.

Und was war schlimmer denn eine leere Vorratskammer?

Exakt.

Ein leerer Kühlschrank und eine leere Vorratskammer.

Zwar konnte man heutzutage jeden Tag und zu beinahe jeder Uhrzeit einkaufen gehen, und erhielt man sämtliche saisonale Produkte das gesamte Jahr über, doch das Wissen, zu wenig oder gar keine Lebensmittel zu Hause griffbereit zu haben, ertrug ich schlichtweg nicht. Speziell im Winter war es mir wichtig, Essensvorräte für mindestens zwei Wochen eingelagert zu wissen.

Die wenigsten Menschen dachten an Ausnahmesituationen. Da sprach ich gar nicht von Kriegen, Seuchen oder Terrorismusangriffen. Bereits ein Wetterphänomen, wie lang anhaltender Schneefall, konnte sämtliche Infrastruktur lahmlegen. Besaß man genügend Vorräte, gab es keinen Grund zur Panik. Ähnlich verhielt es sich mit Stromausfällen. Eine kleine Gasherdplatte samt Drei-Liter-Gasflasche fand selbst in einer Singlewohnung Platz – und warmes Essen und Wasser wurde nicht zum Luxusgut.

Ich stieg in meinen alten Mercedes und fuhr los.

Das von der Form her einem Footballstadium ähnelnde Einkaufszentrum besaß drei Parkdecks: eines unter der Erde, eines direkt vor den zwei Eingängen und eines auf dem Dach.

Da ich die tolle Aussicht liebte, entschied ich mich für das Dachgeschoss.

Ich verließ den Wagen, schloss ab und füllte meine Lungen mit der nach Schnee und Eis duftenden Winterluft. Obwohl die Sonne von einem stahlblauen Himmel schien, lagen die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Der eiskalte Wind machte die Situation auch nicht eben besser. Obwohl ich mir heute einen dicken Pulli, Thermostrumpfhosen und eine Jeans angezogen hatte, fröstele ich ähnlich heftig wie gestern Abend.

Flott schritt ich über die weitläufige Kraftwagenabstellanlage. Neben mir tummelten sich ein paar Familien mitsamt quengelnden Kindern sowie gestresst aussehende alleinerziehende Mütter – und selbstverständlich ein verliebtes Pärchen, das sich wärme- und nähesuchend an den jeweils anderen kuschelte.

Idioten.

Allen voran das dumme, glücklich strahlende Weibsbild. Nahm dieses doch fälschlicherweise an, das Grinsen ihres Freundes rührte von ihren peinlichen Klammerattacken her. Stattdessen freute der Kerl sich lediglich darauf, das gut beheizte Gebäude zu betreten, da er wusste, dadurch etwas mehr Abstand zu ihr gewinnen zu können, ohne unfreundlich zu erscheinen oder seine wahre Geisteshaltung zu offenbaren – nämlich rein gar nichts für sie zu empfinden. Dies wiederum bedeutete, er konnte das naive Dummchen noch eine längere Weile ausnützen und ihr die große Liebe vorgaukeln, einschließlich inniger Umarmungen und Liebkosungen.

Sachte den Kopf schüttelnd folgte ich dem Pseudo-Pärchen in die wohlige Wärme, überholte dieses und eilte weiter zur Treppe.

Aufzüge mied ich seit jeher – nicht aufgrund einer Agoraphobie meinerseits, sondern einzig, weil ich mit fremden Menschen weder für wenige Sekunden noch für Stunden auf engstem Raum eingeschlossen sein wollte.

Niemand wusste, wann der Strom ausging, die Elektronik den Geist aufgab oder sogar das Aufzugsseil riss … Stufen waren da weitaus sympathischer und ungefährlicher. Zudem tat man etwas für seine Figur, und man blieb Herr über seiner selbst.

Im ersten Stock gelandet, hielt ich mich weiter rechts und betrachtete die aneinandergereihten Geschäfte. Ein Jedes davon war unverhältnismäßig gut besucht. Ich nahm die Rolltreppe nach unten, um mich darauffolgend durch lärmende Menschenmengen zum groß angelegten Lebensmittelgeschäft durchzuschlagen.

Die enorme Fläche in der Mitte des Komplexes war heute – von den Kunden einmal abgesehen – vollkommen leer. Dies sah zu Ostern oder Weihnachten anders aus. Dann wurden winzige aus Holz gefertigte Markthäuschen aufgestellt, bei welchen man allerlei Selbstgebasteltes, wie Geschenk- und Dekorationsartikel, erstehen konnte.

Eine mich zur Seite schupsende Gruppe frecher Jugendlicher erhitzte mein Gemüt. Die mich umringenden laut tratschenden und lachenden Leute gaben mir den Rest.

Ich hasste Menschenansammlungen – aus tiefster Seele. Am grausigsten war es im Dezember: Die gehetzten Leute brachten mich dergestalt aus dem Konzept, sodass ich manchmal sogar vergaß, was ich einkaufen wollte. Die ausgesendeten Emotionen der Menge legte sich um meine Sinne, verdunkelte meine Sicht. Da fühlte ich mich wie ein eingeschüchtertes wildes Tier in einem Käfig umringt von mich neugierig musternden Zirkusbesuchern …

Je näher ich dem Lebensmittelgeschäft kam, desto voller wurde es.

Das Villacher Einkaufszentrum erfreute sich zwar Jahr und Tag großer Beliebtheit, heute erinnerte mich dieser Andrang aber eher an die letzten Einkaufstage vor Weihnachten.

Hatten die Menschen etwa noch einen kläglichen Rest an natürlichen Instinkten bewahrt? Die Wetterprognose sagte für die nächsten Tage nämlich weitere tiefe Temperaturen und sogar etwas Schnee voraus.

Der Gedanke an die weiße, glitzernde Pracht vermochte es, meine Stimmung minimal anzuheben.

Ich liebte Schnee!

Die weichen durch die Luft tanzenden Flocken … eingeschneite durch Sonnenstrahlen dramatisch in Szene gesetzte Bäume …

Hoffentlich würde eine erhebliche Menge dieses wundervollen Naturschauspiels fallen. November und Dezember hatten sich durchwegs trocken gezeigt. Die Schneepisten erstrahlten in einem herbstlichen Grün. Einzig der Atem des Winters hatte Wälder und Wiesen ein zärtliches Weiß geschenkt.

Die anhaltenden trockenen Wintermonate brachten die Skination Österreich ganz schön in Bedrängnis. Seit vielen Jahren jammerte der Tourismus über den akuten Schneemangel. Die Schneekanonen waren niemals imstande das Verlangen der Urlauber und Einheimischen nach frischem Neuschnee zu stillen. Folglich wurde geraunzt und Stellen abgebaut, oder in Wellnessanlagen investiert.

Meine Handtasche fest an mich gedrückt wich ich einer zweiten Gruppe lachender Jugendlicher aus.

Wann würden die Menschen verstehen, dass wir mit der Natur leben müssen – und nicht dagegen? Einst entstiegen wir der Erde und letzten Endes gingen wir wieder dorthin. Ein ewiger Kreislauf. Dolme, die es nicht begriffen.

Ich holte eine Eineuromünze hervor und steckte diese in das Pfandschloss eines der vielen Einkaufswagen, welche zu einer eisernen Schlange neben den Aufzügen aufgereiht worden waren, entfernte die Sperrkette und zog den Wagen zurück, um mich sodann in das Lebensmittelgeschäft zu begeben.

Unzählige Dinge türmten sich vor mir auf: Kinderspielzeug, tausende Hygieneartikel, Waschmittelpackungen in allerlei Formen und Farben, Kleidung, meterlange Kühl- und Gefrieranlagen. Aber die Dekadenz schlechthin folgte erst: Dreißig verschiedene Sorten Mineralwasser – und das waren bloß die ohne Geschmack … Und in einem Dritte-Welt-Land verdursteten Menschen angesichts der Tatsache, dass der von ihrem Heimatdorf drei Stunden entfernt gelegene Brunnen von einer großen Lebensmittelmarke aufgekauft worden war und deshalb nicht mehr für die Einheimischen zur Verfügung stand.

Es war ein Albtraum! Ein einziger langer, nicht enden wollender Albtraum.

Ich atmete tief durch und machte mich ans Werk.

Jammern half bekanntlich nichts! Erst recht nicht konnte ich alleine etwas gegen diese und andere Ungerechtigkeiten der Welt anrichten. Gleichwohl zeigte ich meinen Groll, indem ich hauptsächlich Waren einheimischer Firmen und Bauern kaufte. Zumindest so oft es mir möglich war. Im Gegensatz zu den nicht nachhaltig hergestellten importierten Lebensmitteln waren regionale Produkte bekannterweise empfindlich teurer – womit ich wesentlich genauer auf meine Finanzen achten musste.

Mehl, Zucker, Backpulver, Kartoffeln und Hühnerfleisch fanden ihren Weg in meinen Wagen. Ebenso Milch, Butter, Margarine, Salz und Joghurt. Nun fehlten noch Holunderblütensirup, Salat, Äpfel, Bananen und – ganz wichtig – eine Zahnbürste und eine Tube Zahncreme.

Ich drehte den Einkaufwagen mit Schwung zurück – und stieß gegen irgendjemanden.

Zuerst vernahm ich einen Ausruf der Verwunderung, anschließend erblickte ich einen schwarzen Mantel sowie einen Schal in derselben Farbe. Letztgenannter bauschte sich durch meinen Stoß und den daraus resultierenden Sturz des Unglücklichen erst unbeschreiblich elegant in der Luft auf, ehe dieser genauso tollpatschig wie sein Besitzer auf dem Fliesenboden landete.

Es wurde mir heiß, darauf kalt und schlussendlich fing mein Herz wie verrückt zu hämmern an.

Herrgott!

Wenn der Mensch sich nun etwas gebrochen hatte?

So gut versichert war ich nicht!

Mit einem Kribbeln im Hinterteil hockte ich mich zu dem Gestürzten.

Die Person war ein Mann, wahrscheinlich in meinem Alter, mit kupferbraunem Haar – beinahe dieselbe Farbe, wie ich sie mein eigen nennen durfte. Sein Gesicht hatte er von mir weggedreht. Folglich war es mir unmöglich zu sagen, ob er bewusstlos, tot, angefressen oder schlichtweg geschockt war.

»Habe ich Sie verletzt?«, fragte ich besorgt.

Wenn er nun wahrhaftig tot war, was dann? Würde ich wegen Totschlags angeklagt werden?

Dieser Vermutung folgte eine zweite über meinen Rücken kriechende eisige Kälte.

»Nein, sorgen Sie sich nicht«, hörte ich den Unglücklichen jäh sagen.

Mir fiel die halbe Gerlitzen vom Herzen.

Gott sei Dank war er ansprechbar!

Obwohl die Erleichterung und das ausgeschüttete Adrenalin mich dezent benebelten, konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, die Stimme des Unbekannten von irgendwo her zu kennen.

Bloß von woher?

»Mir geht es gut.« Diese Worte gesprochen stemmte sich der Mann behäbig hoch, drehte sich zu mir – und mich traf der Schlag.

Diese Augen.

Himmelherrgottsakrament! Es war Tom!

Was machte der denn hier?!

Geschockt, verwundert, verwirrt besah er mich … Mit großer Wahrscheinlichkeit schaute ich in dem Moment ebenso bescheuert drein wie er … Aber diese Augen! Dieser Ausdruck! Diese eigenartige, sich über mich legende Einigkeit …

Weder konnte ich mich von Tom abwenden geschweige denn mich bewegen. Ich fühlte mich wie hypnotisiert. Hypnotisiert von diesen wunderschönen graublauen Augen.

Graublau. Das schönste Graublau, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte.

»Ist Ihnen etwas passiert? Soll ich einen Arzt rufen?«, vernahm ich die weibliche Stimme eines Kunden, wodurch ich halbwegs zur Besinnung kam.

»Nein, nein«, beschwichtigte Tom teilnahmslos, unterdessen er mich weiterhin anstarrte und gleichzeitig mit seiner linken Hand unbeholfene Gesten Richtung Kundschaft vollführte. »Mir geht es gut.«

Toms Reaktion bewirkte etwas Ähnliches wie einen Kaltstart meines Gehirns.

Wie lange hatte ich Tom wortlos angestarrt … und wie lange hockte ich eigentlich neben ihm?

Ich wusste es beim besten Willen nicht.

Nicht zuletzt deshalb wurde es allerhöchste Zeit, diese peinliche Situation zu beenden, indem ich mich erhob und ihm meine Hand zur Hilfe reichte – welche er sofort und inklusive einem aufkommenden Lächeln ergriff und sich von mir hochziehen ließ.

Alsbald mein flüchtiger Lokal-Bekannter in seiner ganzen Pracht vor mir stand, wurde ich mir erst seiner ausgeprägten Schönheit gewahr.

Das dichte gewellte Haar, von welchem vereinzelte Strähnen locker über seine zarten Augenbrauen fielen, seine feinporige Haut, die edlen Gesichtszüge … aber vor allem dieser mich ununterbrochen musternde, seelenverschmelzende Blick. Ein Blick, intimer als eine sexuelle Vereinigung, leidenschaftlicher als ein lateinamerikanischer Tanz, zärtlicher als sich niederlassende Lindenblütenpollen im frühlingsfrischen Gras …

Um Toms Seeleninspizierung kurzzeitig zu entgehen, bückte ich mich und langte nach seinem Schal.

Warum musste ich ausgerechnet ihm begegnen? Warum musste ich ausgerechnet ihn zu Boden stoßen? Warum immer ich?!

Verflucht!

»Warten Sie, Sie brauchen sich nicht zu bemühen«, erwiderte er, jedoch hatte ich das Kleidungsstück längst an mich genommen. Eben war ich dabei, mich aufzurichten, da durchfuhr mich ein blitzartiger mich zu Boden werfender Kopfschmerz.

»Grundgütiger!«

Während Tom diesen lieblichen Ausruf tätigte, versuchte ich, mich vorsichtig und mit geschlossenen Lidern hinzuknien.

Der Schmerz in meinem Schädel war exorbitant.

Hatte ich eben einen Hirnschlag erlitten?

Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da fühlte ich, wie Toms Hände mein Gesicht umfassten – und reine Geborgenheit durchströmte mich. Sie erfüllte meinen Leib, mein Herz, meine Seele, meinen Geist. Sie brachte meine Gehirnleistung zum Erliegen, umschloss und erleuchtete jedwede Stelle meines verdunkelten Inneren. Was Tom zuvor mit seinem Seelenblick angedeutet hatte, hatte seine Berührung ein Stück in die Tat umgesetzt: Er war in mich eingedrungen, hatte sich mit mir vereinigt.

Es war erschreckend wie wunderschön … beängstigend wie erregend … aufwühlend wie beruhigend.

Oder trug gar mein hämmernder Kopfschmerz an dieser eigenartigen Reaktion Schuld?

»Geht es?«

Zögerlich richtete ich mich auf, suchte des Musikers Angesicht. Seine Hände hielt er weiterhin um meine Gesichtskonturen gelegt.

Himmel …

Tom war mir so nah … vielleicht zehn Zentimeter trennten unsere Nasenspitzen … dazu gesellte sich sein markanter wie besorgter Augenausdruck, von welchem mir zu allem Überfluss schwindlig wurde.

»Falls ich keinen Hirnschlag erlitten habe«, antwortete ich gepresst. »War dies wohl der Beginn eines Clusterkopfschmerzes … oder so …«

Engelsgleiche Güte trat in Erscheinung. »Zwar bin ich kein Humanmediziner, dennoch kann ich Ihnen garantieren, nicht an Clusterkopfschmerzen zu leiden.«

»Na, das beruhigt mich.« Wenigstens gelang es mir, mich gefasst und unbeeindruckt anzuhören. Mein Herz hingegen schien nahezu zu zerspringen. Und meine Nerven? Diese waren nicht mehr angespannt, sondern längst zerrissen.

Diese psychische Ausnahmesituation kompensierte mein Verstand, indem er just eigenwillige Fragen auftreten ließ.

Wie würde sich ein Kuss mit Tom anfühlen? Wie würde er schmecken? Genauso gut wie sein zartes Aftershave vermengt mit diesem minimalistisch herben, mich verrückterweise an Stroh erinnernden Eigengeruch?

Ich räusperte meine behämmerten gedanklichen Ergüsse davon. »Und wissen Sie, was mir fehlt?«

Ein breites Grinsen verlieh Tom diesen spitzbübisch-charmanten Zauber. »Sie haben mir eben einen Kopfstoß versetzt. Das ist alles.«

Ich blinzelte. »Wie … was?«

Er begann zu kichern.

Es hörte sich unwahrscheinlich an – unwahrscheinlich schön, niedlich, wunderbar …

»Ich wollte selbst nach meinem Schal greifen, doch Sie waren schneller und erhoben sich exakt in dem Moment, als ich mich zu Ihnen herabgebeugt hatte.«

Der Schal … natürlich!

Da spürte ich das gestrickte Kleidungsstück in meinen Händen – und erst dadurch verstand ich, was Tom mir zu sagen versuchte.

»O nein! Nicht auch noch das!« Meine Wangen erhitzten. »Habe ich Sie verletzt?«

Er ließ von mir ab, um sein Kinn zu umfassen. »Nun, Zähne sind noch alle beisammen … wehgetan hat es dennoch.«

»Das ist mir äußerst peinlich.«

Erst warf ich ihn zu Boden, und dann verpasste ich ihm überdies einen Kopfstoß. Das Ganze entwickelte sich allmählich zu einer Katastrophe!

Wackelig stand ich auf – und Tom war sofort dabei, mir aufzuhelfen, indem er seinen rechten Arm um meinen linken schlang. »Warten Sie, ganz langsam. Sonst fallen Sie mir noch um.«

»Keine Sorge.« Ich strich mir ein paar Haarsträhnen hinters Ohr und aktivierte den Rest meiner kaum vorhandenen Schlagfertigkeit. »Ich lasse es bestimmt nicht so weit kommen, dass ich in die Arme eines Mannes fallen werde.«

Das würde dieser Situation die Krone aufsetzen!

Toms Seelenerkundungsblick intensivierte sich zunehmend. »Nun, ich hätte nichts dagegen einzuwenden.«

Ich krauste die Stirn. »Wenn Sie in die Arme eines Mannes fallen?«

Meine Aussage entlockte ihm ein herzallerliebstes Schmunzeln. »Darauf haben Sie gewartet, geben Sie es zu!«

Nun konnte selbst ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen.

Er hüstelte leise. »Spaß beiseite … Damit meinte ich selbstredend Sie.«

Frische Hitze kletterte mir in mein Haupt.

Flirtete dieser Kerl etwa ständig? Gab es nichts anderes für ihn?

Seine nach wie vor meinen linken Arm festhaltenden Hände drängten meine Überlegungen in eine andere Richtung.

Wollte Tom mich nicht mehr loslassen?

Sein unbekümmerter fröhlich-zufriedener Ausdruck sagte eher »Ja« …

Das bedeutete wohl, ein weiteres Mal selbst aktiv zu werden.

Durch einen langen Schritt nach hinten war es mir möglich, seinen warmen Händen zu entkommen – und die mir altvertraute Leere trat schlagartig zurück in mein Inneres.

Eigentlich wollte ich gar nicht weg von Tom. Dieser verrückten Tatsache wurde ich mir blöderweise erst gewahr, nachdem ich meinen Einkaufswagen ergriffen hatte.

Kruzitürken noch einmal!

Welchen Irrsinn fühlst du da?

Dieser Flirtmeister hatte es neuerlich geschafft, mich mit einem einzigen Blick einzulullen!

»Darf ich meinen Schal zurückhaben?«

Wie?

Verdutzt blickte ich auf meine rechte Hand … und erstarrte.

Fest umklammert hielten meine Finger das schwarze Kleidungsstück wie den Griff des Einkaufwagens.

Verdammt …

Ich hatte nicht bemerkt, diesen nach wie vor bei mir zu tragen.

Himmel … was war los mit mir?

Dass ich grundsätzlich schnell aus dem Konzept gebracht werden konnte, war kein Geheimnis. Gegen solche Verwirrtheitszustände hatte ich aber noch nie kämpfen müssen … und meine Beschämung? Die war längst mit vierzig Zehnerpotenzen multipliziert worden.

Ich antwortete Tom mit einem knappen »Natürlich« und reichte ihm den kuscheligen Halswärmer.

Was hätte ich sonst entgegnen sollen? Jede Erklärung, Abschwächung oder Negierung meiner offenkundigen Blödheit hätte mich bloß weiter ins Abseits manövriert.

Dankend nahm Tom den Schal entgegen und wickelte diesen sogleich um seinen schlanken Hals. »Normalerweise mag ich Tücher und Schals nicht besonders … Irgendwie fühle ich mich da … nun ja … wie vom anderen Ufer.«

Angesichts möglicher Beleidigungen durch eine unbedachte Stellungnahme meinerseits wollte ich ihm ursprünglich ein gekünsteltes Lächeln zuwerfen und nicht weiter darauf eingehen.

Doch was geschah stattdessen?

Ich verfiel in ein herzliches, unbefangenes Gelächter. Auf Biegen und Brechen – es gelang mir nicht einmal im Ansatz, dieses einzudämmen.

Verflixt und zugenäht!

Ich verstand mich einfach nicht mehr. Besser gesagt: Ich verstand rein gar nichts mehr.

Und Tom …

War er sich seiner Situationskomik eigentlich bewusst?

Letztgenanntem jedenfalls schien mein Lachanfall deutlich zuzusagen, davon bezeugte sein bombastisches, in seinen Augen explodierendes Seelenlicht.

Es dauerte etwas, bis mein emotionaler Ausreißer gänzlich abgeebbt war und ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte. »Sie sehen nicht schwul aus.«

Ein spitzbübisches Grinsen Toms trat selbstbewusst in Erscheinung. »Das freut mich … Es wäre ärgerlich, wenn plötzlich ausnahmslos Homosexuelle an mir Interesse zeigen würden.« Unversehens vollführte er beschwichtigende Handgesten. »Damit will ich aber unter keinen Umständen eine Aversion gegen Personen mit divergenten Vorlieben andeuten. Solange Menschen keine Straftaten begehen, ist es mir völlig gleich, was sie tun, mögen oder lieben.«

Das war eine Ansage!

Nicht einmal alle Menschen in meinem Umfeld zusammengerechnet konnten mit einem solchen Weitblick aufwarten.

Tom sah das große Ganze – nicht bloß einen winzigen Ausschnitt des Bildes … oder wie in diesem Fall, des Gesagten.

Ich straffe die Gestalt. »Nein, ernsthaft. Sie sehen damit nicht schwul aus. Der Schal und der Mantel steht Ihnen, ebenso der Anzug letzten Samstag. Sie haben einen ausgeprägten Geschmack für elegante Kleidung. Das ist eine Seltenheit heutzutage. Insbesondere Männern gelingt es kaum, sich vernünftig anzuziehen. Sie bilden eine gern gesehene Ausnahme.«

Seine Wangen färbten sich Rot.

Im hellen Licht wirkte Tom damit noch weitaus niedlicher … Nein. Er wirkte bezaubernd.

»Ich …« Seine Pupillen wanderten etwas zur Seite. »Ich bekomme leicht Halsschmerzen.«

Meine Güte!

Mein Kompliment beschämte ihn.

Dieser Charakterzug passte ähnlich wenig zu einem Musiker wie seine angebliche Menschenscheue.

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, weshalb Sie einen Schal tragen«, beruhigte ich. »Andere Leute interessiert dies ohnehin nicht. Die bemerken solche Nebensächlichkeiten erst gar nicht.«

Jegliche Verlegenheit Toms wurde augenblicklich von Ernsthaftigkeit verdrängt. Gleichzeitig hüpfte sein intensiver Blick zu mir zurück. »Und Sie? … Interessiert es Sie?«

Ich schluckte.

Was sollte ich darauf antworten?

Für gewöhnlich interessierte ich mich rein gar nicht dafür, wie Menschen sich kleideten, verhielten oder welche Meinungen sie vertraten – insbesondere nach der Geschichte mit meinem Ex. All die harten Worte, das grausame Verhalten, meine Einsamkeit – wozu sollte ich mir den Kopf zerbrechen, weshalb diese oder jene Leute dieses oder jenes anzogen? Meinem Erfahrungsschatz zum Trotz wollte ich Tom nicht mit einer kaltschnäuzigen Aussage verletzten. Dieser Mann mutete hochgradig empfindsam an. Zudem gaben vergangene Verletzungen und Erniedrigungen mir nicht das Recht, meinen Frust an Mitmenschen auszulassen – vor allem nicht an Personen, die mich nicht kannten und nicht über mein Seelenleben und meine negativen Erlebnisse Bescheid wussten. Des Weiteren wollte ich unter keinen Umständen lügen. Unwahrheiten zu sprechen war für mich ähnlich schwerwiegend wie Mord oder ein Seitensprung. Demzufolge blieb mir wohl nichts anderes übrig, als Tom die Wahrheit abgeschwächt mitzuteilen.

»Ich interessiere mich nicht besonders für den Kleidungsstil anderer. Außerdem geht es mich nichts an. Kleidung, Musik, Bücher, Filme – solche Dinge zählen zu den persönlichen Vorlieben. Niemand hat dazu das Recht, ein Urteil zu fällen.«

Seine Züge wurden weich. »Danke für Ihre Aufrichtigkeit.«

Hatte er mein Zögern bemerkt?

Nein, so etwas gab es nicht! Das war reiner Zufall gewesen.

Tom klopfte sich Mantel und Hose ab.

»Sie sind meinetwegen schmutzig geworden. Das tut mir furchtbar leid. Wenn Sie wollen, zahle ich Ihnen die Reinigung.«

Irgendwie musste ich mich für meinen Einkaufswagen-Bodyslam entschuldigen … Da schien eine Reinigung angebracht, oder? Zumindest hoffte ich das. Immerhin konnte Tom – wenn er ein Mistkerl war – mich auf Schadensersatz sowie Körperverletzung klagen.

Sein sänftiglicher Augenausdruck zog mich aus meinen Grübeleien und machte mich leicht schwindlig.

»Nein, nein«, erwiderte er gütlich. »Es handelte sich bloß um ein wenig Staub.«

»Dennoch tut es mir aufrichtig leid. Ich wollte Sie nicht zu Boden stoßen.«

»Das hoffe ich.« Der überraschend freche Ton sowie das verschmitzte Grinsen ließen mich unwillkürlich erschauern. »Ansonsten müsste ich Ihnen dieses Verhalten nämlich noch übel nehmen.«

Meine Hände knetend blickte ich zu meiner im Einkaufswagen liegenden schwarzen Tasche.

Was sollte ich jetzt tun?

Wollte er mich womöglich doch anzeigen? Wartete er darauf, mich auszunehmen?

»Kommen Sie heute Abend in die Bar?«

Seine mit Hoffnung getränkte Stimmlage nötigte mich dazu, mich ihm zuzuwenden. »Eigentlich habe ich keine Zeit.«

Er zog die rechte Augenbraue nach unten. »An einem Samstag haben Sie keine Zeit?«

»Ich plante andere Dinge ein, wie meine Vorhänge zu waschen.«

Und mich auszuruhen, komplettierte ich gedanklich. Oder mir einen Film anzusehen, anstatt mir meinen Schlaf durch Menschenansammlungen zu vermiesen.

Selbstredend wollte ich mich entschuldigen … ein weiteres Flirt-Gespräch wie das gestrige führen lag jedoch nicht in meiner Absicht.

Nun krauste er die Stirn. »An einem Samstag?«

»Ja.«

»Sind Sie da ganz sicher?«

»Ja.« Ich besah ihn kritisch. »Dies soll keine Ausrede darstellen, falls Sie das vermuten. Ich putze grundsätzlich am Wochenende, da ich unter der Woche zu müde dafür bin.«

Vor allem außertourliche Reinigungsarbeiten verschob ich gerne auf meinen persönlichen Ruhetag. Zum einen, um mit der Arbeit fertig zu werden, zum anderen, um mich sonntags nicht zu sehr zu übernehmen.

»Und in diesem Fall existiert keine Möglichkeit zu einer Ausnahme?«

Ich wollte etwas entgegnen, da fuhr Tom fort. »Nicht einmal, wenn ich Ihnen diesen –« Er nickte zur Seite – zu der Stelle, wo ich ihn zu Boden befördert hatte. »Barbarischen Akt lediglich dann verzeihe, wenn Sie mich heute Abend besuchen kommen?«

Ich hätte es mir sofort denken können!

Da zeigte ich Reue – und flugs glaubte die männliche Gattung Mensch, sie könne sich jegliche Freiheiten herausnehmen.

»Das klingt stark nach Erpressung.«

Seine Augen erstrahlten im kindlichen Glanze. »Nun … ich weiß nicht. Erpressung besitzt einen solch harten Unterton.« Nochmals legte er die Stirn in Falten. »Nennen wir es lieber –« Er deutete Gänsefüßchen mit Zeige- und Mittelfinger an. »Den Vorschlag für eine Entschuldigung – und den Appell an Ihr Gewissen.«

Das war die Oberfrechheit schlechthin!

Nahm er an, ich würde ob seines delikaten Äußeren sofort spuren? Litt er unter Realitätsverlust ausgelöst durch ihn anhimmelnde Fans – falls es denn welche gab – oder glaubte er, er sei etwas Besseres, weil er Saxofon spielte?

»Ich kann ausgesprochen gut selbst entscheiden, wie ich mich bei jemandem entschuldige.« Meinen Frust versuchte ich erst gar nicht zu verstecken, dementsprechend forsch fuhr ich ihn an. »Und am Rande erwähnt: Ich bot Ihnen an, die Kosten für die Reinigung Ihrer Wäsche zu übernehmen.«

»Ich verlange keine Reinigung, keinen Schadenersatz – lediglich ein Gespräch in der Bar.« Sachte gestikulierte er mit der rechten Hand. »Ist das schlimm?«

Entgegen meiner Annahme, Tom durch mein dreistes Verhalten wütend oder beleidigt gestimmt zu haben, bedachte er mich mit einem ausgeprägten Dackelblick. Ein mitten in mein kühles Herz einschlagender Anblick. Ein Anblick, derart verloren, sehnsüchtig und lieblich … ich wusste bei Gott nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

»Bitte kommen Sie heute vorbei.« Sein bettelnder Tonfall war nicht eben hilfreich, meinen Mitleidspegel und in weiterer Folge mein Reuegefühl zu mindern.

»Das Gespräch letzte Woche gefiel mir sehr«, übergoss er seine Überredungskünste mit Zuckerguss. »Ich fand es schade, dass Sie so schnell verschwanden.«

Ich seufzte.

Was sollte ich machen?

Einerseits lag er im Recht. Ich hatte ihn zu Boden geworfen. Andererseits war es eine Frechheit, dies auf eine solche unverschämte Methode einzufordern.

Und dann erst dieser Dackelblick!

Bestimmt war es ihm genauestens bewusst, wie sehr seine Gesichtsakrobatik bei Frauen zog.

Verdammt noch einmal!

»Wie lange wollen Sie mich derart intensiv anstarren?«

»Bis Sie nachgeben.«

Ha! Da hatten wir es! Alles ein perfekt kalkuliertes Schauspiel!

Aber okay. Ich würde ihm diese Bitte erfüllen. Danach war jedoch Schluss. Kein weiterer Lokalbesuch mehr, keine Gedankenspielereien über Tom mehr. Gar nichts mehr!

»Nun gut.« Ich kratzte mich an der Nase. »Ich werde kommen.«

In Toms Angesicht ging die Sonne auf. »Wirklich? Ja? Das freut mich unwahrscheinlich!«

»Aber mehr brauchen Sie nicht einzufordern.«

»Natürlich nicht.« Beschwichtigend hob er die Hände. »Ausschließlich dieser Abend.«

»In Ordnung. Wann soll ich vorbeischauen?«

»Ab zehn.«

»So spät?«

Ich war kein Nachtmensch. Ganz und gar nicht. Bereits deshalb ging ich abends äußerst ungern außer Haus.

»Wann öffnet die Bar denn?«

»Um neun. Doch ab fünfzehn nach neun spiele ich für eine knappe dreiviertel Stunde.« Unbeholfenes Herumfuchteln seiner rechten Hand evozierte eine sachte Nervosität in mir. »Da ich mich mit Ihnen unterhalten möchte, ist es somit besser, wenn Sie erst ab zehn Uhr eintreffen.«

Weshalb wollte Tom nicht vor mir spielen? War er solcherweise schlecht?

»Schämen Sie sich, vor mir zu musizieren?«

Offenkundiger Schock flog über seine Züge und wurde unmittelbar darauf von eklatanter Unsicherheit verdrängt. Hiervon bezeugten seine sich wellenden Augenbrauen wie der sich senkende Blick Richtung Boden. »Nun … ich mag es nicht sonderlich, wenn Leute mir zuhören, die mich kennen.«

Hä?

»Ihnen ist bewusst: Es gibt Stammgäste im Lokal, oder?«

Er errötete. »Ja, allerdings spreche ich in diesem Fall nicht von diesen.«

Aha …

»Von welcher Klientel sprechen Sie dann?«

»Für Personen, welche sich nicht sonderlich für meine Wenigkeit interessieren –« Er stockte. »Oder für Personen, welche mich nicht sonderlich interessieren, spiele ich grundsätzlich gerne. Bei allen anderen dagegen nimmt der Druck zu große Ausmaße an. Dadurch passieren mir Fehler. Ich hasse es, wenn mir Fehler passieren.« Die letzten drei Sätze ratterte er in einem irrsinnigen Tempo herunter, ich wäre beinahe nicht mitgekommen. »Kommen Sie einfach um zehn.« Dies gesprochen drehte er sich um und eilte davon.

Was, zur Hölle, sollte das nun bedeuten?

Anscheinend hatten einige Kunden unser Gespräch belauscht, starrten diese mich gefühlsmäßig genauso verdattert an wie ich dem davoneilenden Tom.

Wie war das gewesen … was hatte Tom exakt erwidert? Er spielte einzig für Leute gerne … die sich nicht für ihn interessierten … oder für die er sich nicht interessierte?

Allmählich begann ich zu verstehen – womit eine brutale Hitzewelle über mich herniederbrach.

Interessiert Tom sich für mich … ?

Hatte ich das richtig deduziert?

Gesenkten Hauptes schob ich meinen Einkaufswagen zur Obstabteilung, gleichermaßen wie ich sämtliche Überlegungen beiseiteschob.

Ziehe keine voreiligen Schlüsse! Sei kein Naivling, sondern eine erwachsene Frau!

In einem tranceartigen Zustand erledigte ich meine restlichen Einkäufe und fuhr nach Hause. Ob ich an roten Kreuzungen anhielt oder Fußgeher über Zebrastreifen passieren ließ, war mir unmöglich zu sagen.

Dieser unwirkliche Zwischenfall war zu viel für meine Nerven.

Unterdessen ich die Lebensmittel verstaute, nahm mein vernebeltes Gehirn stückchenweise an Fahrt auf.

Bedeutete ich Tom tatsächlich etwas? Ging es ihm womöglich gar nicht um einen One-Night-Stand?

Ich verwarf diesen aus Dummheit, Unbedarftheit und Wunschdenken geborenen Irrsinn.

Hier ging es um gar nichts. Gewiss hatte ich es falsch aufgefasst – genauso wie ich in der Vergangenheit dutzende menschliche Reaktionen falsch aufgefasst hatte.

Nach einem schmackhaften Mittagessen, welches aus gebratenem Hühnerfleisch mit einer dunklen Soße und Jasminreis bestanden hatte, hockte ich mich auf die verhasste Couch und griff nach dem Taschenbuch.

Ein wenig lesen und ausrasten, dachte ich. Dann kümmere ich mich um die Vorhänge.

Jäh erschien Tom mitsamt flehentlichem Gesichtsausdruck vor mir.

Sollte ich ihn besuchen?

Die tiefen Temperaturen und die späte Uhrzeit gingen mir gehörig gegen den Strich. Diese beiden Dinge außer Acht gelassen, liebte ich Saxofonklänge.

Dies war einmal anders gewesen. In meiner Kindheit hatte ich dieses Instrument regelrecht gehasst. Wahrscheinlich aufgrund seines romantisch-sexuellen, verträumten Klangs. Töne, Klangfarben, Stimmen – seit jeher war ich überdurchschnittlich empfänglich für Geräusche aller Art. Ebendrum hielt ich lautes Menschengetratsche, extrem aufgedrehte Musik sowie Straßen- und Maschinenlärm nicht lange aus.

Da Verwandte, Schulkollegen und Bekannte regelmäßig über meine Vorlieben und Meinungen hergezogen waren und Lehrer mir auf erniedrigende psychologische Weise meine Andersartigkeit – aber vor allem Dummheit – unter die Nase gerieben hatten, hatte ich gelernt, mich abzukapseln. Ich hatte gelernt, nichts über meine Wünsche oder Sehnsüchte zu verlauten. Ich hatte gelernt, keine Fragen zu stellen und nicht aufzufallen. Und ich hatte gelernt, alles zu verachten, was mit Schwäche, Romantik und zwischenmenschlichen Kontakten zusammenhing. Neben Verliebtheit und Schwärmereien fiel in diese Rubrik ebenfalls das Saxofon.

Vor einigen Jahren hatte sich diese Aversion gelegt. Höchstwahrscheinlich trug meine Begierde nach Liebe und Geborgenheit daran Schuld sowie das Wissen, in meinem nunmehrigen Alter nicht mehr veräppelt werden zu können. Besonders dann nicht, wenn ich weiterhin nichts von meinen Sehnsüchten offenbarte.

Ich legte das Buch in meinen Schoß und massierte mir die Schläfen.

Manchmal hasste ich mich dafür, meiner Schwäche nachgegeben zu haben, ab und an versucht zu haben, einen Freundeskreis aufzubauen. Andauernd hatte man mich versetzt, mich stehengelassen, mich belogen, mich ignoriert, mich belächelt.

Menschen sprachen von Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen. Doch wozu durchhalten und es immer wieder versuchen, wenn es in all den Jahrzehnten nie funktioniert hatte? Andere Menschen mussten sich vielleicht mit ein oder zwei Rückschlägen abfinden. Ich hingegen war nie ernsthaft gemocht worden. Hatte ich beispielsweise einen Schulkollegen nett gefunden, war der nicht an mir interessiert gewesen. Hatte ich einen Kursteilnehmer nett gefunden, war der nicht an mir interessiert gewesen. Hatte ich einen Arbeitskollegen nett gefunden, war der nicht an mir interessiert gewesen. Nun war ich dreißig Jahre alt, und alles, was ich durfte, war auf eine mich ausbeutende Beziehung zurückzublicken.

Und dann tauchte da plötzlich Tom auf, dem ich möglicherweise ein klitzekleines Bisschen gefiel.

Was sollte ich von alldem halten?

Ich schloss die Lider.

Irgendwie hätte ich Tom gerne spielen gehört. Seine introvertierte wie extrovertierte Art in einem Musikstück zu erleben, erweckte eine selbst mich überraschende Neugier in mir.

Ach, vergiss es!

Ich lehnte mich zurück und suchte die Taschenbuchseite, auf welcher ich letztens stehengeblieben war.

War es Seite neunzig oder hundertzehn gewesen?

Kommen Sie einfach um zehn, halte Toms jugendlich-sanfte Stimme durch meine Reflexbögen, weiter zu meinen Synapsen, um mir im Anschluss daran ein neues Bild von seinem durchdringend-gütigen Gesichtsausdruck zu generieren.

Wie wertschätzend und respektvoll er mich betrachtet hatte. Auf eine absurde Weise hatte es für mich den Anschein erweckt, für ihn etwas Besonderes darzustellen. Dies wiederum klang dermaßen infantil und breithirnig, ich hatte große Lust, mir mit dem Taschenbuch zwanzig Mal gegen die Stirn zu dreschen.

All diesen Liebesirrsinn hatten wir bereits einmal!, rügte ich mich. Sei nicht abermals blauäugig!

Einen weiteren mich ausnutzenden Freund brauchte ich nicht. Einzig Liebe, Mitgefühl und Verständnis benötigte ich.

Ich begann zu lesen. Doch alles, was ich vor mir sah, war Tom. Alles, was ich fühlte, war diese wundervolle Einigkeit …

Himmelherrgottsakrament!

Ich schleuderte das Buch auf den quadratischen Glastisch.

Dann kümmere ich mich eben sofort um diese verfluchten Vorhänge und fange mit dem Fensterputz an!

Aber selbst diese Tätigkeit half nicht, den Musiker aus meinen Gedanken zu verscheuchen. Alle paar Minuten sah ich sein hoffnungsvolles Flehen vor mir aufblitzen.

Das konnte alles nicht mehr wahr sein!

Offenbar war es wohl das Beste, Tom einen Besuch abzustatten. Dann würde ich mich dadurch bei ihm entschuldigen und meiner naiven Seele beweisen können, dass auch er mit mir spielte.

Jawohl!

Ich warf den Putzlappen in den Wassereimer, klappte die Stehleiter zusammen, trug diese zurück ins Bad und verräumte sie hinter der Tür. Anschließend holte ich den Eimer, entleerte diesen, trocknete ihn mit dem ausgewrungenen Lappen ab, räumte beides in den unter der Spüle befindlichen Schrank und zog mich um.

The sound of your soul

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