Читать книгу The sound of your soul - Isabella Kniest - Страница 9

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Samstagabend. Überall Menschen – auf den Straßen, in Lokalen, Restaurants, Kinos. Das blühende Leben. Und eine typische verfluchte Drecksjanuarkälte. Die minus zehn Grad fraßen sich förmlich durch meinen grünen Mantel – und das schwarze hautenge Wickelkleid sowie die schwarzen Strumpfhosen waren blöderweise auch nicht eben hilfreich dabei, mich warmzuhalten.

Ich war dumm gewesen. So dumm! Ich hatte mir dieses Outfit ausgesucht, um einmal bemerkt zu werden – von der männlichen Gattung Mensch. Doch wie üblich hatte niemand sich die Mühe gemacht, mich anzusprechen. Andererseits musste ich mir eingestehen: Dieser Schrott an männlichen Individuen, welcher da durch die Gegend stampfte, hatte mich ohnehin nicht interessiert.

Die Männer von heute waren allesamt vollumfängliche Idioten – aber vor allem eierlos und gefühlskalt.

Meine in den Manteltaschen gesteckten erkalteten Hände ballten sich zu Fäusten.

Weswegen wollte ich überhaupt bemerkt werden?

Bereits vor vielen Jahren hatte ich es mir geschworen: keine Männer mehr. Nie mehr!

War das etwa der letzte Aufschrei meiner zu sterben im Begriff stehenden weiblichen Hormone?

All die Erniedrigungen, die Lügen, die Faulheit … was brachte eine Beziehung? Was brachten Bekanntschaften? Was sollte all dies mir noch geben?

Bestenfalls mehr Schwierigkeiten, mehr Schmerz, mehr Belastungen!

In meinen Augen setzte ein allzu vertrautes Brennen ein – ob es von der Kälte oder doch eher von meiner tonnenschweren Traurigkeit herrührte, vermochte ich nicht zu sagen.

Eine Gruppe lachender an mir vorbeimarschierender junger Leute brachte meine Gedanken zurück in die Gegenwart und erinnerte mich daran, wo ich mich befand: Vor einer Jazz-Bar, deren Namen ich nicht kannte.

Ich suchte einen Schriftzug oder ein Informationsschild, doch nichts davon war vorzufinden. Nicht einmal in dem winzigen quadratischen mit schwarzen Vorhängen verhüllten Fenster hatte man irgendetwas angebracht, das Besuchern oder allfälligen Touristen erklärt hätte, wohin das Schicksal sie gelenkt hatte.

Wie ich dann wissen konnte, um welche Art von Bar es sich handelte? Im Internet hatte ich davon gelesen. Ein unbedeutender Zeitungsartikel war verfasst worden, um Werbung für eher unbekannte Bars, Pubs und Cafés in Villach – der inoffiziellen zweiten Hauptstadt Kärntens – zu machen.

Tja, und nun stand ich hier in dieser grauenhaften Kälte, quälte mich mit Seelenschmerz und Schüttelfrost herum und starrte eine abgeblätterte, durch jahrelange Sonneneinstrahlung nachgedunkelte Holzeingangstür an, welche mich von einer hoffentlich warmem Stube trennte.

Ein letztes Mal blickte ich durch die mindestens dreihundert Jahre alte mit dunkelgrauen Steinblöcken ausgelegte und von einer mich an das neunzehnte Jahrhundert erinnernden mickrigen Straßenlaterne ausgeleuchtete Gasse, deren finstres Flair der Zivilbevölkerung nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit bot – und trat zögerlich ein.

Genau genommen wusste ich nicht, was mich hierher bewogen hatte. Zuvor hatte ich mir einen Actionfilm im Kino angesehen – und normalerweise wäre ich daraufhin sofort nach Hause gefahren. Dann war mir jedoch der Zeitungsartikel eingefallen, und ein mir unverständliches Begehr, sich dieses Lokal anzusehen, hatte Besitz von mir ergriffen.

Diese Situation war höchst eigenartig, zumal ich noch nie zuvor in einer Jazz-Bar gewesen war und ich im Allgemeinen nicht sonderlich gerne aus ging. Das höchste der Gefühle stellten Kinobesuche oder ein Abendessen in einem Durchschnittsrestaurant dar.

Was sollte ich alleine auch großartig unternehmen? Ich hatte keine Freunde – und Discos sagten mir seit jeher nicht zu.

Eine mir entgegenschlagende, wohlige Wärme unterlegt mit dumpfen Jazzklängen sowie stickigen Gerüchen, welche sich aus Tabak und altem Mobiliar zusammensetzten, gebot meinen ausufernden Gedankenspielen Einhalt.

Ich zog den Mantel aus und hängte diesen auf eine heillos überladene Kleiderablage.

Um meinen rasenden Puls zu senken, atmete ich einmal tief durch. Logischerweise half es nichts. Ebenso wenig gelang es mir, das Zittern aus meinen Händen zu verbannen oder diese prickelnd-schneidenden Adrenalinausstöße zu stoppen.

Verständlich zusammengefasst bedeutete dies: Wie üblich war ich ein nervliches Wrack, ohne überhaupt jemanden angetroffen oder schlechte Erfahrungen gesammelt zu haben …

Innerlich verzog ich das Gesicht.

Schlechte Erfahrungen hatte ich doch zur Genüge gesammelt! In der Schule sowie im privaten Bereich.

Womöglich reagierte mein Körper deshalb andauernd solcherweise heftig?

Unwichtig.

Nun war ich hier – nun räumte ich dem Lokal eine Chance ein. Sollte es mir nicht sympathisch sein, würde ich eben kein zweites Mal mehr vorbeischauen.

Ich stemmte mich gegen die wuchtig anmutende Holzzwischentür und stolperte in einen vernebelten, nächtigen Raum.

Aus dem zuvor noch undefinierbaren matschigen Musik-Tingeltangel erwuchs ein satter, von einer weiblichen Stimme leidenschaftlich vorgetragener Frank-Sinatra-Song.

Halb verunsichert, halb neugierig ging ich ein paar Schritte weiter und nahm die vor mir willkürlich aufgestellten Tische genauer in Augenschein.

Ein jeder Einzelne war belegt.

Verdammt.

War ich gar umsonst durch diese elende Kälte hierher geirrt?

Das hätte mir gefehlt!

Nochmals unterzog ich den trüben Raum einer Prüfung – und entdeckte einen schmalen leeren Tisch im hinteren Bereich – dort, wo sich normalerweise schwer verliebten Pärchen verdrückten, um wild herumzuknutschen oder zu fummeln … oder beides.

Regelrechter Hass wallte in mir empor und stahl selbst den kläglichen Rest meiner guten Laune.

Diese impertinenten, kichernden Pärchen – ich hasste sie. Allesamt! Und erst ihr fürchterliches Gehabe! Die lieblichen Blicke, das Händchenhalten – die schrecklichen Kosenamen.

Ja, Schatzi, ja Schnucki, ja Mausi, ja Hasi …

Wie konnte man so etwas niedlich finden? Dies waren bestenfalls peinlich! Wenn jemand mich auf eine solche Weise genannt hätte – ich hätte mich in Grund und Boden geschämt.

Meine Gedanken kreisten unaufhörlich weiter.

Verliebtheit.

Alles drumherum war peinlich, ja infantil. Die körperlichen Reaktionen, die Tagträume, die hochnaive Fröhlichkeit. Einfach alles! Am dümmsten allerdings war nach wie vor der Glaube, der oder die Auserwählte empfände dasselbe wie man selbst!

Das taten sie nicht! Das taten sie nie!

In meinem spärlichen Bekanntenkreis gab es niemanden, welcher jemals die wahre Liebe gefunden hatte.

Und ich? Ich wurde benutzt, ignoriert und belächelt.

Warum eigentlich gingen Menschen Beziehungen ein? Ehen hielten ohnehin bloß durchschnittlich zehn Jahre. Und gegenüber einer fixen Beziehung bevorzugten Männer seit jeher One-Night-Stands.

Damit stellte sich wiederum erneut die Frage: Weshalb war ich hierher gekommen?

Ein sexuelles Abenteuer suchte ich nicht. Wenn ich es nötig hatte, machte ich es mir selbst. Erstens kam ich und zweitens konnte ich es machen, wann und so oft ich Lust dazu hatte. Darüber hinaus wollte ich keine Beziehung mehr. Nie, nie mehr.

Weshalb hast du dann dieses Kleid angezogen?, schoss es mir durch den Schädel.

Damit jemand mich angaffte?

Nein.

Ich brauchte keine Aufmerksamkeit. Ich bekam keine Aufmerksamkeit. Also, was tat ich hier? Verdammt noch einmal!

Offenbar war ich frustriert oder dumm oder beides zusammen.

Unterdessen ich mich auf den Weg zu dem freien Tisch machte – und mich gedanklich ein paar Mal mehr verteufelte – wandte ich mich der Bühne zu. Die volle, weiche Stimme, welche die Besucher größtenteils schweigend zum Takt wippen ließ, gehörte einer etwa fünfunddreißigjährigen afrikanischen Frau. Ihr wohlgeformter Körper war in ein dunkelblaues, tief ausgeschnittenes Samtkleid gehüllt. Ein protziges, silbrig schimmerndes Collier zierte ihr üppiges Dekolleté. Passend zu ihrem Look trug sie einen immensen Afro, der ihren markanten Gesichtszügen einen Teil ihrer Härte nahm. Begleitet wurde die Frau von einem Saxofon, einer spanischen Gitarre und einer Bass-Gitarre, deren sanfte Spielweise mir regelmäßige wohlige Schauer bescherte.

Die Bühne fiel ziemlich klein aus. Die Musiker hatten eben genügend Platz, um sich nicht gegenseitig im Weg zu stehen oder sich ungewollte Kinnhaken zu verpassen. Die Wand dahinter war mit einem schwarzen Samtvorhang ausgeschmückt worden und der sepiafarbene Bühnenholzboden war derselbe, welcher im restlichen Lokal verlegt worden war.

Letztgenanntes, so schätzte ich, fasste um die hundert Personen. Von der vertäfelten Holzdecke hingen schummrige Lampen, welche ein gelbliches Licht ausschickten. Dieses wurde von der dunklen Einrichtung jedoch vollends verschluckt. Durch den übermäßigen Tabakkonsum reichte der blaue Dunst nahezu bis zum Boden. Mich störte es nicht. Eher das Gegenteil traf zu. Die Musik, die Leute, der Rauch, der Geruch, das Licht – alles passte irgendwie zusammen … nein, gehörte zusammen. Fehlte lediglich eine dieser Komponenten, hätte dies einen beträchtlichen Teil der gediegenen Atmosphäre genommen. Dabei war ich grundsätzlich kein Freund von Menschenansammlungen …

Ich ließ mich auf den gepolsterten Holzstuhl nieder, stellte meine schwarze Tasche neben mich auf den Boden hin und nahm die Getränkekarte aus der Halterung.

Spirituosen mied ich, seitdem ich zu denken in der Lage war. Cola zählte auch nicht eben zu meinen Lieblingsgetränken. Und auf bloßes Wasser hatte ich erst recht keine Lust. Somit fiel meine Wahl auf einen Kakao mit viel Schlag.


Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

Eben war ich dabei gewesen, den dritten Schluck des köstlichen Heißgetränks zu nehmen, da brachte eine jugendlich-sanfte Männerstimme mich dazu, mitten in der Bewegung innezuhalten und nach links zu blicken.

Mir blieb die Luft weg.

Himmel … Diese Augen. Diese ausdrucksstarken, verlorenen, selbstsicheren, verhaltenen, ehrlichen Augen … auf eine eigenartige Weise muteten sie mir vertraut an – und strahlender hätten sie nicht sein können. Die Farbe jedoch war mir beim besten Willen nicht zu erkennen möglich. Waren sie blau, grün, grau?

Dieser mich aufwühlende, reine Ausdruck in ihnen intensivierte sich sekündlich. Sie erforschten mich. Sie durchbohrten mich. Sie drangen tief in mich ein, berührten mein Innerstes.

Ich fühlte mich entblößt … ebenso behütet … ungleich mehr verunsichert.

Für einen unbedeutenden, verrückten Moment erweckten sie in mir den Eindruck, sie hätten bereits einen jeden Quadratmillimeter meines Körpers, meiner Seele, meiner Gefühlswelt erforscht, gesehen, vereinnahmt.

Räuspernd schüttelte ich den Kopf – zum einen, um dem Besitzer dieser wahnsinnigen Augen eine Antwort zu geben, zum anderen, um meine Gedanken zu fokussieren. »Nein, keine Sorge. Setzen Sie sich ruhig.«

»Vielen Dank.« Mit einer überraschend eleganten Bewegung ließ der junge Mann sich mir gegenüber nieder, dessen Outfit aus einem schneeweißen Hemd und einer schwarzen Anzughose bestand. Ein Sakko fehlte. Ebenso eine Krawatte – was mir sehr zusagte. Krawatten hatten etwas Verklemmtes, Altmodisches, Steifes an sich, das mich stets an kleinkarierte, zwanghaft pingelige oder nach Selbstbestätigung dürstende Personen erinnerte.

Die obersten drei Besätze des Hemds trug der Mann verwegen offen.

»Heute ist es ungewöhnlich voll«, meinte dieser. »Üblicherweise sind die Tische nicht einmal zur Hälfte besetzt.«

»Ja?«

Nickend warf er mir ein aufgeschlossenes Lächeln zu, das es dennoch nicht gänzlich vollbrachte, den hantigen Beigeschmack der vorgespielten Freundlichkeit zu übertünchen. »Wahrscheinlich liegt dies an der Sängerin. Sie ist ein aufsteigender Stern. Wenn Sie mich fragen –« Unvermittelt stockte er. »Obgleich Sie dies nun nicht getan haben –« Ein sich nervös anhörendes minimales Kichern drang aus seiner Kehle. »Ich bin mir sicher, sie wird noch einmal Weltruhm erlangen.« Im Anschluss daran senkte sich sein Blick nahezu reumütig. Auf seinen Lippen dagegen ruhte weiterhin dieses – nun wesentlich lockerere – Dauerlächeln, von welchem mir ungewollt ein wenig warm wurde.

Wer war dieser Mann?

Dem Kleidungsstil nach hätte ich ihn geradewegs in die Businesskategorie eingeordnet – eine Art Regionalleiter auf dem Weg zum Managerposten. Seine von ihm zwanghaft unterdrückte verhaltene Ausstrahlung wiederum ließ eher auf einen Stammbesucher mit Schwerpunkt One-Night-Stands schließen. Genauso gut könnte es sich aber auch um den Sohn des Lokalbesitzers handeln, welcher sein aufpoliertes Ego an weiblichen Gästen präpotent zur Schau stellen wollte.

Ich betrachtete sein freundliches Gesicht, spürte seine Nervosität …

Oder war er gar ein arbeitsloser Studienabbrecher?

Möglichst unauffällig – sprich indem ich einen Schluck Kakao trank – versuchte ich, Mr. Mysteriös nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen, was durch die fahle Lokalbeleuchtung bedauerlicherweise recht schwer zu bewerkstelligen war.

Seine Lippen waren weder voll noch schmal – für meinen Geschmack genau richtig. Seine Augen zeigten eine angedeutet ovale bis schräge Form und wurden von langen dichten Wimpern umsäumt. Das füllige, höchstwahrscheinlich braune Haar – allmählich begann dieses dumpfe Licht mich wahrhaftig zu stören – trug der Mann locker nach hinten gekämmt. Dennoch hatten einige gewellte Strähnen sich gelöst, welche nun sachte über seine Stirn fielen. Eine elegant geformte, kleine Nase rundete sein jugendlich-feminines Angesicht ab. Seine Hände ruhten auf dem Tisch, die Finger ineinander verschränkt, und sahen gepflegt, ja nahezu zerbrechlich aus. Korrektur: Seine gesamte Statur wirkte filigran, ätherisch.

Kurzum: Er sah umwerfend aus.

Umwerfend für mich – andere Frauen in meinem Alter hätten ihm eher den Stempel Jungspund aufgedrückt. Insbesondere durch seine einerseits frische, unbeschwerte, andererseits unsichere, vorsichtige Wirkung. Dieser zum Trotz schätzte ich den Mann um die Dreißig ein. Vielleicht ein, zwei Jahre darunter.

Ich konnte mir gut ausmalen, wie er regelmäßig um Akzeptanz kämpfen musste und von Menschen im Allgemeinen nicht ernstgenommen wurde.

Dieses Schubladendenken kannte ich aus persönlicher, schmerzhafter Erfahrung. Alsbald man nicht dem gängigen Ideal entsprach – überhebliches Getue, altes und reifes Aussehen – wurde man zu einem unfähigen, eingeschüchterten Mauerblümchen degradiert. Vor allem im Job nagte ein solches Verhalten schwer am Ego, und Lebensfreude und Tatendrang nahmen sukzessiv ab.

»Sind Sie zum ersten Mal hier?«, zog mein fremder Tischgenosse mich aus meinen ausschweifenden Überlegungen.

Ich bejahte. »Und ich muss sagen, es gefällt mir – bisher jedenfalls.«

Ein glückliches Lächeln enthüllte strahlend weiße Zähne. »Das freut mich! Hübsche junge Frauen begegnet man hier selten.«

Eine peinliche Wärme stieg mir in die Wangen.

Offenkundig ging Mr. Mysteriös sofort in die Vollen, alsbald seine Hemmungen sich gelegt hatten – was mich zurück auf meine anfängliche Vermutung brachte: War er Stammgast in diesem Lokal, auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer?

»Soviel ich gesehen habe«, erwiderte ich. »Tummeln sich hier einige junge Frauen.«

Frauen, welchen ich niemals das Wasser reichen konnte. Frauen, welche dieser Schönling normalerweise hätte ansprechen müssen.

Sein durchdringender Blick nahm nochmals an Intensität zu. »Nun, die Betonung lag ja auf hübsch.«

Ich und hübsch?

Ich war nicht hübsch – bestenfalls langweiliger, normaler Durchschnitt … womit eindeutig bewiesen war: Feschak war ausnahmslos auf einen One-Night-Stand aus.

Innerlich seufzte ich.

Typisch.

Welcher gut aussehende, ledige Mann war schon auf der Suche nach einer festen Beziehung? Stellte eine solche doch bestenfalls Pflichten, Freiheitsentzug und Alltagsallüren dar. Zumindest, wenn es nach männlicher Auffassung ging. Und der klägliche Rest hübscher, anständiger Männer? Dieser war bekanntlich längst verheiratet und mit unliebsamen Kindern gesegnet.

Ich räusperte mich – und Mr. Ich-blicke-dir-bis-in-deine-Seele warf mir ein Lächeln zu, das in etwa sagte: »Ich habe dich damit erreicht – ob du es willst, oder nicht.«

Wie viele Frauen riss er mit dieser plumpen Masche wohl auf?

Nun, unbedeutend wie viele. Mich jedenfalls nicht! Dies konnte er sich gehörig in die engelsgleichen Haare schmieren!

»Ich glaube, es gibt sehr viele hübsche Frauen hier.«

»Tatsächlich?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ist mir bislang nicht aufgefallen.«

Allmählich wurde es ernsthaft eigenartig.

Derart angeflirtet hatte mich noch kein Mann zuvor in meinem Leben – weder unsympathische, ungepflegte Alkoholiker, geschweige denn Modeltypen, wie dieses Prachtexemplar.

»Dann sind Sie wohl nicht sonderlich oft hier?«, vermutete ich und nahm einen weiteren Schluck Kakao.

Über den Tassenrand hinweg durfte ich beobachten, wie eine markante Überraschung in seinem Gesicht aufblitzte.

»O doch! Jeden Tag.«

Wie jetzt? Jeden Tag?

Was machte er, bitte schön, jeden Tag hier? Hatte er nichts Besseres zu tun? War er tatsächlich arbeitslos, der Sohn des Lokalbesitzers … oder etwa hoffnungslos unbefriedigt?

»Dann haben Sie den anderen Damen anscheinend nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet.«

Für den Bruchteil einer Sekunde huschte über seine zarten Züge etwas Ähnliches wie ein Schatten. Doch noch ehe ich recht darüber hätte nachdenken können, war seine strahlende Freude zurück in den Vordergrund getreten. »Da muss ich nochmals widersprechen! Ich schenke Frauen grundsätzlich Aufmerksamkeit.« Er setzte eine perfekt platzierte, selbstsichere Kunstpause. »Darum nehmen Sie mein Kompliment endlich an. Selbst, wenn Sie es nicht hören wollen.«

Wie jetzt … ?

Er hatte bemerkt, wie wenig ich Komplimenten etwas abgewinnen konnte?

Was hatte mich verraten? Mein Mienenspiel, meine Körpersprache, meine Äußerungen?

Üblicherweise gelang Menschen es nicht, mich zu durchschauen oder einzuschätzen – günstigstenfalls mich zu verletzen.

Ich atmete tief durch und lehnte mich zurück. »Nun gut. Ich akzeptiere.«

Vorerst.

»Na endlich!« Ein niedliches Kichern durchdrang die mit Gesang und gelegentlichen Gesprächen durchsetzte, stickige Luft. »Ich fürchtete bereits, Sie würden nie mehr nachgeben.«

Echt jetzt?

Ich fasste nach meinem Kakao. »Flirten Sie andauernd in dieser Heftigkeit?«

»Flirten?« Der Mann schien äußerst erschrocken, den weit aufgerissenen Augen nach zu urteilen. »Das war kein Flirtversuch.«

»Für mich sehr wohl.« Ich nippte an der Tasse. »Das war sogar ein ziemlich billiger und alter Anmachspruch.«

Der nicht eben zu deiner eleganten, verhaltenen, gentlemanmäßigen Ausstrahlung passt.

»Bitte verzeihen Sie.« Er besah mich flehentlich. »Solcherweise wollte ich nicht anmuten.« Nach einer kurzen Weile, in welcher seine Verzweiflung sekündlich größere Ausmaße angenommen hatte, fügte er hinzu: »Habe ich mir dadurch alles verdorben?«

Sollte ich noch überrascht sein?

Zuallererst strandete ich in diesem Lokal, dann setzte sich ein atemberaubend schöner Jüngling zu mir … und nun hatte dieser ernste Sorgen, er könnte mich mit seinem – im Grunde genommen, sehr vornehmen – Geplapper verjagen?

War ich im falschen Film gelandet?

Ich blickte auf meinen Kakao.

Oder hatte man mir etwas in mein Diabetes auslösendes Heißgetränk geschüttet?

Ich wandte mich wieder meinem Tischnachbarn zu.

War ihm all dies ernst, oder gehörte dieses Pseudo-Rosamunde-Pilcher-Männertraumverschnitt-Verhalten ebenfalls zu seiner Anmachnummer?

Fakt war: Ein attraktiver Mann wie er brauchte sich grundsätzlich keine Gedanken zu machen, wie er auf das weibliche Geschlecht wirkte – ausgenommen, er kämpfte gegen dieselben Vorurteile wie ich. Dann konnte ich es teilweise nachvollziehen. Nichtsdestoweniger mutete mir sein Verhalten eine Idee zu gespielt und verkrampft an … als müsste er sich dazu zwingen, mit mir zu sprechen. Andersrum präsentierte er echte Selbstsicherheit. Salopp gesprochen erweckte er den Anschein, mit gezogener Handbremse zu fahren.

Gedanklich schlug ich mir an die Stirn.

Weshalb deduzierte, wertete und interpretierte ich wie wild durch die Gegend?

Weil ich insgeheim und trotz gegenteiliger Faktizitäten hoffte, noch die Liebe meines Lebens zu finden? Weil die Sehnsucht nach einem Partner stetig größere Ausmaße annahm? Weil ich verzweifelt, frustriert und desillusioniert tagtäglich für ein Wunder betete?

Himmel, Arsch und Zwirn!

Ich war nicht dumm – ich war der größte Idiot der Menschheitsgeschichte!

Wahre Liebe existierte nicht. Verständnisvolle, selbstlose Männer existierten nicht.

Und dieses Prachtexemplar hier vor mir?

Sicherlich war ihm nichts von seinem Gerede ernst. Er wollte eine flotte Nummer schieben – nicht mehr, nicht weniger.

Ich zuckte die Achseln. »Nein, keine Sorge.«

Atmete er erleichtert aus? Angesichts der lauten Musik konnte ich das nicht mit Sicherheit feststellen.

»Das beruhigt mich. Schließlich will ich mich mit Ihnen noch etwas länger unterhalten … falls es für Sie in Ordnung geht.«

Mit einer solchen Antwort hatte ich noch weniger gerechnet.

»Ja, sicher«, gab ich kühl zurück.

Das musste seine typische Masche sein. Anders konnte ich mir seine Aussagen beim besten Willen nicht erklären. Vor allem in meinem Fall nicht! Männer flirteten nicht mit mir. Männer sprachen mich nicht an. Und derart respektvoll war ohnehin noch niemand mit mir umgegangen.

Eine Kellnerin mit platinblondem Bobhaarschnitt trat zu uns und nahm die Bestellung des Mannes auf: ein stilles Mineralwasser ohne Zitrone, ohne Eiswürfel. Ehe sie wieder davoneilte, warf sie ihm ein seltsames Grinsen zu.

War sie eine seiner Liebschaften?

»Erzählen Sie mir etwas über sich«, meinte Mr. Mysteriös. »Ich bin neugierig.«

Weshalb sollte ich einem mir wildfremden Mann irgendetwas über mich erzählen?

»Erzählen lieber Sie mir, warum Sie jeden Tag hier zugegen sind. Ist Ihnen zu Hause solcherweise langweilig?«

Er legte den Kopf etwas schief. »Nein, ich arbeite hier.«

Oh!

Das erklärte einiges.

»Darum Ihr elegantes Outfit. Sind Sie Kellner?«

»Gefällt es Ihnen?«, kam es samt frechem Unterton schlagfertig zurück.

»Sollte es?«, entgegnete ich in einem ähnlichen Tonfall.

Hatte sein Kichern sich bis vorhin noch ziemlich verdeckt angehört, klang es nun befreit und offen. Zu diesem Kichern gesellte sich ein unschuldig-kindlicher Dackelblick, dem es ohne Weiteres möglich gewesen wäre, sämtliche Permafrostböden des Planeten in sekundenschnelle aufzutauen. »Es würde mich sehr freuen.«

Noch so eine vornehme, süße Anspielung …

Im Prinzip wollte ich mich nicht auf ihn einlassen. Ich wollte mich nicht ein zweites Mal veräppeln und ausnehmen lassen – aber wie dieser Mann sich mir gegenüber verhielt, würde es mir ziemlich schwerfallen, weiterhin hart zu bleiben. Erst recht bei einem solchen niedlichen Gesichtsausdruck und meinem nagenden, beißenden, brennenden Wunsch, endlich in meinem Leben geliebt zu werden.

Er intensivierte sein herzallerliebstes Mienenspiel. »Das ist mein Ernst.«

Hatte er etwa Gefallen an mir gefunden? An mir, dem flachen Männerschreck?

Was denkst du da?!

Männer, vorzugsweise attraktive, hatten sich niemals um mich geschert. Weshalb sollte dieser Umstand plötzlich eine Änderung erfahren haben?

Ich nippte an meinem Kakao.

Na, egal.

Ob er Interesse hegte oder nicht, war irrelevant. Und da es ihm ohnehin bloß um einen One-Night-Stand gehen konnte, brauchte ich mir nichts einzubilden oder mich tötenden Hoffnungen hinzugeben, weshalb ich das Gespräch am liebsten abbrechen und gehen wollte. Ich interessierte mich nicht für eine Bettgeschichte, selbst bei einem schönen Äußeren wie dem seinen nicht. Seine niedliche Bemühung, es mir recht machen zu wollen sowie seine galante Art weckten dennoch eine leichte Neugier in mir, und in weiterer Folge das Bedürfnis, mich intensiver mit ihm zu unterhalten.

Eine Unterhaltung würde mich ja nichts kosten. Des Weiteren war ich aus exakt diesem Grund hierher gekommen: Ich wollte mich amüsieren, neue Leute kennenlernen, ein wenig dem eintönigen Alltag entfliehen.

Nun hatte ich die Gelegenheit.

Nach einem weiteren Schluck des süßen Kakaos – und am Rande bemerkend, dass die talentierte Sängerin eine Pause eingelegt hatte – antwortete ich ihm.

»Ja, er sieht toll aus. Der Anzug steht Ihnen.«

Das Lächeln, welches sich bislang ausschließlich auf seine Lippen beschränkt hatte, begann sich in seinem gesamten Gesicht auszubreiten. Auf eine Weise erinnerte der Mann mich an mein einstiges Selbst – als ich meinen Glauben an die Gesellschaft noch nicht verloren hatte. Eine naive, unbeschwerte, beschwingte Zeit der Jugend, welche mir niemals auszukosten erlaubt gewesen war.

Dieser Mensch hatte etwas Reines, Unschuldiges an sich. Etwas, das man normalerweise nicht mehr in Erwachsenen vorfand. Es war ein Leuchten, das alleine Kinder zu zeigen vermochten – eine Unbeflecktheit, ein Glauben an Magie und Wunder.

»Ist Ihre Schicht zu Ende?«

Er bejahte – und mir fiel etwas ein. »Aber wenn Sie in dieser Bar kellnern, müssen Sie bereits einige hübsche Frauen angetroffen haben.«

»Nun fangen Sie abermalig damit an?« Verständnislosigkeit drängte seine Freude zurück. »Sie können wahrlich kein Kompliment annehmen, oder?«

Ich zuckte die Achseln. »Männer machen mir keine Komplimente.«

Keine Ehrlichen.

»Das sollten Sie aber«, erwiderte er prompt.

Nun wurde es mir etwas zu warm. Darum versuchte ich, abzulenken. »Wie ist es, hier Getränke auszuteilen? Können Sie sich mit den Sängern unterhalten? Oder verschwinden diese nach dem Auftritt sofort?«

»Was faselst du da?«, kam es jäh von der Kellnerin, die meiner hübschen Gesellschaft das Wasser hinstellte. Keinen Moment später schaute sie zu mir. »Er hilft nur ab und zu aus. Normalerweise –«

»Du musst diesen Sachverhalt nicht andauernd an die große Glocke hängen!«, unterbrach er sie unsicher. »Das mag ich nicht – und das weißt du ganz genau!«

Was ging denn nun ab?

»Aus dem Grund tue ich es ja!« Mit einer sich zunehmend verhärtenden Augenpartie legte die Servierkraft das dunkelbraune Tablett auf den Tisch. »Du kannst viel mehr von dir halten! Du hast großes Talent, aber spielst es andauernd herunter, als wärst du irgendein drittklassiger Amateur!« Um ihren für mich nicht nachvollziehbaren Standpunkt klarer zu machen, stemmte sie die Hände in die Hüften.

»Aber ich bin nicht besser als der Durchschnitt!«, erwiderte er.

Sie schüttelte theatralisch das Haupt, wodurch ihr Haar sanft wie blühendes Schilf hin und her schaukelte. »Es ist hoffnungslos mit dir!«

Ich blickte zwischen den beiden hin und her. »Worum geht es, wenn ich fragen darf?«

Gütig-verschmitzt lächelte sie mich an. »Er spielt Sax. Wie ein Gott!«

Mir wurde es kalt.

Er war Musiker?

Na ganz fein!

Dann ging es ihm tatsächlich um ein sexuelles Abenteuer!

Warum hatte ich mir für eine Millisekunde etwas Gegenteiliges erhofft? Nach derart vielen Jahren musste ich es längst besser wissen! Himmelherrgott! Gerne hätte ich mir selbst Gewalt angetan.

»Übertreib nicht solcherweise!« Die hysterische Stimme des Mannes riss mich aus meinem Selbstmitleid und nötigte mich, mich ihm zuzuwenden.

Seine Wangen erwärmten sich.

»Ich habe noch niemanden derart erotisch spielen gehört«, säuselte die Kellnerin.

»Du bist unmöglich!«, presste er hervor. Seine rechte Hand, welche krampfhaft seinen linken Unterarm festhielt, sprach von enormem Unbehagen. »Das gibt es gar nicht!«

Die sanfte Wärme seiner Wangen hatte sich in der Zwischenzeit in ein kräftiges dunkles Rot verwandelt, wodurch seine klaren Augen erheblich strahlender anmuteten.

Ich musste mir eingestehen: Seine Beschämung schenkte seinem niedlichen Äußeren noch dreimal mehr Liebreiz und Kuschelfaktor.

»Dein Spiel klingt wie heißer Sex in einer ebenso heißen Sommernacht.«

Dies brachte den Musiker gänzlich aus der Fassung – davon bezeugten seine traumatisierten Gesichtszüge wie seine versteifende Körperhaltung. »Hast du komplett den Verstand verloren?! Wie kommst du darauf, solche Sachen auszusprechen?«

Sie kicherte. »Ich sage einfach, was stimmt. Und dass du dich zu ihr gesetzt hast, bedeutet, dass du heute einmal etwas extrovertierter bist.«

Einmal etwas extrovertierter?

War er normalerweise etwa scheu? Reagierte er deshalb dermaßen heftig? Rührte daher sein eigenartig selbstsicheres wie zurückhaltendes Auftreten?

Halt! Er war doch Musiker! Da konnte er gar nicht scheu sein. Vielleicht nervös vor dem Auftritt … heftiges Lampenfieber – davon berichteten Stars und Sternchen ja immer wieder. Scheue hingegen passte da rein gar nicht ins Profil.

»Flirtet er sonst nicht?«, fragte ich vorsichtig.

Die junge Frau bejahte, der Saxofonspieler versteifte erheblich mehr und ich wusste allmählich nicht mehr, was ich von all diesen neuen Erkenntnissen halten sollte … zumal ich keine Zeit bekam, um diese vernünftig auszuwerten.

»Ich habe dich lange nicht mehr an einem besetzten Tisch gesehen.« Ihr Blick durchbohrte ihn förmlich. »Gefällt sie dir?«

Diese plumpe, rotzfreche und erst recht nicht taktvolle Äußerung der Kellnerin verwandelte des Mannes Antlitz in eine Leuchtrakete.

Es war ein köstlicher Anblick. Dessen ungeachtet erhob sich in mir das zwingende Bedürfnis, den Musiker in Schutz nehmen zu wollen.

Ich wusste zu gut um dieses beschämende Gefühl des Bloßgestellt-Werdens Bescheid. Es war grauenhaft, seelenvernichtend, entwürdigend und schier körperlich schmerzhaft.

»Sie haben ihn genug in Verlegenheit gebracht, oder?«

Vollumfänglich verunsichert doch ebenfalls große Dankbarkeit zum Ausdruck bringend, blickte der Mann kurzzeitig zu mir, ehe dieser sich zur Kellnerin zurückdrehte. »Vermutlich wäre es besser, noch etwas auszuhelfen. Nun hast du mir nämlich die gesamte Tour vermasselt.«

Das brachte neben der jungen Frau selbst mich zum Lachen – allerdings einzig aufgrund der Tatsache, auch ihn ungezwungen lachen zu sehen.

Seine Reaktion ließ auf zwei wichtige Dinge schließen. Erstens: Der Musiker fühlte sich nicht tief verletzt. Zweitens: Es ging nicht um ein beginnendes Mobbing oder absichtliche Sticheleien vonseiten der Kellnerin. Ergo: Das freche Verhalten war ihr Naturell – und der Musiker hatte damit keine groben Schwierigkeiten.

Das vehemente Kopfschütteln der Servierkraft lenkte meine Aufmerksamkeit auf diese zurück. »Du bleibst schön brav hier und unterhältst dich mit ihr. Ich habe dich seit Ewigkeiten nicht mehr mit anderen reden gesehen. Außerdem hast du die letzten Wochen permanent durchgearbeitet. Erhole dich ein wenig.«

Eine überfallsartige, mir einen brennenden Stich versetzende Ernsthaftigkeit verscheuchte alle fröhlichen Gefühlsregungen des jungen Mannes. »Aber, du weißt –«

Ein Nicken ihrerseits ließ ihn verstummen. »Ja, doch leider geht das nicht mehr. Du hast die Chefin gehört. Und ich würde ja, wenn mein Freund nicht so durchgeknallt wäre. Du weißt, wie er ist.«

Nun war er es, der nickte.

Worum ging es jetzt wohl?

Sie griff nach dem Tablett. »Bis Ladenschluss ist es kein Problem, nur dann …«

Der Musiker nickte ein zweites Mal.

»Genieße es.« Dies gesprochen verließ sie uns.

Und meine Neugier war endgültig entfacht. Ich trank den letzten Schluck Kakao, dann konnte ich mich nicht mehr davon abhalten, ihn auf den geheimnisvollen Dialog anzusprechen.

»Die letzten Sätze klangen überaus dramatisch. Gibt es Schwierigkeiten?«

»Nein, nein, es handelt sich bloß um etwas Dienstliches«, wehrte er ab und klärte die Stimmbänder. »Erzählen Sie mir noch etwas über sich? Über mich wissen Sie nun ohnehin bestens Bescheid.«

Offenbar sprach er nicht gerne über sich – was ihm neue Sympathiepunkte einbrachte.

Ich mochte Männer nicht, die überheblich über ihre tausend Hobbys und Erfolgsgeschichten berichteten. Auszeichnungen hier, Ehrungen da, Siege dort – es widerte mich an. Was aber nicht bedeutete, ausschließlich eine Schwäche für verklemmte, verschüchterte, unselbstständige Männer zu haben, welche gerne unter der Fuchtel der Frau standen.

Ein ehrlicher, offener, demütiger, die selbstverständlichen Dinge des Lebens schätzender, loyaler Mann stellte für mich das Nonplusultra dar. Jemand mit Herz und Hirn – keine unsäglichen Egospielchen und Machtkämpfe in Form von Erniedrigung und besserwisserischem Getue.

»Ich kenne nicht einmal Ihren Namen«, entgegnete ich.

Dies nahm mein mysteriöser Unbekannter sofort zum Anlass, um mir seine Hand entgegenzustrecken. »Ich heiße Tom.«

Ich zögerte. Letztlich schüttelte ich sie. »Sara.«

Er strahlte mich an. »Mit oder ohne stummes H?«

Ich kicherte. »Ohne.«

Himmelherrgott!

Mit seiner charmanten Art schaffte er es im Handumdrehen, mich zu erreichen.

»Na denn, Sara. Jetzt wissen Sie wahrhaftig genug über mich. Dann können Sie mir doch getrost etwas über sich verraten.«

Sollte ich? Sollte ich nicht?

Ich atmete hörbar durch. »Was möchten Sie wissen?«

»Überraschen Sie mich.«

Dieser Mann wurde minütlich rätselhafter.

Wie sollte ich jemanden überraschen? Mein Leben war langweilig. Da passierte nichts. Ein Tag reihte sich an den nächsten.

»Bedauerlicherweise muss ich Sie enttäuschen. Ich kann Sie nicht überraschen. Es gibt nichts Interessantes über mich zu erzählen.« Mit meiner rechten Hand deutete ich auf den Tisch. »Deshalb sitze ich ja hier.« Etwas leiser fügte ich hinzu: »Oder gehe überhaupt nicht außer Haus, da ich sowieso nicht weiß, was ich tun soll.«

»Und Freunde? Sie müssen ja nicht alleine ausgehen.«

Seine Aussage tat mir, ob ich es wollte oder nicht, in der Seele weh.

»Ich habe keine.«

Und hatte es nie gegeben.

Ich konnte Menschen schlichtweg nicht vertrauen – weder damals in der Schulzeit noch heute in der Arbeit.

Verwundert musterte er mich. »Gar keine? Ich meine … es gibt Arbeitskollegen, Nachbarn, Schulfreunde …« Das letzte Wort brachte ihn dazu, eine witzig-angewiderte Schnute zu ziehen. »Nun … Schulfreunde bilden wohl einen etwas eigenwilligen Zustand.«

Ich musste schmunzeln. »Ich glaube, ich brauche nichts Weiteres zu sagen. Offensichtlich haben Sie ähnlich schlechte Erfahrungen gesammelt, wie ich sie mein Eigen nennen darf.«

Soweit ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich stets alleine gespielt. Kinder oder Jugendliche in meinem Alter hatten meistens nichts mit mir zu tun haben wollen. Besser sollte ich sagen, sie hatten mich nie akzeptiert. Wenn ich mich beispielsweise zu einer Gruppe spielender Kinder gesellt hatte, hatte es andauernd geheißen: »Du gehörst nicht zu uns! Geh weg! Verschwinde!« Ähnlich verhielt es sich mit Geburtstagsparties. Lud ich die gesamte Klasse ein, kam eine Person.

Anfangs hatte ich mich einsam und verloren gefühlt. Nun war dieses Einzelgängersyndrom zu einem selbstverständlichen Teil meines Lebens geworden.

Und ich wollte niemals mehr etwas daran ändern.

Kurze Bekanntschaften waren in Ordnung – doch richtige Freunde? Nein! Weder brauchte ich Menschen zur erheiternden Konversation noch zum Ideenaustausch. Lieber schwieg ich für den Rest meines Lebens und verkroch mich in meiner Wohnung. Wenn ich mich mit Leuten intensiv unterhielt, wurde ich meistens ohnehin verletzt, missbilligend angeblickt oder mit unnötigen neunmalklugen Sprüchen bombardiert.

Beispiele gefällig?

Du musst dich öffnen, dann kommen die Leute auf dich zu!

Du musst dich an die Gesellschaft anpassen, dann wirst du dir keine blöden Meldungen mehr anhören müssen!

Du musst deine Mitmenschen akzeptieren, wie sie sind! Du darfst keine Vorurteile hegen!

Insbesondere die Sache mit den Vorurteilen hatte mir eine regelrechte Ohrfeige verpasst. Stets war ich diejenige gewesen, die Menschen bedingungslos und mit all ihren Macken und Vorurteilen akzeptiert und niemanden in eine Schublade gesteckt hatte. Ich hatte lediglich ebenfalls akzeptiert werden wollen – ob Personen meine Geisteshaltung und Lebenseinstellung verstanden oder nicht, war mir gleichgültig. Hauptsache in einem normalen vernünftigen Maß als Mitmensch und Individuum angesehen zu werden. Doch nein, das Gegenteil traf ein: Man machte sich lustig über mich, man ignorierte mich oder man beleidigte mich. Darum hatte ich mich an die Gesellschaft angepasst, indem ich mich von dieser abgewandt hatte.

Eine jede Person war ein singulärer, in sich geschlossener Mikrokosmos, in welchem unbekannte Naturgesetze vorherrschten. Solange Menschen nicht reif oder weise genug waren, um diese Wahrheit zu begreifen oder zumindest zu akzeptieren, würde ich mich weiterhin von ihnen distanziert halten.

»Was die Schule anbelangt«, erwiderte Tom und beendete damit meine philosophischen Ergüsse. »Ja wahrscheinlich. Ansonsten jedoch –« Die Intensität seines mich aufwühlenden Seelenblicks verdreifachte sich. »Sind Sie … nun … arbeitslos?«

Noch nie hatte ein Mensch mich dermaßen interessiert gemustert. Keine Sekunde blickte er zur Seite – ausschließlich meine Augen hielt er anvisiert. Zu meiner eigenen Überraschung fühlte sich diese Seelenerkundung zu keiner Zeit unbehaglich oder aufdringlich an. Eher sogar angenehm, vertraut, verschmelzend.

Es war irrsinnig …

Diese ganze Situation war irrsinnig … und maßlos verwirrend.

»Nein, nein. Ich bin nicht arbeitslos«, erwiderte ich und zwang mich krampfhaft, mich nicht noch weiter von seinem hypnotisierenden Blick einlullen zu lassen. »Allerdings mag ich es nicht, Arbeit und Privates zu vermischen.«

Betrachtete er eine jede Person auf diese eindringliche Art? War dies eine natürliche Verhaltensweise seinerseits?

Ich dachte zurück an den kurzen Wortwechsel mit der Kellnerin – und meine Frage war beantwortet. Ja, auch sie hatte er auffallend angeblickt … Womit meine minimale Hoffnung auf eine ehrliche Sympathie Toms zu meiner Person hin augenblicklich verstarb.

Es lag ihm eben nichts an mir. Hier ging es, wie üblich, um Selbstsucht, sprich ein unbefangenes Gespräch, um die Zeit totzuschlagen, oder die Hoffnung auf einen One-Night-Stand.

Hilflosigkeit in Kombination mit vorgegaukelter Wertschätzung wirkte beim weiblichen Geschlecht wie ein Brandbeschleuniger. Waren Männer sich dieses Vorteils bewusst, nutzten sie diesen schamlos aus – was im Umkehrschluss bedeutete, dass die leidtragenden Frauen ausgenutzt und schlussendlich weggeworfen wurden.

»Oh.« Er hielt inne – schien angestrengt zu überlegen. »Ich verstehe.«

Wertete er mein Verhalten? Suchte er eine Bestätigung? Ein Zeichen, ob ich Interesse an ihm hegte? Ob ich willig war, ihm blind zu vertrauen … ?

Kälte kroch mir in die Glieder.

Wollte Tom mich rumkriegen und ausnutzen … wie mein fürchterlicher Ex-Freund?!

Eine heftige Gänsehaut raste mir stechend über den Körper.

Nein, nein! Von mir erhielt kein Mann mehr Bestätigung, Verständnis oder Mitgefühl! Diese Zeit war lange vorüber! Ich war nicht mehr das naive, blinde Schulmädchen!

Wahrscheinlich war es besser zu gehen, ehe ich mich noch gänzlich von diesem Mann einlullen ließ und mir gar eine Beziehung mit ihm zu wünschen begann.

Ich wollte mich erheben, da startete die zweite Hälfte des Auftritts – und wie das Schicksal es wollte, musste die afrikanische Frau einen meiner Lieblingssongs anstimmen: »Hallelujah« von Leonard Cohen.

Sie sang sämtliche Verse: die aus seiner ersten Version sowie die aus den späteren.

Ich liebte die Melodie und Cohens Stimmfarbe, viele Stellen des Textes jedoch waren blanker Hohn. Hohn gegenüber Frauen. Es war mir schleierhaft, weshalb gut aussehende Frauen von Männern im Allgemeinen stets manipulierend angesehen wurden. Ob im biblischen oder im alltäglichen Sinne, Frauen waren die Verführer: Eiskalt und berechnend … und sobald sie hatten, was sie wollten, schlugen sie erbarmungslos zu. Dabei waren es die Männer, welche Frauen die große Liebe vorgaukelten, einzig um sie kurz darauf stehenzulassen – nein, fallenzulassen, in einen dunklen Abgrund …

Männer betrogen ihre Ehefrauen, kümmerten sich nicht um ihre unehelichen Kinder oder schlugen gar ihre Familie. Aber es war ja bekanntlich leichter, eine hübsche Frau zum Sündenbock zu degradieren, anstatt seine eigene Schwäche einzugestehen und zu sagen: »Ja, ich fand sie schlicht und ergreifend attraktiv und deshalb habe ich meine Frau betrogen.«

Wie hieß es noch gleich?

Zu einem Betrug gehören immer noch zwei.

Selbst wenn eine wunderschöne Frau einen verheirateten Mann bezirzte, bedeutete dies noch lange nicht, seinen Trieben nachzugeben und mit ihr ein Techtelmechtel anzufangen. Falls einem Mann etwas an seiner Ehefrau lag, hinterging er diese nicht. Punkt. Alles andere waren billige Ausreden. Ebenso verhielt es sich vice versa. Entweder man war treu und liebte einander, oder man musste sich trennen.

Fatalerweise lief es heutzutage nicht mehr auf diese einfache, korrekte Weise. Vor allem, da Männer sich seit jeher in die Opferrolle hüllten – betrogen und ausgenutzt von Frauen, von der Arbeit, von Kollegen, von der Welt …

Und schließlich folgte das i-Tüpfelchen: die Mütter.

Hatte eine Frau mehrere Kinder und darunter befand sich ein Sohn, wurde dieser zumeist verhätschelt ohne Ende. Insbesondere, wenn dieser überdurchschnittlich schlecht in der Schule war und selbst rein gar nichts auf die Reihe brachte. Dann bekam dieser Geld zugesteckt, erbte später Haus und Hof … und allfällige Töchter? Die mussten schauen, wo sie blieben.

Ach ja, die armen Männer! Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.

»Gefällt Ihnen das Lied?«

Ich drehte mich zu Tom.

Ich musste gestehen, kurzzeitig hatte ich ihn vergessen.

Meine gedanklichen Ausschweifungen wurden von Jahr zu Jahr schlimmer …

Toms durchdringender wie fragender Gesichtsausdruck brachte mich komplett in die Realität zurück.

Ich wollte mich doch längst auf dem Nachhauseweg befinden!

Verfluchte Musik!

Immer dasselbe! Vernahm ich ein schönes Lied, konnte ich mich nicht davon abhalten, es bis zum Schluss anzuhören.

Seufzend lehnte ich mich zurück.

»Sara?« Tom sah mich nach wie vor neugierig an. »Gefällt Ihnen dieses Lied?«

»Ja.«

Er lächelte vergnügt. »Dann erzählen Sie mir, weshalb.«

Langsam wurde mir dieser Typ zu aufdringlich – und in exakt diesem Augenblick endete der Song.

Wahrhaftig, Halleluja!

»Tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Morgen habe ich noch einige wichtige Dinge zu erledigen.«

Ein Schatten flog nahezu unmerklich über Toms Gesichtszüge, welcher durch ein einladendes, antrainiertes Lächeln restlos bekämpft wurde. »Kann ich Sie irgendwie überreden, noch etwas länger zu bleiben?«

Ernsthaft?

Allmählich musste er begreifen, dass ich kein Interesse an einem One-Night-Stand hegte und sein Hypnose-Seelenblick an mir längst abgeprallt war.

Stumm schüttelte ich den Kopf – und Tom wirkte sichtlich verzweifelt.

Ich verstand seine Reaktion nicht. Eigentlich verstand ich diesen Menschen per se nicht. Deshalb, und angesichts meiner Lebenserfahrung und das daraus erwachsene Misstrauen fremden Personen gegenüber, entschied ich mich, nach meiner Tasche zu fassen und aufzustehen.

»Kommen Sie bald wieder vorbei?« Die Traurigkeit in seiner Äußerung war trotz der Musik unüberhörbar.

Ein guter Schauspieler.

Wollte er mich warmhalten?

»Das weiß ich noch nicht. Wie gesagt: Ich gehe nicht gerne aus, da ich alleine nicht weiß, was ich machen soll.«

Ein kindliches Strahlen schenkte dem Musiker diese zuckersüße Niedlichkeit, gegen welche ein jedes Katzenbaby und erst recht jede Anime-Zeichnung alt aussah. »Nun … ab jetzt können Sie sich mit mir unterhalten! Wir können über die verschiedensten Themen plaudern. Sie werden nicht mehr allein dasitzen müssen. Ich leiste Ihnen gerne Gesellschaft.«

Für eine Sekunde schloss ich die Lider.

Gleichermaßen wie er mir auf die Nerven ging, berührte mich seine liebevolle Hartnäckigkeit.

»Wir werden sehen.«

»Nein, Sie müssen es mir versprechen.« Er erhob sich – langsam, elegant, selbstsicher. Da war keine Schüchternheit mehr. Von einer Sekunde auf die andere verhielt er sich wie jemand, dem die gesamte Welt gehörte.

Dies gab Raum für drei Vermutungen: Entweder litt Tom an Schizophrenie oder einer ähnlichen Geisteskrankheit, versuchte er durch seine Körpersprache seine große Unsicherheit zu überspielen oder aber, er mimte den schüchternen Jüngling.

Die dritte Theorie erschien am wahrscheinlichsten. Alsbald Tom bemerkt hatte, dass er mit seinem Shy-Guy-Verhalten bei mir nicht landen konnte, versuchte er eben eine andere Methode.

Es war logisch. Es war typisch. Es war die einzige vernünftige Erklärung.

Bestimmt dachte Tom, durch seine Attraktivität sowie dem Dackelblick mich im Handumdrehen einwickeln und eine kurze Nummer mit mir schieben zu können.

Mein Hass wuchs im Takt meines ankurbelnden Herzschlags, brannte in meinem Magen, krampfte in meinen Muskelsträngen.

Verdammte Menschen!

Verdammte Männer!

Verdammtes Leben!

»Auf Wiedersehen.«

Ohne mich noch einmal umzudrehen, ging ich zur Garderobe, langte nach meinem Mantel und trat hinaus in die eisige Nacht.

The sound of your soul

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