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Kapitel 21 – Sintflut der Gefühle


Vermag Liebe ein blutend Herz zu heilen

ein sterbend Licht zu erretten?


Jan wollte schreien, toben, sich zu Boden werfen …

Stattdessen versuchte er, die Karotten trotz zusehends heftiger bebender Hände zu schneiden.

Drei Wochen wartete er nun darauf, dass Liza sich meldete …

Drei geschlagene Wochen!

Doch Fehlanzeige!

Keine Mail.

Kein Telefonanruf.

Erst recht kein Besuch …

Hatte sie das Buch etwa verschenkt … oder gar weggeworfen?

Fand sie es tatsächlich dergestalt lächerlich, wie er insgeheim befürchtete?

Seufzend fasste er nach der nächsten Karotte.

Weshalb hatte er sich dazu überreden lassen, ihr das Buch zu bringen?

Er hätte längst wissen müssen, dass es nicht klappte! In der Vergangenheit hatte es schließlich auch nicht funktioniert! Da hatte ihm das Buch einzigen Ärger eingehandelt.

Die peinliche Erkenntnis ließ ihn rot anlaufen.

Abermals hatte er sich der Lächerlichkeit preisgegeben. Abermals hatte er umsonst gehofft. Abermals hatte er sich geirrt …

Es war zum Verzweifeln!

»Jan?« Tinas jäh erklingende Stimme hätte ihn beinahe dazu gebracht, einen Meter in die Höhe zu springen. »Sind die Karotten geschnitten?«

»Ja … ja.« Zitternd reichte er ihr das weiße Keramikschälchen gefüllt mit den runden Stücken des orangefarbenen Gemüses. »Hier bitte.«

»Beruhig dich, Jan«, sprach sie sanft. »Sie wird sich schon melden. Vielleicht hat sie einfach noch keine Zeit gehabt, das Buch fertig zu lesen.«

Was würde er nicht alles dafür geben, damit Lizas Schweigen aus einzig diesem Grunde herrührte!

»Ja … ich weiß, ich weiß. Das habe ich mittlerweile selbst angenommen.«

Ebenso wie die Annahme, dass sie das Buch erst gar nicht erhalten hatte. Ebenso wie die Annahme, dass sie sich schlichtweg nicht dafür interessierte – sie sich nicht für ihn interessierte.

Eine erdrückende Traurigkeit verscheuchte seine Aufgebrachtheit, legte sich um sein Herz, schnürte ihm den Hals zu.

Was, wenn sie sich tatsächlich über ihn lustig machte? Was, wenn sie sich einzig deshalb nicht mehr bei ihm melden wollte, weil sie die Geschichte lächerlich fand?

»Gib ihr noch zwei Wochen.«

Christofs Aussage ließ ihn zusammenfahren.

Woher wusste er …?

Scham, Verunsicherung, Wut sowie dutzende weitere Emotionen stürmten ihm durch den Leib, währenddessen er sich langsam zum Chefkoch drehte.

Der großgewachsene Mann warf ihm ein beruhigendes Lächeln zu. »Sie wird sich sicher bald melden.«

Hatte Tina mit Christof über sein Gefühlschaos gesprochen? Hatte sie etwa all seine ihr anvertrauten Geheimnisse ausgeplaudert?!

Es jagte ihm heißkalt den Rücken hinab. »Ich … ich kann ja ohnehin nichts anderes tun.« Sogleich er diese Worte kundgetan hatte, warf er seiner besten Freundin einen erbosten Blick zu.

Er hatte sie angefleht, niemandem etwas darüber zu sagen! Regelrecht auf die Knie gefallen war er vor ihr! … Und nun? Nun wusste vermutlich das gesamte Hotel über seine unglückliche Liebe zu Liza Bescheid!

Wie peinlich und erniedrigend konnte dieser Moment eigentlich noch werden?

»Es tut mir leid«, kam es reumütig aus Tinas Mund. »Ja … ich habe es erzählt. Aber nur –«

»Ich habe sie darum gebeten, es mir zu sagen«, fiel Christof ihr ins Wort, wodurch Jan sich genötigt fühlte, sich zu Letztgenanntem zurückzudrehen. »Ich wollte wissen, was mit dir los ist. Ich mache mir nämlich langsam echte Sorgen.« Des Chefkochs üblicherweise harten Gesichtszüge nahmen einen überraschend sanften Ausdruck an. »Du bist komplett neben der Spur. Du verwechselst Gewürze, versalzt mir andauernd die Suppe und strotzt regelmäßig Mehl quer durch den Raum.«

Christofs Aufzählung, dachte Jan, sollte ebenso mit den zahllosen kleinen Schnittverletzungen, den wiederholenden Kopfstößen gegen die Dunstabzugshaube sowie den sechs zu Bruch gegangenen Wassergläsern ergänzt werden.

Ja, er wusste es selbst längst: Er war ein psychisches Wrack.

»Ich hätte nie etwas gesagt«, beteuerte Tina. »Aber ich mache mir einfach riesige Sorgen.«

Jan ließ den Blick durch die Küche gleiten.

Aufgrund Gästemangels hatte der Hotelchef die halbe Belegschaft in Urlaub geschickt.

Zum Glück! Somit konnten wenigstens nur Christof und Tina diesem beschämenden Gespräch innewohnen.

Christof schaltete den Herd auf »eins« und trat anschließend zu ihm. »Niemand sonst weiß etwas darüber. Ich habe nichts gesagt.«

Dieses Wissen vermochte Jan nicht annähernd auf die Art zu beruhigen, wie der Chefkoch sich dies wahrscheinlich vorgestellt hatte.

Eher das Gegenteil trat ein: Sekündlich verärgerter wurde er.

»Ist gut«, versuchte er dennoch im verzeihlichen Tonfall zu entgegnen. »Ich verstehe schon.« Unglücklicherweise klang sein bescheidener Versuch mehr nach einem hilflosen Hervorwürgen eines sekkanten Wortes, anstatt nach einer mitfühlenden wie dankbaren Antwort, welche man einem besorgten Freund gab.

Ich verstehe schon … Etwas Dümmeres hatte ihm nicht einfallen können …

Aber was hätte er Christof sagen sollen?

Ich vergehe vor Scham, weil du es weißt?

Ich würde am liebsten im Erdboden versinken?

Ich bin froh, dass du über meine unglückliche Liebe Bescheid weißt … und in weiterer Folge über meine Unfähigkeit, eine Beziehung einzugehen?

Herrgott!

Noch niemals zuvor hatte er mit anderen Menschen über sein Herzensleid gesprochen! Nicht einmal mit seiner eigenen Mutter! Und nun sollte er sein Herz womöglich dem Küchenchef ausschütten?

Ja, ging’s denn noch!?

Seine vermaledeiten Emotionen schlugen zusehends größere Wellen. Sie wechselten von Kummer zu Wut, dann zurück zu Verzweiflung, einzig um abermals Ärger hervorzubringen.

Verdammt … Er musste sich zusammenreißen. Es brachte nichts, sich aufzuregen. Dadurch würde seine Lage sich nicht verbessern.

Ein tiefer Atemzug brachte die gewünschte Wirkung.

Doch schneller, als er zu denken imstande war, legte neue Verzweiflung sich um seine Seele.

Was hatte er verbrochen, um nun wie ein Häufchen Elend vor seinen Arbeitskollegen stehen zu müssen?

Wenn er daran zurückdachte, wie oft er in den letzten Monaten über sich selbst hinausgewachsen war, wie viel er auf sich genommen hatte … Warum, in Gottes Namen, musste dennoch alles schiefgehen, was schiefgehen konnte?!

Da hatte er eine Woche gebraucht, um sich zu überwinden und mit Tina über seinen größten Herzenswunsch zu sprechen. Da hatte er all seinen Mut zusammengenommen, um Liza sein missratenes Buch zu bringen – einzig um zur Erkenntnis gelangen zu müssen, es umsonst getan zu haben. Und zu allem Überfluss musste Christof nun über seine hoffnungslose Liebe zu Liza Bescheid wissen!

Hatte er nicht genügend gelitten? Hatte er nicht genügend Schmerz erfahren? Weshalb musste er sich wieder und wieder zum Idioten machen?

Weshalb?!

Ein unbändiger Drang, die Küche zu verlassen, stellte sich gegen seinen schwächelnden Willen. Er quetschte sein rasend Herz, nahm ihm die Luft zum Atmen, brachte seinen Körper zum Vibrieren.

Was musste er tun, um jemals erfolgreich sein zu dürfen – mit seinem Buch … bei Liza … überhaupt in seinem Leben? Was musste er tun, um nicht als ewiger Verlierer dazustehen? Was musste er tun, um endlich ans Ziel zu gelangen?

Mit einer jeden verstreichenden Sekunde wuchs sein Verlangen, alles Stehen und Liegen zu lassen und zu verschwinden: Raus aus der Küche, raus aus dem Hotel, raus aus diesem Dorf – und hinein in einen Wald und sich in die Erde vergraben …

»Liebeskummer ist etwas Schreckliches.« Christofs Hand, welche sich auf seine Schulter legte, riss ihn kurzzeitig aus seinem Taumel. »Ich spreche aus Erfahrung. Ich habe mich auch einmal in ein Mädchen verguckt – aber das wollte dann nichts von mir wissen.«

Er wusste, es war bloß ein gut gemeinter Ratschlag. Aber sosehr er es wollte, es gelang ihm schlichtweg nicht mehr, sich diesem beißenden Gefühl des Missverstandenseins wie der Kompromittierung zu erwehren.

Bei Gott … Es war ihm selbst klar, wie fürchterlich Liebeskummer sich anfühlte! Speziell dann, wenn Liebe nicht erwidert wurde! Und weitaus schlimmer, wenn die Angebetete seine absolute Traumfrau darstellte! Aus exakt diesem Grunde fühlte er sich schließlich dergestalt elend! Aus exakt diesem Grunde litt er an all diesen Hemmungen. Aus exakt diesem Grunde hatte er sich von Frauen distanziert!

Himmelherrgottsakrament!

Ein unmöglich zu unterdrückender Seufzer drang aus seiner Kehle.

Wäre Liza lediglich eine unbedeutende Schwärmerei gewesen, wie einst Hannah in der Hauptschule …

Sein verschwommener Blick wanderte zu Tina zurück.

Oder würde sein Liebeskummer einzig von der Distanz herrühren, wie es bei seiner besten Freundin der Fall war …

Er hingegen hatte weder die Möglichkeit seine Traumfrau telefonisch noch mit dem Zug zu erreichen – denn Liza wollte bekanntlich nichts mit ihm zu tun haben! Er musste mit der bitteren Erkenntnis leben, sein Herz an eine Person verloren zu haben, welche seine Gefühle niemals erwidern würde.

Ein ihn in die Knie zwingender Emotionssturm fegte durch sein Innerstes, verdrängte Wut, um weiterer Verzweiflung Platz zu machen.

Er wusste es: Er liebte sie. Unsterblich. Bedingungslos. Abgöttisch.

Ebenso gut wusste er über die Infantilität dieser Tatsache Bescheid.

In seine Lage musste man sich einmal versetzen: Da liebte er eine Frau, welche er noch nie zuvor geküsst, geschweige denn intimere Zärtlichkeiten mit ihr ausgetauscht hatte! Er liebte eine Frau, welcher seine Existenz gleichgültig war. Er liebte eine Frau, welche keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendete …

Wie hatte er es so weit kommen lassen können?

Wieso hatte er sich nicht von Anfang an zurückgehalten?

Weshalb war es ihm nicht gelungen, sich von Liza abzuwenden?

Wieso?!

Frische Emotionswellen, darunter Ärger, Verzweiflung, Sehnsucht, Trauer und Hoffnungslosigkeit türmten sich in ihm auf. Sie umschlangen seine Seele, zerquetschten ihm den Brustkorb, brachten seinen Schädel zum Pochen. Zu diesen übelkeitsauslösenden Empfindungen gestellten sich jähe heftige Adrenalinausstöße gepaart mit Herzrasen, welche ihm Magen und Hinterteil zusammenkrampften.

Er blickte in die Gesichter seiner zwei Kollegen.

Pures Mitleid spiegelte sich in ihren Zügen wider – ein Ausdruck, der ihn an besorgte Eltern erinnerte …

Nein.

Nein!

Bei allem, was ihm heilig war!

Nein!

Er ertrug wahrlich vieles, aber ganz gewiss kein Mitleid!

Ein Schwall an Übelkeit erhob sich. Schweißausbrüche folgten. Scham vernebelte seine Sinne. Ein Schwindel ergriff Besitz von ihm.

Er musste hier raus … Er musste hier weg.

Sofort!

Ein »Es tut mir leid« drang gepresst aus seiner Kehle, gefolgt von erstickenden Schluchzern, ehe er sich umdrehte und aus der Küche stürmte.

Seine Sicht von Tränen verschleiert hechtete er durch den Korridor, weiter ins Foyer und letztendlich durch die Tür hinaus auf den Parkplatz.

Sein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. Eine niederzwingende nach wie vor ansteigende Beschämung wie seelische Schmerzen drückten ihm den Hals zusammen.

Er sah sich nicht um, als seine Beine sich erneut in Bewegung setzten. Ebenso wenig brachte er es zustande, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen.

Einzig vier Worte geisterten unentwegt durch seinen lahmgelegten Verstand: Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.

Blindlings rannte er die asphaltierte Straße entlang – als verlöre seine Sehnsucht mit einem jeden seiner Schritte an Kraft, als erleichterte ein jeder zurückgelegter Meter sein Herz.

Bedauerlicherweise trat nichts davon ein.

Weiter und weiter trugen ihn seine Beine.

Ich kann nicht mehr.

Stetig schwerer wurde sein Herz.

Ich kann nicht mehr.

Immer öfter rang er nach Atem.

Ich kann nicht mehr.

Erst nachdem das Brennen seiner Lungen einen nicht mehr ertragbaren Zustand erreicht hatte, gelang es ihm, stehen zu bleiben.

Keuchend und mit tränennassen Wangen blickte er sich um.

Die Pappelallee … weite Wiesen … das Schaffnerhaus – und daneben die alte Linde.

Seine Sehnsucht hatte ihn zum Hauptbahnhof geführt.

Liza.

Er benötigte keine Sekunde, um zu wissen, was er zu tun hatte.

Mit unsagbar gefestigten Schritten steuerte er den Ticketschalter an, kaufte dort einen Fahrschein nach Klagenfurt und trat zum Bahnsteig.

Er brauchte Gewissheit! Selbst auf die Gefahr hin, von ihr ausgelacht und verspottet zu werden … er musste ein für alle Mal Klarheit erlangen. Wenn Sie ihm den Laufpass gab – gut, dann sei es so! Dann vermochte er wenigstens, dieses fürchterliche Thema abzuschließen.

Aber in seiner jetzigen Situation?

Wie sollte er da weitermachen?

Das hielt doch keine Menschenseele aus!

Der haltende Zug riss ihn aus seinen rasenden Gedanken. Zielsicher betrat er den leeren Waggon, setzte sich auf einen Fensterplatz – das Ticket krampfhaft in seiner linken Hand haltend.

Liza. Wunderschöne Liza.

So gerne wollte er sie in seinen Armen halten. Er wollte sie lieben … sie nie mehr loslassen. Er wollte sich an ihre Schulter kuscheln, ihre Körperwärme spüren. Er wollte das wunderbare Gefühl der Geborgenheit und des Geliebt-Werdens in sich aufnehmen – und es nie mehr missen.

War daran etwas verwerflich? War es solchermaßen schrecklich, einen Menschen bedingungslos lieben zu dürfen?

War es ein Verbrechen, glücklich sein zu wollen?

Tränen flossen ihm über die geröteten Wangen.

Der Kontrollor trat zu ihm.

Jan blickte blinzelnd zu diesem hoch.

Entweder interessierte den alten Mann es nicht, oder hatte dieser genügend Anstand, ihn nicht auf sein verweintes Gesicht anzusprechen – auf jeden Fall warf er lediglich einen uninteressierten Blick auf das Ticket und schritt weiter, ohne ein einzig Wort verloren zu haben.

Und Jan?

Ihm war es ebenfalls egal geworden.

Er schämte sich nicht.

Nein.

Nicht mehr. Nie mehr!

Lange genug hatte er sich zusammengerissen. Lange genug war er unauffällig geblieben. Lange genug war er still gewesen.

Jetzt wollte und konnte er nicht mehr ruhig dasitzen und Däumchen drehen.

Liza.

Ein ihn selbst erschreckender Tatendrang entbrannte in ihm.

Es war genug! Schlichtweg genug! Genug für ein ganzes Leben!

Dieses verdammte Drama musste ein Ende finden! Sein Leben musste endlich eine Wende erfahren!

Er wollte glücklich sein! Er wollte, verdammt noch einmal, glücklich sein!

Jan ballte die Hände zu Fäusten.

Ab heute würde er nicht mehr passiv sein!

Genauso wie Theo ihm dies mit seiner Aussage klarzumachen versucht hatte: »Wenn du jemanden triffst, von dem du denkst, dass derjenige dein Leben verändern kann, dass derjenige alles für dich ist … dann um Himmels willen, kämpfe um ihn. Kämpfe darum. Lass nicht los … auch wenn es manchmal hart ist. Am Ende wirst du belohnt.«

Zum ersten Mal schien er den wahren Sinn in Theos Worten zu erkennen.

Er setzte sich gerader hin.

Das erste Mal in seinem Leben würde er nicht reagieren, sondern agieren. Das erste Mal in seinem Leben würde er wahrhaftig kämpfen – für seine Liebe zu Liza, für sein Glück, für sein Leben.

Wenn er schon kein erfolgreicher Schriftsteller wurde, dann musste es wenigstens mit der Liebe klappen!

Er wollte nicht mehr alleine sein. Er wollte nicht mehr von irgendwelchen fiktiven Frauen träumen. Er wollte Liza! Und nur Liza!

Bedrohliche tief am Firmament hängende schwarze Wolken ließen ihn für einen Moment innehalten.

War da etwa ein Gewitter im Anmarsch?

Der haltende Zug bescherte ihm einen leichten Adrenalinausstoß.

Klagenfurt.

Er war da.

Er musste aussteigen …

Aufflammende Bangnis unterdrückend erhob er sich und verließ den Zug. Alsbald er aus dem Bahnhofsgebäude trat, zuckte bereits ein Blitz über den dunklen Äther – und nicht lange dauerte es, bis ein tiefes Grollen Jans Herz kurzzeitig aus dem Rhythmus brachte.

Nein, nein, nein …

Eine sanfte dafür nicht minder hartnäckige Panik kroch allmählich aus den tiefsten Winkeln seiner Seele empor.

Ruhig bleiben. Einfach ruhig bleiben.

Mit mittelschwerer Anstrengung lenkte er die Gedanken zu dem wunderschönen Winterspaziergang zurück – wie Liza und er eingehakt durch den Schnee gestapft waren … Ihr wundersamer Blick, mit welchem sie die Rehe betrachtet hatte … Ihr zitternder Leib, welchen er an sich gepresst hatte – dort in der in Dunkelheit gelegenen Küche …

Durch die Erinnerungen neue Kraft entfacht straffte er die Gestalt, atmete ein paar Mal tief durch und setzte seinen Weg fort.

Dieses dumme Gewitter würde ihn nicht mehr aufhalten! Selbst wenn eine Sturmflut über ihn hereinbrach – er würde sich bis zu Liza durchkämpfen!

Ich werde nicht mehr aufgeben!

Keine zehn Minuten musste er warten, bis es anfing zu regnen … wie aus Kübeln.

Die schweren kalten Tropfen drangen wie nichts durch sein weißes Hemd. Und ehe er sich versah, klebte das Gewand wie eine zweite Haut an seinem Leib.

Frierend und bei einem jeden Donnergrollen zusammenzuckend wie für weiteren Mut betend marschierte er über die gelblich schillernden Pflastersteine. Zierbäume mit ihren heftig flatternden Blättern beugten sich ächzend im pfeifenden Wind – das saftige Grün ein solch unwirklicher Kontrast zum dunkelgrauen wilden Himmel.

Von den Straßen stieg leichter nach Asphalt und Stein duftender Dampf. Dieser erinnerte ihn daran, wie er im zarten Alter von sechs mit seinem kleinen weißen Fahrrad nach einem jeden Gewitter auf den verlassenen Waldwegen nahe Großmutters Haus auf Entdeckungsreise gegangen war.

Mehr und mehr Pfützen bildeten sich in den verwinkelten Gassen und auf den doppelspurigen Straßen. Autos fuhren rücksichtslos und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihm vorbei, bespritzen ihn mit vom heißen Asphalt erwärmten Regenwasser.

Nachdem er mittlerweile zum fünften Mal eine kostenlose Dusche erhalten hatte, beschloss er kurzerhand, einen anderen Weg einzuschlagen. Rennend überquerte er die Hauptstraße, bog rechts ab, um sodann einer schmalen Gasse zu folgen, welche ihn zu einem großen Platz führte.

Er kannte diesen Weg aus seiner Kindheit – damals hatte seine Mutter ihn jeden Tag zur Schule gebracht und war anschließend weiter in die Arbeit gegangen.

Obgleich es eine halbe Ewigkeit zurücklag, erinnert er sich nach wie vor an Mamas aufmunternde freche Art, ihre beruhigenden Worte und das strahlende Lächeln, welches sie nie verlor. Selbst dann nicht, als er ihr verkündet hatte, Schriftsteller zu werden. Ein Job, der ihr so wenig zugesagt hatte wie Janina …

Mamas mitreißendes Naturell hatte in den darauffolgenden Jahren zwar an Kraft verloren. Ihre Sichtweise, die Welt als einen magischen Ort zu sehen, hatte sich jedoch nicht geändert, ebenso wenig wie die Tatsache, an ihren Sohn zu glauben.

Selbst jetzt – mit einem gefloppten Buch und hohen Schulden stand sie zu ihm.

Wann hatte er Mama das letzte Mal besucht?

Es musste mindestens drei Jahre zurückliegen …

Ein neuer Schmerz entfachte in ihm.

Das musste er ändern! Alles musste sich ändern!

Unwillkürlich quollen Tränen ihm aus den Augen, vermischten sich mit den Regentropfen auf seinem Gesicht.

So viel bedurfte einer Änderung!

Sein verschleierter Blick glitt über den Platz.

Ein paar wenige äußerst tapfere kleine Sperlinge badeten fröhlich zwitschernd in den zu Seen angewachsenen Pfützen. Dutzende sich mit bunten Schirmen gegen die Regenflut schützende Leute eilten von einem Geschäft zum nächsten. Darunter Pärchen, welche sich glücklich aneinander kuschelten, sich küssten, sich süße Worte der Liebe zuraunten … und seinen Seelenschmerz immens erhöhten.

Liza.

Er musste zu ihr.

Er wollte sie umarmen. Er würde sie umarmen – gleichgültig, ob sie ihn mochte oder nicht!

Eben gedachte er, seinen Weg fortsetzen, da veranlasste ein durchsichtiger Regenschirm ihn, innezuhalten.

Weiße Sandaletten.

Ein buntes im Wind wehendes Kleid.

Leicht gelockte rückenlange, goldene Haare.

Liza.

Er rieb sich die Augen.

War sie es tatsächlich? Oder spielte seine Sehnsucht ihm einen üblen Streich?

Jäh richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn …

Er erstarrte.

Meerblaue Augen … bonbonrosa Lippen … gerötete Wangen.

Sie war es.

Sie war es tatsächlich!

O großer Gott!

Ein Donner vermochte es, ihn aus seiner Apathie zu reißen und seine Beine in Bewegung zu setzen.

Erst langsam, dann immer schneller schritt er auf sie zu – auf dieses verloren wirkende inmitten von Gewalt und Chaos stehende Geschöpf, welches sich krampfhaft an seinem Schirm festhielt.

Und plötzlich stand er vor ihr – kein halber Meter trennte sie voneinander.

Erblickte er etwa Tränen in ihren wunderschönen Augen? Oder entstand dieser Eindruck alleinig durch die Seinigen, welche nicht mehr zu fließen aufhören wollten? Aber wahrscheinlich lag es eher an dem peitschenden, sich mit aller Macht gegen ihn stemmenden Regen.

Ein mittellautes Donnergrollen schob die unnützen Überlegungen zur Seite.

So sachte, als bestünde Liza aus kostbarem Porzellan, legte er die Hände auf ihre Kinnbögen.

Weder zuckte sie zurück noch brachte sie selbst ein Wort über ihre süßen Lippen. Sie starrte ihn bloß weiter an – derart intensiv, er vermutete, sie würde bis in seine schmerzende Seele zu blicken vermögen. Derart intensiv, es radierte ihm Wortschatz wie Verstand aus.

Sekunden wurden zu Stunden.

Schmerz wurde zu Erlösung.

Verzweiflung wurde zu Hoffnung.

Das hektische Treiben um ihn herum rückte zusehends weiter in den Hintergrund – bis er es schließlich überhaupt nicht mehr wahrnahm.

Seine Finger glitten über ihre warme zarte Haut nach hinten ins weiche Haar.

Ein Blitz zuckte über den finstren Himmel. Donner dröhnte, Adrenalin wurde ihm in die Venen gepumpt –

Ehe sein Gehirn in der Lage war, etwas Ähnliches wie das eines Gedankens hervorzubringen, hatte sein Körper längst die Kontrolle übernommen und ihn dazu veranlasst, die Lippen auf Lizas zu legen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Wangen fühlten sich an wie glühende Kohlestücke, weitere schmerzhafte Adrenalinausstöße sowie nackte sich um ihn schlingende Panik brachten ihn zum Beben.

Liza wehrte sich nicht. Einzig ihre Finger vergruben sich in sein durchnässtes Hemd.

O Gott …

Ihre das hauchzarte Kleid durchdringende wunderbare Körperwärme brannte auf seiner kalten Haut. Solch ein betörendes Gefühl – mit nichts vergleichbar … und unwahrscheinlich hilfreich dabei, ihn wenigstens zum Teil zur Besinnung zu bringen.

Geschah es tatsächlich?

Konnte es wahrhaftig sein?

Ja … ja … er küsste sie.

Er küsste Liza!

Er küsste seine Traumfrau!

Grundgütiger!

Endlich … endlich war es so weit! Nach all den sich ewig lang anfühlenden Monaten des Leids und der Zweifel durfte er sie spüren.

Liza. Wunderschöne Liza …

Unaussprechlich behutsam – und mit ungleich heftigerem Herzklopfen – teilte er ihre Lippen mit seiner Zunge.

Ihr gesamter Leib verkrampfte sich – jedoch lediglich für den Moment eines Wimpernschlags. Alsbald dieser vorübergezogen war, gewährte sie ihm Einlass.

Und die Welt stand still.

Er spürte sie erzittern, wieder und wieder. Infolge dessen schlang er die Arme um ihren Oberkörper und presste sie gänzlich an sich.

Äußerst zaghaft berührte er ihre Zunge mit seiner, wodurch ihr zierlicher Leib sich abermals versteifte. Einen Rückzieher machte sie dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Sie drückte sich fester an ihn.

Hatte Tina etwa richtig gelegen? Empfand Liza so viel mehr für ihn?

Er verscheuchte den unwichtigen Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf seinen ersten scheuen Kuss in fünf Jahren.

Lizas süßer Geschmack berauschte ihn. Ihre hilflose Umarmung entfachte den brennenden Wunsch, sie zu schützen, sie nie mehr loszulassen – sie zu besitzen.

Solch weiche, zarte Lippen … warm, köstlich …

Prickelnde Gefühlsstürme brausten ihm durch den Leib, brachten seine Leisten zum Pulsieren und seine Seele zum Strahlen.

Sie gehörte zu ihm! Er fühlte es. Sie war ein Teil von ihm. Sie gehörten zusammen.

Heißkalte Schauer veranlassten ihn, seine Umarmung zu verstärken.

Seine bedächtig gleitende Zunge gelang es weder, Liza aus ihrer Inaktivität zu reißen noch ihr Zittern zu verringern. Dieses einerseits niedliche, andererseits erregende Verhalten untermauerte seine Vermutung ihrer Unberührtheit.

Was sonst hätte sie dergestalt eingeschüchtert, denn ihr erster Zungenkuss?

Solchermaßen plötzlich wie ein neuer Donner über den Äther grollte, wurde er sich eines weiteren unglaublichen Details bewusst: Kein anderer Mann vor ihm hatte Liza berührt! Keine anderen Lippen hatten ihre liebkost. Kein anderer Mann hatte Liza jemals angefasst!

Einzig und allein ihm erwies sie die Ehre … einzig und allein bei ihm ließ sie es geschehen. Einzig und allein bei ihm. Bei ihm!

Sein Herz schlug Salti.

Sie ließ es wahrhaftig zu … presste sich abermals fester an ihn!

Hatten das Gewitter, die entfesselten Glücksgefühle und Lizas Lippen bereits den Großteil seines Verstandes hinfortgefegt, tat ihr blumiges Parfum noch das Übrige, um ihn vollends zu betäuben und seine Glut nach ihr ins Unermessliche zu steigern.

Um seinen Kuss intensivieren zu können, vergrub er seine linke Hand in ihrem Nacken.

Er erforschte sie weiter – zögerlich, behutsam, langsam. Ab und an ließ er für einen kurzen Augenblick von ihr ab, aus dem einzigen Grund sie darauf beträchtlich intensiver zu küssen, zu verwöhnen, zu entdecken.

Seufzte sie?

Er war sich nicht sicher – zu laut prasselte der Regen, zu wild schlug sein Herz …

Grundgütiger!

Kein Kuss zuvor hatte sich je solchermaßen schön angefühlt. Keine Berührung zuvor hatte sich solchermaßen verbindend angefühlt. Niemand zuvor hatte ihm solcherlei Emotionen zu entlocken vermocht.

Mit einer jeden verstreichenden Sekunde fühlte er sich freier, erleichterter, glücklicher.

Glücklich.

Wann hatte er dieses Gefühl das letzte Mal empfunden?

Er wusste es nicht mehr. Und es interessierte ihn nicht mehr. Das Einzige, das er begehrte, war der Stillstand der Zeit, damit dieser glückselige Moment niemals mehr ein Ende fand.

Ein nicht zu beschreiben vermögender haarsträubender Donnerschlag entriss ihm kurzerhand diese kostbare Emotion und brachte ihn dazu, brutal zusammenzucken wie nach Mut zu beten.

Weshalb konnte dieses schreckliche Gewitter kein jähes Ende finden? Weshalb musste dies ausgerechnet heute passieren?

Verzweiflung umschlang ihn.

Wenn er Liza nun losließe, würde sie sogleich verschwinden? Würde sie sich von ihm abwenden?

Er wollte sie nicht loslassen … er wollte sie keine Sekunde mehr missen! Zu sehr dürstete ihn, ihre Seele zu kosten, ihre Liebe zu spüren, in ihr Herz zu sehen.

Allmächtiger Gott!

Er begehrte sie mit Haut und Haar …

Der an Heftigkeit zunehmende Wind und die zusehends lauter werdenden Entladungen des Himmels nötigten ihn letztendlich, zögerlich von Lizas zuckersüßen Lippen abzulassen.

»Jan.«

Ihre gepresst-flüsternde Stimme brachte seine Welt erneut ins Wanken.

Sein Name aus ihrem Mund – so zärtlich, scheu, verunsichert – als spräche sie ihn zum ersten Mal aus.

Ein unvorstellbarer Drang, sie wieder an sich zu drücken und weiter zu küssen, raubte ihm schier den Atem.

Schluckend blickte er in ihre mit Tränen gefüllten blauen Augen. So hell sie leuchteten, vollbrachten sie nicht, eine ihm eiskalte Schauer auslösende Verzweiflung zu verbergen.

Was war geschehen?

Lag es an seinem Kuss? Lag es an dem Gewitter? Lag es an seinem Buch?

Hatte er eben den größten Fehler seines Lebens begangen? Hätte er Liza nicht küssen dürfen?

Niederzwingende Verzweiflung vermischt mit Trauer und Panik übermannte ihn – trieb brennende Tränen aus seinem aufgebrachten Inneren hervor.

Hatte er sich mit dieser Tat etwa alles verdorben?

Bei Gott!

Wenn dies tatsächlich der Fall war, was sollte er dann tun?

In Your Arms

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