Читать книгу In Your Arms - Isabella Kniest - Страница 8

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Kapitel 22 – Keine Kraft mehr


»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll!«

Anna hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Die Haare trug sie heute perfektionistisch hochgesteckt. Mit ihren rehbraunen Augen, den einzelnen gewellten ihr ebenmäßiges Gesicht umrahmenden Strähnen, den roten Lippen und den farblich dazu passenden lackierten Fingernägeln wirkte sie wie eine Hollywood-Diva des letzten Jahrhunderts. Und genauso, wie diese mit ihrem Personal umzugehen pflegte, ließ sie mich heute wieder einmal spüren, wie unbedeutend und unfähig ich für das Team war.

»Der Betrag kommt in die rechte Spalte! Bist du echt so bescheuert?« Abgesehen von Annas wutentbrannten Stimme herrschte Totenstille im Büro. Entweder fühlten auch die anderen Kollegen sich eingeschüchtert, oder wollten diese bloß keine Beschimpfung versäumen, um meine Dummheit in der Mittagspause dann nochmals lang und breit durchkauen zu können.

Ich wusste es nicht.

Ich wusste gar nichts mehr.

Ich versuchte lediglich, meine Tränen zurückzuhalten.

»Ich verstehe nicht, wie du diesen Job überhaupt hast erhalten können!«, zeterte sie. »Es gibt so viele fähige Arbeitslose … aber gerade du bekommst eine Chance!«

Verkrampft hielt ich den Blick auf das Kassabuch gerichtet. »Ich habe den Betrag irrtümlich in die falsche Spalte eingetragen.«

Ich wusste, ich hatte einen Fehler begangen. Aber ebenso gut wusste ich, wohin der Betrag gehörte …

»Ja, sicher doch!« Ihre keifend ausgesprochene Entgegnung triefte vor Sarkasmus. »Du weißt ja so gut Bescheid.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher sich erbarmungsloser Zorn auf ihre Gesichtszüge ausbreitete. »Versuche erst gar nicht, dich hier mit bescheuerten Aussagen herauszuwinden! Der Fehler ist da. Ich habe ihn selbst gesehen!«

Ich wollte ihn doch ausbessern!

»Ich habe mich geirrt«, versuchte ich verzweifelt zu erklären. »Weil ich eine Zeile weiter oben einen Eingangbetrag –«

»Das interessiert mich einen Scheißdreck!«

Ich zuckte zusammen.

»Es reicht mir! Endgültig! Ich habe lange genug zugesehen. Ich habe mir deine erbärmlichen Ausreden lange genug angehört und dich wieder und wieder korrigiert. Die ganze Zeit habe ich dir geholfen!«

Wie wahnsinnig begann mein Herz zu rasen, infolge dessen ich unwillkürlich nach Luft schnappte.

»Und du?!«, fuhr sie fauchend fort – es jagte mir heiß und kalt den Rücken hinunter. »Du hast nichts anderes zu tun, als deine Dummheit mit billigen Ausreden zu verschleiern!« Eine weitere Pause folgte – eine Pause, in der ich einzig das Rauschen meiner Ohren vernahm. »Ich habe mich die ganze Zeit hinter dich gestellt! Wenn ich unkollegial gewesen wäre, dann hätte ich dem Chef deine katastrophale Arbeit schon vor einem halben Jahr unter die Nase gerieben!«

Verzweiflung, Furcht und Wut schnürten mir die Kehle zu.

Ja, ich hatte Fehler gemacht … ein paar dumme Fehler – aber konnten diese nicht meine gesamte Arbeit schlechtmachen!

Zögerlich suchte ich ihre Augen.

Sie funkelten wie die eines Dämons.

»Was siehst du mich so an?!« Wie immer machte sie keinen Hehl daraus, ihre enorme Abneigung gegen mich durch abschätzige Blicke zum Ausdruck zu bringen. »Willst du mir neue Ausreden vorkauen?! Glaubst du echt, irgendjemand hier –« Sie vollführte eine ausladende Geste mit den Armen. »Kauft dir das noch ab?!«

Ausreden … Stets sprach sie von Ausreden … Wann hatte ich jemals eine Ausrede benutzt? Und warum schrie sie mich andauernd an? Ich hatte nie mit ihr geschrien! Nie! Kein einziges Mal!

Meine Wut wuchs an – sie kribbelte in meinem Bauch, beschleunigte meine Atmung, verspannte meine Muskeln.

Und dann passierte es.

»Ich wollte diesen Posten nie haben!«, kam es schneller über meine Lippen, als ich nachzudenken in der Lage war. »Ursprünglich war ich für die Buchhaltung nicht vorgesehen gewesen!«

Jetzt war es raus.

Das erste Mal hatte ich meine Meinung offen ausgesprochen.

Doch gleichermaßen schnell, wie Erleichterung sich in mir erhob, wurde diese von Panik verdrängt – ausgelöst durch Annas Make-up beladenes Gesicht, welches sich zu einer wutentbrannten hässlichen Fratze verzog.

»Ach ja?!« Ihre Stimme überschlug sich regelrecht – und mir krampfte es den Magen zusammen.

Langsam beugte sie sich zu mir – wie ein Raubtier, das kurz davor stand, seine Beute zu erlegen. »Du machst einen fürchterlichen Job und dann besitzt du noch die Frechheit, so undankbar zu sein?! In einer anderen Firma hätte man dich längst rausgeschmissen!«

Gänsehaut jagte mir über den Körper, meine Ohren schmerzten und mein Herz fühlte sich an, jede Sekunde zerreißen zu wollen.

»Saskia hat –«

Mit einer aggressiven Handgeste brachte sie mich zum Schweigen. »Willst du jetzt noch Saskia unterstellen, dass sie dir deinen Job weggenommen hat?« Sie drehte sich zu unseren Kollegen um. »Hört ihr das?«

Niemand von den Angestellten gab einen Laut von sich, wodurch Anna sich offenbar darin bestärkt fühlte, mit ihrer Schimpftirade fortzufahren.

»Lisa meint, Saskia wäre schuld, dass sie nicht zurechtkommt! Kann man sich das vorstellen?!« Damit wandte sie sich wieder mir zu. »Das ist so typisch! Weißt du das überhaupt?« Ein verächtliches Schnauben folgte. »Nein … natürlich nicht! Du bist ja viel zu blöd!« Das letzte Wort betonte sie eine beträchtliche Spur lauter. »Aber weil ich so nett bin, erkläre ich es dir trotzdem: Nur Versager suchen die Schuld bei anderen! Und du bist der größte Versager überhaupt!«

In meinen Wangen begann es ähnlich zu kribbeln wie in meinem Magen.

»Ich wollte den Fehler ausbessern!«

»Du wolltest gar nichts!«

»Aber –«

»Widersprich mir nicht!« Ihre rasiermesserscharfe Stimmlage zerschnitt mein Aufbegehren in tausend kleine Stücke.

Doch unerheblich wie groß meine Furcht anmutete – ich wollte nicht mehr klein beigeben. Ich wollte mich nicht mehr unterdrücken lassen! Ich wollte meinen Standpunkt erklären!

Eben war ich dabei weitere Argumente aufzubringen, da flackerte etwas Monströses über Annas Gesichtszüge – eine Gefühlsregung, welche ich in der Form noch nie zuvor bei irgendeinem Menschen erlebt hatte. Und obgleich diese Emotion beinahe nicht erkennbar war, spürte ich sie mit einer brachialen mir kurzzeitig den Atem raubenden Intensität. Sie entfesselte mir grauenhafte Adrenalinschübe, welche wie spitze Nadeln durch meine Adern brausten. Dies wiederum brachte meine Muskeln dazu, sich schmerzlich zusammenzuziehen.

Es klang verrückt, aber in dem Moment vermittelte Anna den Eindruck, unmittelbar davor zu stehen, die Beherrschung zu verlieren und sich auf mich stürzen zu wollen.

»Verdammt noch einmal!« Sie hatte diesen Fluch noch nicht gänzlich ausgesprochen, riss sie mir das Kassabuch bereits unter den Händen weg.

Es geschah derart schnell, für eine unbestimmte Zeit vermochte ich einzig stocksteif dazusitzen und meine Kollegin stumm anzustarren.

Ihre verengten Augen musterten mich voller Abscheu, Ekel und Hass. »Ich melde das jetzt dem Chef!«

Der zischende Klang … er drang in meine Seele, zerquetschte sie, zerschnitt sie, zerriss sie …

»Dann kannst du deine bescheuerten Meldungen ihm vorjammern!« Das dicke Kassabuch in ihrer rechten Hand begann sich zu verbiegen – dergestalt fest hielt sie es. »Ich tue mir das nicht mehr an!« Diese Äußerung knurrend ausgespuckt drehte sie sich um und stöckelte aus dem Büro.

Alsbald die Tür mit einem Knall in ihre Angeln fiel, zuckte ich zusammen.

Adrenalin vermengte sich mit Panik und Scham, schlugen mir in den Magen, knetete meine Innereien einmal kräftig durch.

Übelkeit und eine Eiseskälte brachen über mich herein.

Zitternd fasste ich nach der Maus und wandte mich dem Bildschirm zu.

Nun war es so weit …

Ich würde meine Arbeit verlieren, etwas später dann die Wohnung – und letztlich müsste ich zu meinen Eltern ziehen …

Und das aus dem einzigen Grund, weil ich mich einmal zur Wehr gesetzt hatte!

Für den Moment eines Wimpernschlags schaute ich zu meinen Kollegen.

Ihre mich musternden Augen sprachen genug: Anna hatte recht. Ich war das schwächste Glied in dieser Kette … und eine Kette war bekanntermaßen nur so stark wie das schwächste Glied.

Ich war eine Bürde.

Ich war unfähig.

Wozu war ich überhaupt auf der Welt?

Das Zittern in den Händen zu unterdrücken versuchend zwang ich mich, die Mails durchzuchecken. Gleichgültig meiner Bemühung gelang es mir nicht, eine einzige Nachricht sinngemäß zu erfassen geschweige denn sie abzuarbeiten.

Diese meine Eingeweide zusammenziehende Furcht lähmte mich.

Ich durfte meine Arbeit nicht verlieren!

Was würden meine Eltern von mir denken? Was würde das Arbeitsmarktservice von mir halten? Immerhin hatte ich diese Stelle allein durch deren Hilfe bekommen!

Ein eiskalter Stich durchfuhr mich – ausgelöst durch eine neue Gewissheit.

Wenn der Chef mich fristlos entließe, würde mein Arbeitslosengeld für den ersten Monat gesperrt sein!

O mein Gott!

Damit wäre alles aus. Einfach alles.

Um meiner hochzüngelnden Verzweiflung wenigstens teilweise Einhalt zu gebieten, trank ich einen Schluck Wasser.

Ich musste mich zusammenreißen. Brach ich in Tränen aus, hätte ich mich bestenfalls erneut der Lächerlichkeit preisgegeben.

Geholfen jedoch hätte es mir nicht.

Lautlos atmete ich tief durch.

Es dauerte einige Minuten, bis mein Körper sich etwas beruhigte und ich meine Arbeit langsam wieder aufnehmen konnte.

Unvermittelt wurde die Tür aufgerissen – und meine ohnedies schreckliche Lage wurde durch eine weitaus schrecklichere ersetzt.

Ein schadenfrohes Grinsen im Gesicht tragend trat Anna ins Büro. Mit einem jeden ihrer selbstsicheren auf mich zugehenden Schritte beschleunigten sich mein Puls wie meine Atmung. Dazu gesellte sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund und ein stechender mir den Verstand blockierender Kopfschmerz.

»Du sollst zum Chef.« Sie klang gefasst, ja regelrecht glücklich. »Er hat mit dir ein ernstes Wörtchen zu reden.«

Nicht vorhanden Speichel schluckend erhob ich mich.

Meine Knie bebten, mein Kopf fühlte sich seltsam kalt an.

»Viel Spaß.«

Ich konnte ihre Stimmlage nicht mehr recht beurteilen – zu sehr musste ich mich darauf konzentrieren, das Gleichgewicht zu halten, um nicht zu Boden zu stürzen.

Die anprangernden Blicke der Kollegen im Rücken spürend verließ ich das Zimmer.

Was dachten sie von mir?

Aber weitaus wichtiger: Was würde nun folgen?

Verlor ich meinen Job? Verlor ich meine Zukunft? War ich denn für wirklich gar nichts zu gebrauchen?

Während ich unbeholfen durch den langen Gang stakste, glitt mein Blick über die zahllosen undefinierbaren an beiden Seiten hängenden Kunstdrucke. Ein Urteil über sie fällen gelang mir allerdings nicht, befand mein Verstand sich nach wie vor in einer Art Schockzustand. Selbst mein Sehsinn mutete leicht durcheinander an, den dunklen flackernden Flecken nach zu urteilen, welche da vor meinem Blickfeld umher tanzten.

Mein Leib stetig heftiger erbebend öffnete ich die Glastür, welche Vorraum und Chefbüro miteinander verband.

Erst zweimal hatte ich Herrn Urbans Büro betreten: das erste Mal aufgrund des Vorstellungsgespräches und das zweite Mal aufgrund des Einstellungsgespräches.

Der Raum hatte mir nie sonderlich gut gefallen. Die grauen Marmorfliesen, der kolossale asymmetrische Bürotisch aus Glas und die überwiegend in Schwarz und Chrom gehaltenen Einrichtungsgegenstände erweckten den Eindruck von Gefühllosigkeit und berechnender Kälte. Da halfen selbst die hohen Fenster nichts, durch welche die Örtlichkeit von früh bis spät von sanftem Licht durchflutet wurde.

Mit derselben nackenhaaraufstellenden Ausstrahlung wie das Mobiliar saß Herr Urban auf seinem gewaltigen Lederchefsessel, dessen beißender Geruch mir in der Nase brannte.

Ein nachtschwarzes Hemd, darüber ein anthrazitfarbenes Jackett und eine silberne Krawatte verliehen Herrn Urban eine autoritäre wie professionell-elegante Ausstrahlung. Selbstsicher hielt er einen silber-schwarzen Kugelschreiber in der linken Hand, während er aufmerksam einen Brief las.

»Sie wollten mich sprechen«, sagte ich nach einigem Zögern und trat ein. Ich versuchte, gefestigt zu klingen. Zu meinem Leidwesen funktionierte dies nicht einmal annähernd, wie von mir gewollt.

Er hob den Blick an.

Das dunkelbraune zu einem lockeren Seitenscheitel gekämmte Haar glänzte im Licht der kleinen Deckenspots.

»Frau Findinger hat sich bei mir beschwert.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Demgemäß sagte ich einmal gar nichts.

Mit triefender Selbstgefälligkeit lehnte er sich zurück. Das Knarzen des Ledersessels bezeugte dabei gleichermaßen von Reichtum wie seine chromfarbene große Uhr, welche selbstgefällig unter seinem Hemdärmel hervor blitzte.

»Hätten Sie die Güte, mir zu erklären, was zwischen Ihnen und Frau Findinger vorgefallen ist?« In seiner Äußerung schwang derselbe gereizte Ton, mit welchem ich stets von meinen Mitmenschen bestraft wurde, wenn ich nicht schnell genug reagierte.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich verunsichert zurück. »Den ich allerdings selbst ausgebessert habe.«

Er wölbte eine Braue. »Und sonst?«

Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.

Ein theatralisches Seufzen drang aus seiner Kehle. »Entweder hat Frau Findinger heillos übertrieben.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher er mich ungleich abschätziger musterte. »Oder aber Sie, Frau Hirter, bagatellisieren.«

Seine Stimmlage deutete unverkennbar Letzteres an.

»Ich verstehe nicht –«

»Sie waren es doch, die meinte, Frau Kaufmann hätte Ihnen Ihren Posten weggenommen. Oder liege ich da falsch?«

Mir wurde es eine Spur kälter.

»Das stimmt«, gab ich zu. Das Zittern in meiner Stimme versuchte ich erst gar nicht mehr zu unterdrücken. Nun ging es einzig darum, nicht in Tränen auszubrechen.

»Frau Kaufmann hat sich in der Datenverarbeitung und Rechnungslegung äußerst bewährt. Sie ist ein unschätzbarer Teil dieses Teams.« Seine Augen nahmen einen funkelnden Ausdruck an. »Sie, meine Gute, haben sich jedoch kein einziges Mal bewiesen.« Wort zu Wort wurde seine Aussprache härter, beißender, kälter. »Und solange Sie sich nicht beweisen, verbiete ich mir derlei abschätzige Töne von einer drittklassigen Mitarbeiterin!«

Mein Herz zerriss. Meine Seele starb. Mein letzter Funken Lebenswille wurde vernichtet.

»Einen zweiten Fehltritt ihrerseits«, fuhr Herr Urban kühl fort. »Dulde ich nicht. Entweder passen Sie sich meinem Team an und bringen endlich Leistung oder ich muss Sie entlassen.« Es folgte eine weitere Pause, in welcher mich ein leichter Schwindel erfasste. »Das liegt ganz bei Ihnen.«

Gänsehaut jagte mir über den Rücken bis in den Hintern.

»Ja.«

Hatte ich das gesagt?

Hatte ich tatsächlich die Kraft aufgebracht, etwas zu erwidern?

Mein Verstand leer gefegt drehte ich mich um und ging los.

Ehe ich die Tür des Büros hinter mir zumachte, hörte ich Herrn Urban nachrufen: »Übermäßiges Selbstvertrauen macht noch lange keinen guten Mitarbeiter aus.«

Es war, als zöge jemand mir den Boden unter den Füßen weg.

Wo hatte ich Selbstvertrauen?

Einen mittlerweile schmerzhaft angewachsenen Kloß im Hals hinunterschlucken versuchend, eilte ich ins WC. Keine Sekunde, nachdem ich mich in die hinterste Toilette eingesperrt hatte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf.

Ich konnte nicht mehr.

Ich konnte einfach nicht mehr.

Wozu war ich auf der Welt? Wozu tat ich mir dies alles an? Ich war ohnehin für nichts und niemanden zu gebrauchen! Ich war eine einzige Bürde!

Von Weinkrämpfen durchgeschüttelt lehnte ich mich an die kalte Fliesenwand. Diese beißenden Seelenschmerzen umschlangen mich, ließen mich hoffnungslos nach Luft japsen. Eine unsichtbare Hand schien gegen meinen Brustkorb zu drücken – raubte mir Kraft und Willen.

Ich wollte nicht mehr.

Ich wollte einfach nicht mehr.

Konnte ich nicht tot umfallen?

Es wäre viel leichter … so viel leichter. So einfach. Einfach umfallen. Wäre das möglich? Konnte das bitte möglich sein?

Bitte … bringt jemand mich doch einfach um …

Irgendwann versiegten meine Tränen.

In meiner Seele eine schwere Leere innewohnend trat ich zum Waschbecken, drehte das Wasser auf und wusch mir das Gesicht. Während ich mich mit Papierhandtüchern abtrocknete, breitete eine eigenartige kalte Leichtigkeit sich in mir aus. Sie startete in meinem Herzen und fand in meinem Kopf ein jähes Ende.

Ich blickte in den Spiegel.

Das erste Mal war ich dankbar für meine Schminkfaulheit. Dadurch brauchte ich mich wenigstens nicht um verschmierte Wimperntusche zu sorgen.

Andererseits hätte in dieser Situation ein wenig Make-up nicht geschadet …

Ich sah unwahrscheinlich blass aus. Selbst meinen Lippen waren sämtliche Farben abhandengekommen.

Ich verscheuchte den Gedanken.

Was tat es schon zur Sache, wie ich aussah? Schließlich interessierte sich sowieso niemand für mich.

Nachdem ich dreimal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte ich mich auf den Weg zurück ins Büro. Dabei erhaschte ich einen Blick auf die große Wanduhr im Foyer.

14:15 Uhr.

In fünfzehn Minuten endete meine Schicht.

Gut.

Ich trat in den Dienstraum, versuchte, die mich anstarrenden Kollegen sowie Annas und Saskias Grinsen zu ignorieren, und setzte mich an meinen Tisch.

Wann war Saskia zurückgekommen?

Üblichweise arbeitete sie freitags auf der anderen Gebäudeseite.

»Und? Wird Saskia jetzt rausgeworfen«, zog Annas sarkastisch klingende Frage mich aus meinen Überlegungen. »Damit das dumme Prinzesschen die Wunschstelle erhält?«

Anstatt zu reagieren, sah ich aus dem Fenster.

Der Himmel zeigte dunkelgraue Wolken … Sturm und Blitze.

Das hatte mir gefehlt!

Da mein Wagen bezüglich eines Loches im Endtopf in der Werkstätte stand, darüber hinaus kein Leihwagen zur Verfügung gewesen war, war ich heute zu Fuß unterwegs.

Natürlich konnte ich mir ein Taxi rufen – unglücklicherweise riss die Reparatur ein gewaltiges Loch in meine Rücklagen, wodurch mir gar nichts anderes übrig blieb, denn auf sämtliche unnötigen Bequemlichkeiten zu verzichten und eisern zu sparen.

»Du machst das genau richtig, Kitty«, vernahm ich Saskias Kratzstimme.

Irgendwie gelange es mir, mich davon abzuhalten, mich zu ihr zu drehen.

»Den Mund halten, meine ich.«

»Ein Wunder, dass sie wenigstens das hinkriegt«, flötete Anna. »Aber Dumme brauchen bekanntlich immer etwas länger, bis sie verstehen.«

»Da hilft manchmal wohl nur die Holzhackermethode!«

Darauf folgte ein lautes, mir Tränen in die Augen treibendes Lachen.

Eigenartigerweise fühlte ich dennoch nahezu keinen Schmerz mehr.

Hatte ich es endlich geschafft und meine Empfindsamkeit überwunden? Wurde ich härter? Hatten Herrn Urbans Äußerungen mir Heilung gebracht?

Als es schließlich 14:30 Uhr geworden war, fasste ich nach meiner Tasche und verließ das Büro, ohne irgendjemandem anzusehen oder mich zu verabschieden. Vor der Eingangstür zum Foyer griff ich nach meinem geliebten Regenschirm, welchen ich heute Morgen – Gott sei Dank – vorsichtshalber mitgenommen hatte.

Ich trat hinaus, spannte ihn auf und machte mich sodann auf den Weg.

Der Sturm pfiff erbarmungslos. Regentropfen prasselten dermaßen heftig auf den durchsichtigen Schirm, es mutete an, sie wollten versuchen, das dünne Plastik zu zerreißen.

Soviel mir in dem sintflutartigen Regenschauer noch zu erkennen gelang, brachten Passanten sich unter Vorsprüngen, Dächern oder in Geschäften in Sicherheit.

Ich blickte gen Himmel.

Der Regen würde sicherlich länger andauern. Mindestens das Wochenende lang. Dies bestätigten die Form der Wolken und die Richtung, aus welcher der Wind wehte.

Nun … mir war es recht.

Ob es regnete oder die Sonne schien, ich konnte nicht viel unternehmen.

Was sollte ich alleine auch großartig machen? Was sollte ich überhaupt noch machen? Schließlich war ich ein Versager!

Ein Versager brauchte keine Freizeit. Ein Versager hatte keine schönen Momente verdient.

Ein Versager blieb alleine.

Dieses meine Lungen zusammendrückende Gefühl tauchte jählings wieder auf, lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung – in die Vergangenheit. In eine Zeit, welche gefüllt war mit Hoffnung und den Glauben an eine schöne Zukunft.

Ich hatte längst alles getan, was ein Single in seiner Freizeit unternehmen konnte: Schiffsausflüge, Wanderungen, auswärts Essen gehen, Kino … Stets mit demselben Ergebnis: Ich lernte niemanden kennen.

Kein Wunder!

Jetzt wusste ich, weshalb: Ich war ein Idiot. Ich war ein unfähiger Teil der Gesellschaft – eine Bürde. Man benötigte mich nicht.

Ich war ein Freak. Jemand, der nichts zuwege brachte. Ein Außenseiter.

Ungeküsst.

Unverstanden.

Ungeliebt.

Bestimmt erkannten fremde Männer dies bereits, wenn sie mir ins Gesicht blickten. Darum hielten sie stetigen Abstand. Darum sprachen sie nicht mit mir! Da konnte ich noch so hübsche Kleider tragen, mir noch so teure Unterwäsche kaufen … nichts davon würde jemals genügen.

Jetzt wusste ich es.

Endlich.

Es fühlte sich geradezu erleichternd an.

Du musst dich nur hübsch herrichten, dann wirst du schon jemanden kennenlernen.

Ein bisschen mehr Schminke und ein kurzes Kleid – nur das zieht bei Männern!

Du musst freundlich sein! Lächle und tue das, was andere sagen, sonst mögen sie dich nicht.

Du musst schon ausstrahlen, dass du eine Beziehung eingehen willst! Wenn du so verklemmt wirkst, wird das nie was!

Mit Kopfschütteln versuchte ich die Erinnerungen zu verscheuchen.

Es war zu Ende.

Ich brauchte nicht mehr darüber nachzugrübeln, was ich falsch gemacht hatte.

Ich war ein Idiot.

Darum hatte es mir nichts gebracht, meinen Kleiderschrank auszumisten. Darum hatte es nichts gebracht, freundlich zu sein. Deshalb hatte – unerheblich wie sehr ich es wollte – niemals irgendetwas im Entferntesten funktioniert.

Ich atmete die von Feuchtigkeit und den Asphaltgeruch erfüllte warme Luft ein.

Dieses Wochenende würde ich auf dieselbe Weise verbringen, wie ich ein jedes verbrachte: Ich würde Fern sehen … und das Buch weiterlesen.

Jans Liebesroman.

Mein Herz zog sich zusammen.

Jan …

Für einen ganz besonderen Menschen.

Unzählige Male hatte ich darüber nachgedacht, ihn anzurufen. Unzählige Male wollte ich ihm schreiben – am liebsten sofort zu ihm fahren …

Letztlich getraute ich mich nicht. Zu groß waren meine Bedenken, einem stirnrunzelnden Jan begegnen zu müssen, der nicht verstand, weshalb ich ihm einen Besuch abstattete … erfahren zu müssen, dass er rein gar nichts mit dem Buch zu schaffen hatte …

Denn seien wir uns ehrlich: Lediglich, weil Jan denselben Vornamen trug wie der Autor des Buchs, bedeutete dies lange nicht, dass er es auch tatsächlich war!

Zu oft hatte ich mich getäuscht. Zu oft hatte ich angenommen, von jemandem gemocht zu werden … mir zu oft eingebildet, akzeptiert zu werden …

Viel zu oft.

Ab heute war endgültig Schluss damit!

Keine Träume mehr, keine Einbildungen mehr, keine Wünsche mehr!

Ich hatte es verstanden. Ja, ich hatte verstanden. Man musste mich nicht weiterquälen.

Es war gut.

Für einen ganz besonderen Menschen …

Und selbst wenn Jan den Roman geschrieben hatte, stellte seine Nachricht noch lange keinen Liebes- oder Freundschaftsbeweis dar …

Der Hauptgrund jedoch, welcher mich bislang von einer Kontaktaufnahme abgehalten hatte, war die Tatsache das Buch noch nicht fertig gelesen zu haben.

Wie hätte es ausgesehen, wenn ich zu ihm getreten wäre und gesagt hätte: »Ich bin hier. Das Buch habe ich aber noch nicht durch.«

Nein.

Erst das Buch … dann konnte ich weiterschauen, ob oder wie ich mich mit ihm in Verbindung setzte.

Die schillernden Pflastersteine unter meinen Füßen brachten meine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.

Normalerweise mochte ich das Geräusch der klackenden Schuhabsätze, wenn ich über die Jahrhunderte alten Marmorblöcke meines Lieblingsplatzes marschierte: eine rechteckig angelegte von dutzenden Geschäften umsäumte Lokalität inmitten der Klagenfurter Innenstadt.

Heute fühlte ich nichts.

Vielleicht beim nächsten Mal …

Ich nahm den Ort etwas genauer in Augenschein.

Obgleich es nach wie vor wie wahnsinnig schüttete, waren mittlerweile bedeutend mehr Menschen unterwegs, welche mit Schirmen oder Regenjacken gegen den Wind ankämpften und ihre Einkäufe erledigten.

Arm in Arm und glücklich strahlende durch die allmählich zu Seen angewachsenen Pfützen watende Pensionisten, sich küssende und aneinanderschmiegende junge Pärchen …

Eine auftretende Einsamkeit trieb mir Tränen in die Augen.

Weshalb … Weshalb konnte in meiner Wohnung kein mich liebender Partner auf mich warten? Und weshalb zog meine Seele sich plötzlich erneut zusammen? Eben erst hatte ich mich viel leichter gefühlt …

Ein jacher, schmerzhafter meine Beine zum Stehenbleiben nötigender Adrenalinausstoß verdrängte sämtliches Grübeln.

Völlig verloren stand er da.

Keine zehn Meter von mir entfernt.

Ein junger Mann – gnadenlos peitschte der Regen gegen seine zierliche Gestalt, Wind riss an seinen durchnässten Kleidern, goldene Haare hingen ihm schwer in das verzweifelt aussehende Gesicht.

Schluckend verstärkte ich den Griff, mit welchem ich den Schirm festhielt.

Konnte das …

War das etwa Jan?

Er setzte sich in Bewegung – geradewegs ging er auf mich zu.

Mit einem jeden näherkommenden Schritt schlug mein Herz ein wenig schneller …

Und plötzlich stand er vor mir.

Hellgrüne Augen … schmale Lippen … eine feminine Nase … zierliche Gesichtszüge

Himmel!

Er war es.

Jan.

Wunderschöner Jan.

Er stand wahrlich hier vor mir – als hätte meine Sehnsucht ihn hervorgebracht.

Aber weshalb? Weshalb war er hier? Was –

Mein Blick huschte über seinen Körper.

Mein Gott!

Sein weißes Hemd …

Es war nicht mehr weiß … die kalte Nässe hatte es durchsichtig gemacht, gewährte mir eine scheue Sicht auf seinen schlanken festen Oberkörper.

Dieser sinnliche Anblick schickte mir nicht bloß eine glühende Hitze in die Wangen, sondern er entfesselte ebenso einen weiteren heftigen Schlag Adrenalin, welcher in meiner Magengegend ein abruptes Ende fand.

Ohne jegliche Vorwarnung umfasste Jan mein Gesicht.

Seine kalten Hände prickelten auf meiner Haut. Mein Leib verkrampfte sich. Mein Herz begann beträchtlich wilder zu hämmern. Flirrende Gefühle drehten mir den Verstand vollständig ab.

Lediglich unter Aufbringung meiner gesamten Willensstärke brachte ich es zustande, eine Frage zu formen: Was wollte er tun?

Seine mit Tränen gefüllten leuchtenden mich intensiv musternden Augen unterbanden jedoch selbst dieses letzte Aufbegehren meines Geistes, womit ich ihn schlussendlich alleinig anstarren und in weiterer Folge abwarten konnte.

Erstaunt, benebelt, verwirrt beobachtete ich, wie sein Gesicht sich näherte, spürte, wie seine zärtlichen Hände mir ins offene Haar glitten …

Und schließlich passierte es.

Unvermittelt. Unverhofft. Unerwartet.

Die Zeit stand still, als sein Mund sich unvorstellbar behutsam auf meinen legte.

Das wunderbare Gefühl seiner warmen Lippen gar nicht recht erfasst, rauschten mir bereits Abertausende unmöglich in Worte zu kleidende, meine Knie unkontrollierbar zum Beben bringende Emotionen durch die Adern.

Krampfhaft versuchte ich, mich auf den Beinen zu halten, all die Eindrücke zu verarbeiten.

Die Wärme seines Mundes … sein Atem auf meiner Haut … seine sich vergrabenden Finger in meinen Haaren … diese Empfindungen waren allesamt so fremd und neu, andererseits so vertraut und richtig – als wäre es nie anders gewesen, als hätten wir uns bereits zig Male zuvor geküsst.

Geküsst.

Geküsst.

Jan küsste mich …

Ich erlebte eben meinen ersten Kuss! Jan gab mir meinen ersten Kuss!

Wie von selbst schlossen sich meine Lider. Der Regenschirm entglitt meiner Hand, blieb irgendwo im Regen liegen.

Erzitternd legte ich die Hände auf Jans heiße Brust, spürte sein wild pochendes Herz, welches mir ein brennendes Prickeln freisetzte und mein Gehirn eine weitere Frage zu formen erlaubte: Was musste ich machen?

Ich wusste nicht, wie man küsste. Ich wusste überhaupt nichts …

Doch je länger er mich mit seinen weichen Lippen liebkoste, desto leichter wurde es mir. Gleichermaßen wie meine Unsicherheit verschwand, wurden all diese negativen sich hartnäckig festgesetzten Gemütsbewegungen aus meiner Seele gewaschen – Furcht, Trauer, Ängste, Einsamkeit …

Vom Regen weggespült.

Von Jan hinfortgeküsst.

Stattdessen breitete sich Liebe aus – reine, pure, bedingungslose Liebe. Sie überschwemmte mich, kroch in eine jede Faser meines Körpers, erfüllte mich, beschützte mich, öffnete mich.

Ich spürte Jans Zunge.

Mein Herz wollte zerspringen. Gleichzeitig übermannte mich eine Emotion, welche es mir weder zu benennen noch zu verstehen gelang.

Sie war warm … zärtlich … umschlingend … verschmelzend. Sie machte mich ganz, füllte all die leeren Stellen in meiner Seele, tränkte mein Herz mit süßer Leichtigkeit.

Gierig presste ich mich an seinen Körper.

Ich wollte mehr … noch viel mehr. Ich wollte ihn kosten, ich wollte ihn spüren … Ich wollte ihn … Ich wollte ihn … Ich wollte nur noch ihn.

Bedachtsam, so unaussprechlich bedachtsam tastete Jan sich vor. Seine Zunge ließ mich schweben. Sein Geschmack ließ mich erschauern.

Immer wieder.

Ich war wie in Trance.

Sein süßlich herbes Aftershave, seine weichen Lippen, seine kitzelnden Haare in meinem Gesicht, sein zusehends heißer werdender Körper … dieser Kuss war unvergleichlich … Jan war unvergleichlich …

Seine Berührungen intensivierten sich, entfesselten mir heißkalte Wellen der Begierde, machten mich schwindelig. Es war eine berauschende mich nahezu willenlos machende Empfindung, von welcher ich niemals vermutet hatte, sie jemals empfinden zu dürfen.

Fühlte ein jeder Mensch auf eine solche Weise, wenn er geküsst wurde?

Fühlte Jan auf diese Weise?

Eine nächste Gewissheit brach über mich herein wie der strahlende Morgen nach einer viel zu langen Nacht. Eine Gewissheit, welche mich vollends meiner Selbstkontrolle beraubte.

Jan wollte mich. Er hatte Interesse! Schließlich würde er mich sonst niemals küssen!

Jan wollte mich.

Er wollte mich.

Himmel! Er wollte mich!

Seine sich überraschend entfernenden Lippen erweckten eine seelenzerreißende mich den Tränen nahebringende Sehnsucht.

Nein … er durfte nicht aufhören! Er durfte mich nicht loslassen!

Gott, ich wollte weiter festgehalten werden – in diesem Sturm aus Gefühlen, kalten Regentropfen und schier endloser Hoffnungslosigkeit.

Atemlos flüsterte ich seinen Namen.

»Liza.«

Seine von Seelenschmerzen durchtränkte Stimmlage öffnete mir die müden Lider.

Ich erschrak.

Tränen quollen ihm aus den Augen.

Reine Verzweiflung umfing mein Herz.

Ein zweites Mal schlang er die Arme um mich – solch eine kostbare Geste, die ich unbedingt erwiderte.

»Liza.« Immer und immer wieder schluchzte er meinen Namen – sehnsüchtig, hoffnungsvoll, hilflos …

Seine wilden Emotionen drangen in mich ein, riefen meine eigene zu Boden bringende Trauer wach, vermischten sich mit dieser, zerbarsten diese durch Herrn Urbans Äußerung errichtete Mauer der Gleichgültigkeit. Wie Faustschläge malträtierten sie mein Innerstes, wüteten durch meinen Geist.

Heiße aus Verzweiflung und Schmerz geborene Tränen suchten sich ihren Weg über meine glühenden Wangen.

Es musste aufhören! Dieser Schmerz musste endlich aufhören!

Ich ertrug ihn nicht mehr …

Und plötzlich nahm die Last wieder ab – mit einer jeden vergossenen Zähre. Ein jeder Atemzug wurde leichter, ein jeder Herzschlag befreiter, die tragende Last geringer.

Bebend hielten wir uns aneinander fest – als wollte der Regen uns voneinander wegreißen, als würden wir jeden Moment voneinander getrennt …

Tiefes Donnergrollen hallte über den Platz.

Jan drückte sich fester an mich.

»Ich habe dich unvorstellbar vermisst.« Er klang gebrochen, verloren, verängstigt. »Bitte sag nicht, du willst nichts mit mir zu tun haben.«

Mir wurde es übel.

Weshalb sollte ich dies sagen? Weshalb sollte ich nichts mit ihm zu tun haben wollen?

Hatte er etwa vermutet …

»Das … das würde ich nie tun«, gab ich leise zurück. »Ich habe … ich habe selbst die gesamte Zeit über angenommen, du würdest nichts mit mir zu tun haben wollen.«

Langsam ließ er von mir ab, auf seinen Zügen lag purer Schock. »Aber das Buch …«

Ich erstarrte.

Ja, ich hatte es mir inniglich gewünscht. In manch einem schwachen Moment hatte ich mir ausgemalt, wie Jan mir die Widmung in sein Buch schrieb …

All meiner verdrängten Hoffnung zum Trotz fühlte die Erkenntnis sich wie ein Hieb mit einem Rohrstock an.

Jan war es gewesen … er hatte sie tatsächlich geschrieben … diese zärtliche Liebesgeschichte …

Mein Gott …

Nun gab es keine Zweifel mehr!

»Ich habe es angefangen, zu lesen«, antwortete ich mit erzwungener Ruhe und unterdrückter Atemlosigkeit.

Meine Äußerung ließ ihn erleichtert durchatmen – und mir bescherte seine Reaktion einen nächsten Adrenalinstoß.

Hatte er etwa Sorge, ich würde seine Geschichte kritisieren? Zweifelte er an seiner Arbeit?

Nein … daran konnte es nicht liegen. Schließlich war Jan ein Poet … die lieblichen Beschreibungen, die Ausschmückung der Sätze … wie gerne hätte ich meine Emotionen und Gedanken in solch delikate Worte gekleidet, wie ihm dies gelang!

»Hast du früher als Schriftsteller gearbeitet?«

Ein zögerliches Nicken seinerseits folgte. »Wie weit bist du?«

»Fast am Ende … Noch zwanzig Seiten.«

Seine Wangen nahmen dieses niedliche Pink an. »Willst du das Buch noch zu Ende lesen? Oder hat es dir nicht gefallen?«

Gütiger Gott!

Dann war ich mit meiner Vermutung doch richtig gelegen?

»Natürlich will ich es weiterlesen.«

Erst recht nach diesem Kuss …

Ohne einen Gedanken an mögliche negative Folgen zu verschwenden, kuschelte ich mich an seinen Leib.

Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich vollkommen leicht und verstanden. Das erste Mal hegte ich keine Zweifel, etwas spontan zu tun.

Das erste Mal.

»Ich wollte heute weitermachen.«

»Wie schön.« Seine gehauchte Erwiderung wie seine zärtlichen ausgesandten Emotionen wischten sämtliche Gedanken beiseite, um eine Welle reiner Liebe über mich hereinbrechen zu lassen.

Ich drückte meine glühende Wange an seine Brust.

Sein Herz schlug genauso wild wie das meine.

Der Geruch von Asphalt, Regen und nasser Erde drang mir in die Nase. Geräusche des prasselnden Regens und gelegentliches Vogelschimpfen vermischten sich mit unverständlichen Gesprächsfetzen der an uns vorüberziehenden Menschen.

Nichts von alldem interessierte mich. Nichts von alldem kümmerte mich.

Denn ich bin endlich angekommen. Meine Reise ist zu Ende.

Dieser fürwahr verrückte Gedanke wurde von Jans gesenkter Stimme verscheucht. »Ist es wohl in Ordnung, dass ich dich küsste?«

»Etwas Schöneres hättest du nicht machen können.«

Abermals hatte ich nicht nachgedacht. Abermals hatte ich mich nicht gefürchtet, offen über meine Gefühle zu sprechen.

Als Antwort schlang er die Arme fester um mich – und Geborgenheit schenkte meiner Seele den so dringend benötigten kostbaren Frieden.

Jan war hier.

Er hatte mich geküsst … dieser wunderschöne Mann hatte mich geküsst. Er hegte Interesse. Er wollte mir nahe sein … ein Mann – der Mann. Dieses einzigartige kostbare Wesen …

Ehe mir dieses Glück vollständig auszukosten erlaubt gewesen war, wurde ich von den Ereignissen der letzten Stunden überrollt – Anna, Herr Urban, Saskia …

Sie zogen mein Innerstes zusammen, raubten mir die eben sachte aufkeimende Hoffnung, endlich glücklich werden zu können.

Wie sollte ich auch jemals glücklich werden …

War ich für Jan überhaupt gut genug? Oder würde er bald erkennen, wie unnütz ich tatsächlich war?

»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich heute durchgemacht habe.« Unmöglich etwas dagegen unternehmen zu können, purzelten mir die Worte aus dem Mund. »Ich dachte, ich überlebe den heutigen Tag nicht mehr.«

Nie zuvor hatte ich darüber gesprochen … weshalb nun?

Zögerlich ließ Jan von mir ab, seine sorgenvollen Augen betrachteten mich intensiv. »Was ist passiert?«

Durfte ich weitersprechen?

Würde Jan mich nicht als eine jammernde alte nach Mitleid verlangende Tante ansehen?

»Meine Arbeit«, erwiderte ich stockend und wischte mir dabei Tränen und Regentropfen aus dem Gesicht. »Ich habe wieder Fehler gemacht … Und dann … dann wollte ich mich einmal rechtfertigen …. und dann wird mir mit der Kündigung gedroht.«

»Mein Gott … das tut mir furchtbar leid.« Ein drittes Mal schlangen seine Arme sich um mich. Und ein drittes Mal presste er sich an mich, wodurch mir diese wunderbaren berauschenden Empfindungen durch die Adern stoben. »Deshalb sahst du solchermaßen fertig aus.«

Ein schrecklich lauter Knall eines in der Nähe einschlagenden Blitzes ließ uns beide heftigst zusammenzucken.

Mein Herz klopfte dermaßen stark, ich fürchtete, einen Infarkt zu erleiden.

Ein Gutes hatte diese Situation dennoch an sich: Die erdrückenden Gefühle waren von einer Sekunde auf die andere verschwunden.

»Gott … habe ich mich erschreckt.« Vor Schock und Aufregung begann ich zu kichern. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir in meine Wohnung gehen. Nicht, dass uns noch ein Blitz streift.«

Aber irgendwie hatte dieser uns ohnehin längst gestreift. Ein Blitz der Liebe … damals in der Küche, währenddessen wir uns die Hände geschüttelt hatten.

Ich wollte mich von Jan lösen, allerdings mutete dieser an, nicht recht von mir ablassen zu wollen.

»Gehen wir?«, fragte ich, um mein Ansinnen indirekt zum Ausdruck zu bringen.

Seit jeher tat ich mir schwer, jemandem Anweisungen zu geben, und erst recht, eigene Wünsche anzusprechen. Es erschien mir egoistisch, einfach falsch.

Weshalb ich so empfand, wusste ich aber bis heute nicht.

Womöglich, weil ich fürchtete, mit meinen Bedürfnissen Mitmenschen zu bedrängen, belasten oder zu brüskieren?

Er drückte das Gesicht in meinen Nacken. »Ich … ich –« Ein weiterer Donner erklang. Dieses Mal weitaus dumpfer, dennoch laut genug, um mir frisches Adrenalin in die Blutbahn zu pumpen.

Jans Körper indessen erbebte heftig und seine Umarmung verwandelte sich in ein krampfhaftes Klammern.

Konnte es etwa sein …?

»Jan?« Mit behutsamer Beharrlichkeit zog ich ihn zurück. »Hast du … Angst?«

Glühenden Wangen – Augen voller Furcht.

Verhalten nickte er mir zu. »Ja … ja, ich bekomme da richtige Panik.«

Eine Tatsache schlug in meinen Verstand ein – wie der Blitz eben.

Darum der eigenartige Ausdruck, als er damals über Gewitter gesprochen hatte!

Und deshalb fühlte ich mich nun selbst dergestalt aufgekratzt! Schließlich ging Jans Panik ungefiltert auf mich über!

Himmelherrgott!

Eisige Kälte erfasste mich. Reue überschwemmte mich. Panik erhöhte meinen Puls auf eine schier schmerzhafte Weise.

O mein Gott! O gütiger Gott!

Erst jetzt begriff ich zur Gänze, in welcher Situation Jan sich befand – und wie ich mich verhielt!

Wir standen inmitten eines Gewittersturms, und Jan vermutlich unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch … Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als meine und Jans Verhaltensmuster zu analysieren und über meine Schwierigkeiten in der Arbeit zu jammern!

Was war ich für ein gefühlloser, dummer Mensch!

Hektisch blickte ich mich um, suchte meinen Schirm.

Der Wind hatte ihn ein paar Meter weggeweht.

»Komm mit!« Ich nahm Jans Hand in meine. »Gehen wir nach Hause.«

Schnellstmöglich!

Ich wollte mir nicht ausmalen, welch Ängste er in der letzten halben Stunde hatte ausstehen müssen … und dies alleinig meinetwegen!

Ich fasste nach dem schwarzen Kunststoffgriff und hielt den durchsichtigen Schirm über unsere Köpfe. »Eigentlich ist es längst egal, ob wir den Schirm benutzen oder nicht … Wir sind sowieso bis auf die Knochen nass.«

Ein leises Kichern drang aus Jans Mund. Ungeachtet der Lautstärke brachte es mir beträchtliche Erleichterung.

»Stimmt … aber irgendwie fühle ich mich damit dennoch sicherer.«

Seine erkaltende Hand in meiner haltend eilten wir durch die regendurchfluteten Gassen.

Leute erblickte ich nun keine mehr. Weder verliebte Pärchen noch Pensionisten oder Vertreter. Selbst der Verkehr hatte mindestens um die Hälfte abgenommen.

Von diesen Dingen nahm ich allerdings bloß am Rande Notiz. Jans leuchtender Blick, seine allfälligen spontanen, von Donnergeräuschen hervorgerufenen Umarmungen und die daraus resultierenden prickelnden Gefühle in meinem Leib sowie meine regennasse Brille raubten mir die Sicht auf all diese unwesentlichen Dinge … Dinge, welchen ich zu viel Beachtung geschenkt hatte. Dinge, welche mich traurig gestimmt hatten …

Ein neuer Knall veranlasste Jan, sich stürmisch an mich zu pressen – und mich zu küssen.

Ich musste gestehen, gar so recht verstand ich seine Reaktion nicht mehr, die hochkletternde Geborgenheit wie verstandabdrehenden Gefühlsstürme waren dafür einfach viel zu schön, um lange genug darüber nachgrübeln zu können oder zu wollen.

Langsam, widerwillig, ja sich regelrecht dazu zwingend ließ er von mir ab.

Hätte der zärtliche Kuss mir nicht bereits den Atem geraubt, spätestens angesichts dieser sinnlichen Reaktion hätte ich nach Luft schnappen müssen.

»Hat dir das ein wenig die Furcht genommen?«, fragte ich, alsbald meine Atmung sich teilweise beruhigt hatte.

Offensichtlich nahm diese Küsserei mir sämtliche Hemmungen, an welchen ich üblicherweise litt …

Ein liebevoll scheues wie verschmitztes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Ja, absolut. Da können nicht einmal die Geschichten meiner Großmutter mithalten.«

Ich konnte mich partout nicht davon abhalten, loszukichern.

Jan stimmte mit ein.

Erst ein weiterer Donner brachte uns dazu, innezuhalten. Und letztlich klammerte Jan sich wieder Schutz suchend an mich und verlangte meine Lippen, welche ich ihm gerne und mit rasendem Herzen darreichte.

Und dieses Mal hatte mich tatsächlich ein Blitz getroffen … nicht bloß ins Herz – nein, mitten in die Seele. Vollkommene Sicherheit legte sich um mich. Jans meinen Nacken kraulende Hände lösten wohlig-warme Schauer aus. Seine mich neckisch wie zögerlich erforschende Zunge brachte mich zum Beben und meinen Unterleib zum Glühen.

Es war unfasslich.

All diese betörende Liebe, diese zärtliche Intimität tauschten wir umringt von Sturm und Chaos in nahezu seliger Ruhe aus …

Konnte solch ein magischer Moment eigentlich noch schöner werden?

Ja.

Jans glühende Haut auf meiner, sein kaum vernehmbares Seufzen wie sein sachtes aufwallendes Zittern vermochten es.

Einige wundervolle Minuten später ließen wir voneinander ab.

Ich schaute tief in seine strahlenden Augen. »Machst du das jetzt, bis wir zu Hause angekommen sind?«

»Selbstverständlich«, entgegnete er wie aus der Pistole geschossen, einzig um stockend und errötend fortzufahren: »… Dann … Dann … Dann habe ich wenigstens eine Ausrede … um dich immer wieder zu küssen.«

Eine sich wie Lava anfühlende Hitze preschte mir übers Gesicht.

Ich hatte wahrlich mit vielem gerechnet, jedoch niemals mit einer derart schlagfertigen wie betörenden Antwort.

Vor allem nicht aus Jans Mund.

Er war mindestens ebenso schüchtern wie ich … Woher kam diese Wesensänderung?

Ging es ihm etwa wie mir? Nahmen seine Zweifel ebenfalls ab?

Peinlich berührt senkte ich den Blick. »Das ist wohl die schönste Ausrede, die ich jemals gehört habe.«

Ein Donner hallte an den Wänden der Wohnhäuser wider, veranlasste Jan, sich fester an mich zu pressen. »Solchermaßen schön die Vorstellung auch scheint, dich immer und immer wieder zu küssen … Beträchtlich lieber wäre mir dennoch, wir würden uns wieder auf den Weg machen.«

»Ja, sicher doch.« Wir ließen voneinander ab. »Mir ist sowieso eiskalt. Dir auch?«

Mit einem scheuen »Mhm« mir antwortend nahm er meine Hand lieblich in seine.

»Dann beeilen wir uns«, erwiderte ich. »Du sollst dich nicht noch mehr fürchten müssen.«



Keine zehn Minuten später erreichten wir meine trockene, vom vormittäglichen Sonnenschein erwärmte und nach Vanille duftende Wohnung.

»Willst du dich heiß runterduschen?«

In Jans Wangen kletterte dieses unaussprechlich niedliche Pink. »Ja … sehr gern.«

Vor Kälte bibbernd hauchte er mir einen schnellen Kuss auf die Lippen.

Obgleich seiner Kürze fühlte ich mich wie berauscht.

»Aber willst du nicht zuerst gehen? Du bist ebenfalls durch und durch nass.«

»Nein … geh nur. So kalt ist mir nicht.« Ich blickte auf das auf meinem Körper klebende Kleid herab. »Es tropft nicht mehr … Bis du fertig geduscht hast, kann ich mich leicht gedulden.«

Ein neuer schwindelerregender Kuss folgte.

Wenn dies so weiterginge, würde es mir nicht mehr lange gelingen, mich auf den Beinen zu halten.

Nun … dafür war mir jetzt umso wärmer geworden …

Keuchend zeigte ich zur rechts gelegenen Tür. »Das Bad befindet sich gleich da.«

»Vielen Dank.«

Er schenkte mir einen dritten Kuss, darauf ein zärtliches Lächeln, ehe er sichtlich widerwillig davonhuschte.

Leicht schwindelig sah ich ihm hinterher.

Ich fühlte mich wie in einem zuckersüßen Tagtraum. Alleine eine Tatsache bestätigte mir, nicht zu schlafen: Niemals hätte ich etwas derart Wunderschönes zu träumen vermocht. Weder in der Vergangenheit noch in Zukunft.

Dennoch ertappte ich mich dabei, wie ich abermals zu zweifeln begann.

Passierte dies wahrhaftig?

Konnte ich mich tatsächlich darauf verlassen, mir dieses Geschehnis nicht bloß einzubilden?

Ich brauchte kein psychologisches Studium, um zu wissen, wie leicht die vielen schrecklichen Erlebnisse des heutigen Tages es vollbracht hätten, mir eine Psychose auszulösen.

Bilder entstanden in meinem vernebelten Verstand.

Womöglich lag ich längst auf der geschlossenen Anstalt – mit Psychopharmaka vollgepumpt, die mir diese wundervollen Träume schenkten …

Je intensiver ich darüber nachdachte, desto logischer erschien die Vorstellung.

In den vergangenen Monaten hatte ich mich nahezu jeden Tag gewundert, wie ich die nötige Kraft aufbrachte, um aus dem Bett zu klettern und arbeiten zu gehen. Wie oft hatte ich mir gewünscht, einfach tot umzufallen – oder eines Abends einzuschlafen und nicht mehr zu erwachen … endlich dem Schmerz zu entfliehen?

Zu groß war die Bürde der Einsamkeit geworden. Zu kalt fühlte sich die Welt an. Zu laut wurden ihre Vorwürfe.

Und nun sollte da aus heiterem Himmel Jan auftauchen und mir einen hollywoodreifen Kuss geben? Im strömenden Regen … und zu exakt der Zeit, in welcher ich es am allernötigsten brauchte?

Noch nie zuvor war mir Derartiges widerfahren – nicht einmal annähernd. Wenn ich mich auf den Knien befand, wurde ich üblicherweise weiter zu Boden gedrückt. Hilfe hatte ich mir nie erhoffen können, geschweige denn dürfen.

Das Gefühl seiner Lippen … seine zärtlichen Hände … Das konnte gar nicht real sein, oder?

Während meine Gedanken immer weitere Kreise zogen, trocknete ich meine Brille. Darauffolgend machte ich uns Rühreier mit Speckwürfeln und Dinkelbrot.

Vielleicht würde ein anständiges Essen helfen, meinen Verstand in die richtigen Bahnen zu lenken …

Ich war eben dabei, die gefüllten Teller auf den Tisch zu stellen, da rief Jan zögerlich meinen Namen.

Weil Wohnzimmer, Küche und Vorzimmer zu einem einzigen Raum zusammengefasst worden waren, brauchte ich mich bloß umzudrehen, um Jans Kopf zu erblicken, welcher scheu hinter der Badtür hervorlugte.

»Liza … ich brauche kurz deine Hilfe.«

Er klang ziemlich verzweifelt.

Was war wohl geschehen?

Ich eilte zu ihm. »Ist etwas passiert?«

Die feuchten Haare hingen ihm schwer ins Gesicht, ein unsicheres Lächeln brachte seine wunderschönen hellgrünen Augen zum Leuchten, und seine glühenden Wangen taten ihr Übriges, um Jan einen atemberaubenden honigsüßen wie verlorenen Eindruck zu vermitteln.

»Ich … ich habe nichts zum Anziehen.« Während er sprach, senkte er den Kopf – und mir wurde es sekündlich mulmiger zumute.

Himmel!

Ich hatte vollkommen vergessen, ihm etwas Trockenes zum Überziehen zu geben!

»Herrgott!« Mein unüberlegter Ausruf ließ Jan merklich zusammenzucken. »Es tut mir furchtbar leid! Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dir etwas herzurichten.«

Ich überlegte fieberhaft.

Was konnte ich ihm geben? Weder besaß ich Herrenunterwäsche noch eine Hose oder ein Hemd, welches ihm ob seiner Größe gepasst hätte. Nicht einmal der alte Trainingsanzug meines Vaters war da lang genug …

Während ich mir das Gehirn zermarterte, wanderte mein Blick über das Türblatt, weiter zum Türstock und zurück.

Jählings brachte mich ein kribbelnder mir durch die Adern jagender Adrenalinsturm dazu, innezuhalten.

Nein – mir war keine rettende Idee für Jans Kleiderproblem in den Sinn gekommen.

Nein – ebenso wenig war mir eingefallen, in der Arbeit einen Beleg falsch abgeheftet zu haben.

Einzig und allein eine pikante, mir gewahr gewordene Tatsache hatte Schuld daran. Die Tatsache, dass lediglich eine Tür es war, welche mich von einem jungen, wunderschönen und splitterfasernackten Mann trennte … Ein nackter Mann, welcher heiß geduscht hatte. Ein nackter Mann, welcher mich eben erst geküsst hatte …

»Ich … ich weiß nicht, was ich dir bringen soll.« Ich schluckte, zögerte. »Du bist viel größer als ich … und ich besitze keine Herrenwäsche.«

Bilder drangen aus irgendwelchen Untiefen meines verwirrten Geistes empor.

O mein Gott … er konnte ja schlecht einen meiner Slips anziehen … oder gänzlich nackt in der Wohnung herumlaufen …

Je länger ich nachdachte, umso unangenehmer wurde es mir.

Seine Züge dagegen entspannten sich. »Das macht nichts … Hast du vielleicht einen langen Bademantel? Das reicht vollkommen.«

Ein Bademantel!

Natürlich!

Weshalb war mir dies nicht selbst eingefallen?

»Ja sicherlich.« Mit anwachsender Erleichterung machte ich auf dem Absatz kehrt. »Ich bringe ihn dir sofort.«

»Nur keine Hast«, rief er mir hinterher.

Ich trat ins Schlafzimmer, fasste nach dem langen, weißen unaussprechlich kuscheligen Morgenmantel und hastete zurück.

»Hier bitte … ich hoffe, er passt.«

Dankend und mit ungleich leuchtenderen Augen zog er ihn durch den Türspalt. »Der ist perfekt … und überaus weich.«

Ich lächelte. »Deshalb habe ich ihn gekauft. Je weicher, desto besser.«

Er erwiderte mein Lächeln, verschwand dann mit den Worten »Warte kurz. Ich ziehe ihn nur schnell über« gänzlich hinter der Tür, ehe er sie komplett öffnete und zu mir trat, mich überraschend in den Arm nahm und seine Lippen sänftiglich auf meine legte. »Vielen Dank.«

Schluckend sowie diese unbezwingbaren Gefühlsstürme unterdrücken versuchend, nickte ich ihm zu.

Verhielten Liebespaare sich auf diese Weise? Tauschten sie bereits Zärtlichkeiten aus, wenn sie sich wenige Minuten nicht gesehen hatten?

Jan schaute Richtung Küchentisch. »Du hast gekocht?«

»Ja …« Ich räusperte mich. »Eierspeise. Hast du Hunger?«

Die Lider geschlossen, atmete er tief ein. »Ja … der Geruch alleine lässt mir bereits das Wasser im Munde zusammenlaufen.«

Ich wollte vorangehen, seine nach wie vor um mich geschlungen Arme hielten mich allerdings erfolgreich davon ab.

»Gehen wir?«

»Ja.«

»Dann … dann musst du mich loslassen.«

Ein sanftes Lächeln huschte ihm über die Lippen. »Aber will ich dich nicht loslassen.« Sekunde um Sekunde musterte er mich intensiver. »Es fühlt sich unbeschreiblich an, dich festzuhalten.« Dies gesprochen, trafen seine Lippen neuerlich auf meine. »So lange habe ich gehofft, gewartet, gebetet, dich in meinen Armen halten zu dürfen … so unbeschreiblich lange.« Seine Umarmung verstärkte sich, seine Zunge drang in meinen Mund. Das vierte Mal heute …

Ich rang um Fassung, Selbstkontrolle und Luft.

Ein jeder seiner Küsse war zärtlicher als der Vorherige, eine jede Berührung inniger, lieblicher, bedächtiger.

Geborgenheit, Schutz, Verständnis füllten mich aus – Emotionen, welche üblicherweise allein durch meine Eltern erweckt wurden.

»Ich will dich nie mehr loslassen«, flüsterte er. »Nie mehr … nie mehr.«

Aus halb geschlossenen Augenlidern ihn anblickend vergrub ich die Finger im Bademantel. »Ich ebenso wenig –« Ich wollte weitersprechen, ein unerwartet stürmischer Kuss machte diesem Vorhaben jedoch ein jähes Ende und zwang mich in weiterer Folge wortwörtlich in die Knie.

Zügellose Leidenschaft – Jans Hände überall, seine Zunge fordernd wie verspielt – welche Alternativen wären mir da geblieben?

Somit gaben meine Beine nach.

Alleine Jans flotten Eingreifen war es zu verdanken, dass ich mich nicht verletzte, führte er mich doch sachte zu Boden.

»Hast du dir wehgetan?« Liebevoll nahm er mein Gesicht in seine Hände. »Ist dir etwas geschehen?«

»Nein, alles in Ordnung … Und bei dir?«

Erleichterung spiegelte sich in seinem ätherischen Antlitz wider. »Mir geht es auch gut.« Abrupt hielt er inne, errötete. »Ist deine Reaktion meinem Kuss geschuldet? … Hat er dir solchermaßen gefallen? Oder … oder lag es an etwas gänzlich anderem, das dich in die Knie zwang?«

Noch eine solche freche Bemerkung …

Beschämt richtete ich meine Aufmerksamkeit auf seine glatte Brust, welche unsicher anmutend aus dem locker sitzenden Bademantel hervor blitzte. »Ich denke … du weißt die Antwort.«

»Dann werde ich dir solche Küsse zukünftig ausschließlich im Sitzen oder Liegen geben.«

Meine Wangen erglühten. Mein Herz setzte für die nächsten Schläge aus.

Meinte er damit … Wollte er … Wann wollte er … Wie sollte das …

O gütiger Gott!

Vor Scham doch ebenso sanft aufkommender Erregung drückte ich meine heiße Stirn an seinen Oberkörper.

Das wurde sekündlich unglaublicher …

Er wollte mir noch näher kommen?!

War seine Zuneigung wahrhaftig dergestalt groß, wie ich sie mir stets von einem Mann gewünscht hatte?

»Es tut mir leid«, hörte ich ihn wispern. »Habe ich dich damit vor den Kopf gestoßen?«

Ich wusste, ich musste etwas erwidern … Fatalerweise hatte meine Schamhaftigkeit mittlerweile Wolkenkratzer hohe Ausmaße angenommen, wodurch es mir auf Biegen und Brechen nicht gelang, etwas hervorzubringen.

Um Jan wenigstens irgendwie Antwort zu geben, schüttelte ich mein Haupt – durchwegs betend, ihn mit meiner törichten Reaktion nicht zu beleidigen.

»Dann findest du mein Gesagtes nicht anstößig?«

Ein Beben ergriff Besitz von mir.

Himmel!

Weshalb musste ich so absurd reagieren?! Da passierte mir eben das größte Glück der Welt – und ich verging vor Verlegenheit …

»Nein.« Von uns beiden war ich über meine hervorgepresste Antwort wahrscheinlich am meisten erstaunt. »Es ist einfach wunderschön.«

»Wirklich?« Behutsam zog er mich ein Stück zurück, und ich brachte es trotz meines Gefühlschaos zusammen, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Es gefällt dir tatsächlich.« Er strahlte vor Glück. »Mein Gott! Du bist wirklich wie sie.«

Wie?

Was meinte er damit? Wie sollte ich denn sein?

»Ich … ich verstehe nicht ganz.«

»Wie Christina … mein Protagonist in meinem Buch.«

Mir wurde es heiß und heißer … und noch etwas heißer. »Wie …?! Ich … du …«

Ein unsicheres Lächeln erschien. »Du erinnerst mich unwahrscheinlich an sie … Damals an der Rezeption … als ich dich das erste Mal sah … da war es mir vorgekommen, du wärest direkt aus meinem Roman gehüpft.« Jan schüttelte den Kopf, den Blick auf die Seite gerichtet – er machte den Anschein, es selbst nicht recht glauben zu können, was er da von sich gab. »Ich dachte, ich erleide einen Herzschlag.« Äußerst langsam fanden seine Augen zu mir zurück. »Weißt du … dein Aussehen, deine Mimik, deine Gestik … so stellte ich mir stets Christina vor.«

»Aber …« Ich suchte Begriffe. Ich suchte meinen Verstand. Ich suchte eine Erklärung. Nichts davon war mir möglich zu finden. »Aber das kann gar nicht sein …«

Unvermittelte anschwellende Verunsicherung legte sich auf seine Züge. »Bitte denke jetzt nicht, ich sei ein durchgeknallter Psychopath … Bitte.« Sein flehender Ausdruck löste eine über meinen gesamten Körper rasende Gänsehaut aus.

»Ich bin nicht verrückt … wirklich nicht … Ich versuchte diesen Eindruck von dir ohnehin zu unterdrücken. Die gesamte Zeit!« Er überlegte. »Erst wollte ich dich näher kennenlernen. Ich wollte wissen, wie du bist. Aber dann … dann haben wir gemeinsam gekocht … Und da wusste ich, du bist es.« Sein Blick festigte sich. »… du … du bist meine Traumfrau … Du bist diejenige, welche ich mein Leben lang suchte.«

Seit unserem ersten Kuss hatte ich tausend unbekannte Gefühlsregungen erfahren dürfen – doch keine einzige war annähernd mit meinem momentanen Zustand vergleichbar.

Es war kein Prickeln, keine Geborgenheit, auch kein Adrenalin – es war eine Art Dankbarkeit vermischt mit Glückseligkeit, Erregung, Freude und Wärme, die sich wie ein Lauffeuer in mir ausbreitete.

Nach einigen Momenten des Sammelns überkam mich die nüchterne Gewissheit.

Die letzte Stunde – sie war nicht real. Sie konnte nicht real sein!

Spätestens nach dieser letzten Aussage Jans musste mir klar sein, all dies wahrhaftig zu träumen. Niemals hätte ein fremder Mann mir ein Liebesgeständnis gemacht. Besonders nicht mir! Und erst recht nicht kniend vor der Badezimmertür …

Ja, bestimmt lag ich nach meinem ersten Selbstmordversuch im Krankenhaus und fantasierte mir diese wunderbaren Dinge zusammen.

»Liza?«

Ich wandte mich Jans engelsgleichem Gesicht zu. »Ja?«

»Du glaubst mir nicht, oder?«

»Ich glaube, ich träume das alles … Ich denke, du bist nicht real … Du kannst gar nicht real sein. Jemand, der so wundervoll ist, der solch schöne Dinge sagt … den kann es nicht geben.«

»Aber ich bin real.« Er gab mir einen mich schwindelig machenden Kuss. »Glaubst du, diese Situation kann sich solchermaßen gut anfühlen, wenn man sie träumt?«

Ich blinzelte.

»Schließlich weißt du gar nicht, wie es sich anfühlt, hab ich recht?«

Eiseskälte legte sich um mich.

Woher …?

»Da kannst du praktisch nicht davon träumen … da dir die nötige Erfahrung dazu fehlt, welche dein Gehirn benötigt, um dir solch einen intensiven Traum zu bescheren.«

Woher wusste er über meine Unerfahrenheit Bescheid?

Ehe ich weiterzudenken in der Lage gewesen wäre, tanzten seine Lippen längst wieder über meine und verwandelten sämtliche Kälte in brennende Hitze. »Du fragst dich bestimmt, woher ich das weiß …« Jan setzte seine Liebkosung fort, intensivierte sie, brachte mich dazu, leise aufzuseufzen. Diese Situation war gleichermaßen peinlich wie erregend, berauschend wie beängstigend.

»Ich träume«, brachte ich erstickend hervor. »… Dass du es weißt, ist Beweis genug.«

»Ich weiß es«, erwiderte er raunend und meine Nase mit seiner anstupsend. »Weil es bei einer solch kostbaren zärtlichen Seele wie dir gar nicht anders sein kann … Du strahlst es aus. Man sieht dir deine Reinheit an. Ein jeder halbwegs vernünftige Mann muss dies sehen.«

Er hatte es bemerkt? … Man konnte es sehen?! Wie sahen mich dann –

Seine Lippen und darauffolgend seine auf meine treffende Zunge beraubten mich all meiner sich auftuenden Fragen, um mir stattdessen heftige Gefühlswellen durch meinen zitternden von Jans heißen Händen sorgfältig erforschenden Leib zu schicken und mir darüber hinaus hocherotische wie beschämbare Gedanken zu entfesseln: Wie würde es sich anfühlen, wenn er mir noch näher kam? Wie würde es sein, neben ihm zu liegen … uns zu vereinigen …

Mein Herz setzte ob dieser Überlegungen wie der daraus entstandenen Adrenalinausstöße zum wiederholten Male aus.

»Ich weiß … Ich kenne dich kaum … eines musst du dennoch wissen: Die vergangenen Monate habe ich immerwährend an dich denken müssen … Und ich verstehe bis jetzt nicht, weshalb du so sang- und klanglos verschwandest.«

Die aus meiner Vorstellung hervorgerufene Erregung wurde von hochzüngelnden Schuldgefühlen verdrängt.

»Es tut mir leid. Es tut mir wahnsinnig leid.«

Seine Züge spiegelten Verständnis wider. »Du hattest einen Grund, oder?«

Sollte ich es sagen?

Sollte ich …?

Ja …

Ja, ich sollte nicht nur, ich musste!

Jan war immer offen und ehrlich gewesen, hatte sich gegen Panik und Gewitterstürme aufgelehnt, um zu mir zu kommen und mir seine Gefühle zu gestehen.

Wenn ich mich selbst ihm gegenüber verschloss, wie sollte Jan mich je verstehen?

Flüsternd bejahte ich. »Du warst der Grund.«

»Was?!« Aufblitzender Schock seinerseits ließ mich leicht zusammenzucken. »… Aber wieso … Was habe ich dir getan?«

Er dachte tatsächlich, ich hätte das Hotel seinetwegen fluchtartig verlassen?!

Mein Gott!

Was hatte ich da angerichtet …

»Du hast mir nichts getan«, versuchte ich zu beruhigen. »Ich … ich konnte es einfach nicht ertragen, dich noch länger anzusehen, Zeit mit dir zu verbringen, wo ich wusste, dass ich dich nie mehr wiedersehen werde.«

Erkenntnis besänftigte seinen starren Gesichtsausdruck. »Dann hast du …«

Ich kratze irgendeinen nicht vorhandenen Rest Mut zusammen und begann zu erklären: »Ich … ich … nun ja … ich mag dich unwahrscheinlich gerne … Ich wollte dir furchtbar gerne sagen, wie viel du mir bedeutest … aber letztlich traute ich mich nicht mehr.« Unmöglich zu unterdrückende Tränen fingen an, sich in meinen Augen zu bilden. »Ich hatte solche Angst, du würdest mich wegstoßen … Gott, ich hatte solche Panik davor, es erneut zu erleben. Es ist derart oft passiert … erst vergangenen Herbst das letzte Mal … Immer … immer, wenn ich dachte, jemand hege Interesse, wurde ich eines Besseren belehrt … zweimal passierte es mir in der Schulzeit … daraufhin in einem Kurs … dann in der Arbeit.« Schluchzend suchte ich seine klaren strahlenden Augen. »Ich ertrage das nicht mehr … Noch eine Abfuhr … ich hätte es nicht mehr überstanden. Ich konnte einfach nicht mehr … deshalb bin ich ohne Verabschiedung verschwunden … Bitte glaub mir, ich wollte dich nicht verletzen. Wenn ich gewusst hätte –«

Jan drückte mich an sich – und der sich in den letzten Monaten aufgestaute Druck brach über mich herein – wie eine stumme Welle tödliche meinen Brustkorb zerquetschende Gewalt …

Träne um Träne suchte der Schmerz sich einen Weg aus meiner Seele. Träne um Träne lähmten und schüttelten mich Emotionen der Verzweiflung und Trauer.

»Jetzt verstehe ich dich.« Sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings drang Jans Erwiderung mir ins Ohr. »Jetzt verstehe ich alles. Endlich verstehe ich, wieso du dich einerseits distanziert, andererseits meine Nähe gesucht hast. Jetzt verstehe ich alles.«

Mit einem jeden einzelnen seiner kostbaren Worte nahm meine schwere Last allmählich wieder ab.

»Du musst mir noch mehr erzählen … Du musst mir alles erzählen.« Er beschenkte mich mit einem Kuss. »Und dann erzähle ich dir, was ich durchmachte … diese letzten Monate ohne dich. Diese Monate, in welchen ich dachte, ich wäre dir egal.«

Egal.

Es krampfte mir Herz und Seele zusammen.

Was hatte ich getan?! Was hatte ich Jan zugemutet?!

»Du warst mir nie egal«, beteuerte ich. »Nie.«

»Ja … jetzt weiß ich es.« Mit einer nicht zu beschreibenden Umsichtigkeit zog er mich hoch. »Komm. Reden wir später weiter. Setzen wir uns erst zu Tisch und essen dein gutes Mahl, in Ordnung?«

Nickend tat ich wie verlangt.

Diese Situation erschien mir sekündlich verrückter … und schöner … und romantischer … und realer.

Ich sollte seine Traumfrau darstellen? Ich sollte wie Christina sein?

Während ich die Eierspeise hinunterwürgte, wurde ich von tausenden Fragen und Zweifeln bombardiert.

Sie überfielen mich, vereinnahmten mich, verwirrten wie beruhigten mich.

Konnte all dies tatsächlich die Wirklichkeit sein?

Träumte ich wahrhaftig nicht? War ich wirklich munter? Saß Jan wahrlich mir gegenüber?

Dieser wunderbare Mann, dessen Sanftheit und Mitgefühl mir in all der Zeit nicht aus dem Sinn gegangen waren, dessen liebreizende Zusprüche mir selbst Monate nach unserem ersten Zusammentreffen Trost gespendet hatten – dieser Mann saß nun vor mir, verspeiste mein Essen und lächelte mich dabei glücklich an.

Ein über seine zarten Gesichtszüge huschender Schatten beendete meine Überlegungen abrupt.

»Die gesamten Monate vermutete ich, du hättest kein Interesse.« Er wählte seine Worte mit äußerster Sorgfalt. Dies bemerkte ich einerseits an seiner verlangsamten Sprachgeschwindigkeit, andererseits an der kleinen zwischen seinen Augenbrauen in Erscheinung tretenden Falte. »Dann vermutete ich, du könntest mich womöglich doch mögen … alsbald ich jedoch an deine hastige Abreise zurückdachte, verwarf ich diese Vermutung.« Kurzzeitig hielt er inne. »Dessen ungeachtet schmerzte es mir solchermaßen in der Seele … Ich kann es nicht in Worte fassen, wie weh es mir tat.«

»Es tut mir aufrichtig leid.« Beißende Schuldgefühle ließen mich regelrecht erstarren. »Das war niemals meine Absicht gewesen.« Ich fuhr mir über die Nase. »Aber wenn es dich vielleicht tröstet: Mir ging es komplett gleich.«

»Du –« Sein Mund klappte auf. »Du hegtest die gleichen Zweifel?«

»Ja.« Ich trank einen Schluck des süßlichen an einen heißen Sommertag erinnernden Himbeersaftes. »Zuallererst dachte ich, du magst mich … Dann begann ich zu hadern, verwarf alle Hoffnung … und darüber hinaus hatte ich eben die Sorge, mir dies neuerlich einzubilden … wie ich es mir in der Vergangenheit stets eingebildet hatte.«

»Grundgütiger, waren wir töricht!« Ein Kopfschütteln seinerseits folgte. Und darauf ein leises für mich nicht nachvollziehbares Kichern.

»Jetzt denk mal genau darüber nach«, sprach er sich an die Stirn fassend weiter – als vermochte er meine Verwirrung sofort zu bemerken. »Ich meine, wie blöd sind wir beide eigentlich?«

Wie?!

»Wir leiden hier monatelang wie geschlagene streunende Hunde … dabei wollten wir lediglich beim jeweils anderen sein … Wir wussten, wir mögen uns, dennoch haben wir durchwegs gezweifelt … Diese Zweifel stürzten uns in eine buchstäbliche Depression.« Für einen Moment schloss er die Lider. »Stell dir das vor!« Neuerlich schüttelte sein wunderhübsches Haupt. »Wenn es nicht derart schrecklich wehgetan hätte, würde ich jetzt darüber lachen.«

Und damit verstand ich.

Und wie ich verstand.

»Hätte ich dich angerufen«, murmelte ich zustimmend. »Anstatt mir das Hirn zu zermartern … wäre ich einfach zu dir gefahren, hätte ich mir Monate des Schmerzes erspart.« Ich nippte an meinem Glas. »Ich hatte solche Panik, wodurch ich mir letzten Endes alles verdorben habe. Ich habe mein eigenes Leben in tiefste Finsternis getaucht, und deins mit dazu.«

Es war typisch!

Mit meiner Abreise, meinen Ängsten und Befürchtungen hatte ich Jan verletzt – wie ich es stets irgendwie fertig brachte, geliebte Menschen zu verletzen.

Jans Verneinung zog mich aus meinem Selbstmitleid. »So ist das nicht. Du hattest Angst, du hattest Enttäuschungen erlebt.« Er senkte das Haupt. »Ich kenne dieses Gefühl. Zu gut. Mir ist es haargenau gleich ergangen. Bloß traute ich mich meistens erst gar nicht, eine Frau anzusprechen.« Sein Tonfall verlor mehr und mehr seiner anfänglichen Stärke. »Darum muss ich nicht auf derlei viele Enttäuschungen zurückblicken, wie es bei dir der Fall zu sein scheint.«

Wie bitte?!

Gut, Jan war nicht eben der Mutigste – dass es ihm allerdings vergleichsweise ähnlich wie mir ergangen sein sollte, war schlichtweg unglaublich! Immerhin war er Autor … und Kellner. Er besaß diesen gewaltigen Wortschatz, dieses besondere Feingefühl. Welche Frau sprachen solche Charaktereigenschaften nicht an? Welche Frau fand einen solchen sympathischen, wunderschönen und feinfühligen Mann nicht attraktiv?

Langsam richtete er sich auf. »Deshalb traute ich mich anfangs nicht, dich gerade heraus anzusprechen.« Er vollführte eine drehende Geste mit der linken Hand. »Die Sache mit dem Spaziergang im Schnee zum Beispiel war mir rein zufällig herausgerutscht. Denn, um ehrlich zu sein.« Er errötete. »Grundsätzlich spreche ich fremde Frauen überhaupt nicht an.« Jan schien neuen Mut aufbringen zu müssen, zeigten seine Gesichtszüge doch einen offenkundigen Ausdruck von Verunsicherung. Exakt die Verunsicherung, welche ich damals im Hotel oft an ihm bemerkt hatte. »In der Vergangenheit musterten Frauen mich in den meisten Fällen mit abschätzigen Blicken … und dies tun sie nach wie vor.«

Was?!

Das konnte nicht sein! Das konnte einfach nicht stimmen!

Nicht bei diesem atemberaubend schönen Mann!

»Aber du –« Sein Blick intensivierte sich – und unversehens raste mir eine Hitze durch die Adern. »Du bist eine der wenigen, die dies nicht tut. Als du mir das erste Mal in die Augen saßt – ich hatte noch nie derart viel Wertschätzung und Akzeptanz erblickt. Zu allererst dachte ich, ich bilde es mir ein.« Mit unsicherer Hand fuhr er sich durchs feuchte Haar. »Aber dann sprach ich dich an – und zu meinem Erstaunen stießest du mich nicht weg. Du verbrachtest Zeit mit mir. Du hörtest mir zu. Das war wundervoll.«

Seine berührende Erklärung wie sein mich gütig musternder Blick drangen vor bis in die tiefsten seit Jahren in Dunkelheit gelegenen Tiefen meiner Seele – erleuchteten diese, erwärmten diese.

Eine uns umarmende Stille breitete sich aus, nahm mir für wenige Augenblicke sämtliche Nervosität, Gewissensbisse und Unsicherheit.

Die Szenerie wirkte verlangsamt, und irgendwie in Watte gepackt … ähnlich wie während unserer Küsse.

Ich fühlte mich mit Jan verbunden, mit seiner Seele verschmolzen …

»Bei uns scheint vieles Zufall zu sein«, meinte ich nach einigen Momenten.

Meine Antwort vermochte Jan ein sanftes Lächeln zu entlocken. »Ja … sieht tatsächlich so aus.«

Um mein wild pumpendes Herz eine kleine Auszeit zu gönnen, lenkte ich das Thema in eine etwas andere Richtung.

»Hast du heute Urlaub?«

Jan erbleichte, sprang auf – und ich fiel vor Schreck beinahe vom Stuhl.

»O mein Gott!« Er stolperte zwei Meter vom Tisch weg. »Liza … O Gott … Hast du ein Telefon?«

Ich brauchte etwas, bis ich mich von seiner Reaktion erholt hatte. »Ja, sicher. Aber was ist denn los?«

»Ich bin ohne ein Wort zu sagen zu dir gefahren … ich … ich bin –«

Währenddessen ich mich erhob und auf ihn zuging, nahmen seine Züge einen zusehends panischer werdenden Ausdruck an – und meine Hände begannen zu zittern.

»Ich … ich habe es nicht mehr ausgehalten … ich wollte wissen, ob dir mein Buch gefällt … ob du etwas mit mir zu tun haben willst … und dann hatte Tina Christof von meiner Sehnsucht zu dir berichtet … Daraufhin sah ich rot und stürmte aus der Küche.«

Dergestalt aufgewühlt hatte er sich auf den Weg zu mir gemacht? Dergestalt aufgewühlt war er durch den tosenden Regen in meine Arme gelaufen?

Himmelherrgott!

Was hatte er sich alles angetan, um mich wiederzusehen …

Seine Anspannung erfüllte den Raum, legte sich wie ein klatschnasses Tuch um mich. Ohne nachzudenken, trat ich zu ihm und schlang meine Arme um seinen Oberkörper.

Ich wollte ihn beruhigen, wollte ihm die Geborgenheit vermitteln, welche er mir eben erst vermittelt hatte.

»Du kannst gerne mein Handy benutzen und sie anrufen«, flüsterte ich. »Aber ich bin mir sicher, sie werden es verstehen.«

Das mussten sie! Sonst würde ich persönlich zum Hotel fahren und diese Sachlage klären.

Dies war ich Jan mindestens schuldig.

Seine erkalteten Hände legten sich auf meinen Rücken, drückten mich an sich. »Ich hoffe es … ich hoffe es zutiefst. Wenn ich meinen Job deshalb verliere … dann stehe ich vor dem Nichts.«

Um in sein Gesicht sehen zu können, lehnte ich mich etwas zurück.

Die Panik war nach wie vor präsent.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Manfred dich deshalb rauswirft. Er ist ein wundervoller Mensch.«

»Ja … ja, ich weiß.« Jans Wangen nahmen ein sanftes Pink an. »Dennoch. Ich brauche die Arbeit. Ich brauche sie. Wenn ich sie verliere …« Wie um sich davon abzuhalten etwas Unüberlegtes zu verlauten, presste er die Lippen aufeinander.

Es war mir durchaus bewusst, welch hohen Stellenwert im Leben ein geregeltes Einkommen und ein fixer Arbeitsplatz besaßen. Da gab es kaum Ausnahmen.

Nichtsdestoweniger erschien Jans Reaktion allmählich ins Extreme abzugleiten. Insbesondere, wenn man für einen Chef wie Manfred arbeiten durfte.

Hatte Jan hohe Schulden? Waren Schuldeneintreiber hinter ihm her? Oder drohte die Bank ihm mit einer Pfändung?

Ich ließ von ihm ab, trat zu meiner Handtasche und fischte das Handy zwischen Portemonnaie und anderem Kleinkram hervor.

»Hier bitte.«

Dankend wie ansteigende Furcht auf seinem hübschen Antlitz ruhend nahm er es entgegen – bebende Hand inklusive.

Was war bloß los?

Wenn ich es nicht besser wüsste, schien Jan einem weiteren Nervenzusammenbruch beängstigend nahe.

»Jan?« Sachte legte ich meine Hand auf seinen Arm. »Was hast du? Kann ich dir helfen? Du wirkst so fertig. Ich mache mir Sorgen.«

Nervöse Augen trafen auf meine. Pinke Wangen wurden dunkelrot.

»Ich … ich –« Ein unwillkürliches Schlucken unterbrach seinen Erklärungsversuch. »Ich … nun … ja …«

»Was hast du?«, versuchte ich in einem sanften Tonfall ihn zum Weiterreden zu animieren. »Du kannst es mir gerne sagen.« Jäh wurden meine eigenen Wangen heiß. »Du hast mich eben erst geküsst … da kannst du mir ebenso sagen, was dich bedrückt.«

Stumm schüttelte er den Kopf, blickte zu Boden, dann zu mir zurück.

Ich dachte bereits, er würde weiterschweigen, da fuhr er letztlich doch fort. »Erstens … fürchte ich mich vor Manfreds Reaktion … Noch nie habe ich das Hotel während der Arbeitszeit ungefragt verlassen … Und zweitens –«

Mit einer jeden einzelnen Faser meines Körpers spürte ich Jans explosionsartig zunehmende Aufregung.

Wie gerne hätte ich ihm diese genommen!

Er wrang die Hände, visierte irgendeinen nicht vorhandenen Punkt des Laminatbodens an. Ich wiederum versuchte seine auf mich übergegangene nervliche Belastung, welche sich in Form von prickelnd-stechenden, auf- und niederwallenden über meinen Rücken jagenden Wellen bemerkbar machte durch tiefe Atemzüge abzumildern.

»… Ich … ich –« Nochmals hielt er inne, nahm nun selbst einen tiefen Atemzug, ehe er mich endlich wieder anzublicken getraute. »Ich habe furchtbare Angst vorm Telefonieren.«

Dies gestanden, fühlte mich eigenartigerweise um mindestens tausend Tonnen Sedimentgestein erleichtert.

Vielleicht sogar mehr.

Und Jan?

Seiner Mimik nach zu urteilen, empfand er auf dieselbe Weise.

Und ich verstand endlich, was hier los war.

Wie versteinert hielt dieser wunderschöne Mensch das Telefon in der linken Hand, besah dieses zumeist überbewertete Stück Technik mit leiser Sorge. »Ich … ich fürchte mich seit jeher. Wenn ein Telefon läutet, wird mir bereits ganz anders.«

»Ist schon gut. Es ist alles gut.« Ich streichelte ihm über den Rücken – eine Reaktion, ebenso unwillkürlich, wie ihm einen schüchternen Kuss auf die Wange zu setzen.

Überrascht blickte er mich an – mit ziemlicher Sicherheit genauso überrascht wie ich ihn.

Ich wusste nicht, woher ich diesen Mut nahm. Besser gesagt: Allmählich wusste ich überhaupt nichts mehr. Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Ich wusste nicht, was mit Jan passierte. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume, meine Gefühle verhielten sich wie gehetztes Wild …

Lag dies an seinem Liebesgeständnis? Lag es an den Küssen? Oder hatte womöglich alleine das Gewitter Schuld daran?

»Soll ich für dich anrufen?«, schlug ich nach einer längeren Weile unseres gegenseitigen stummen Anstarrens vor. »Es macht mir nichts aus.«

Seine heißen Wangen schafften das denkbar Unmögliche und wurden abermals einen kräftigen Ton dunkler.

Er lenkte den Blick Richtung Boden. »Das … das wäre wirklich nett … Aber was denken dann die Leute von mir? Dass ich es nicht einmal zustande bringe, mich persönlich zu melden, wenn ich so mir nichts, dir nichts verschwinde?«

Da sprach er ein wahres Wort.

»Ich verstehe … Willst du alleine telefonieren? Tust du dir dann leichter? Soll ich die Küche verlassen?«

Unbeobachtet konnte man sich schließlich besser konzentrieren und seinen Ängsten Herr werden.

Abrupt hob er den Kopf – pure Dankbarkeit breitete sich in seinem Gesicht aus.

»Ist es wirklich in Ordnung? … Ich brauche auch nicht lange.«

»Überhaupt kein Problem … Ich muss ohnehin erst einmal unter die Dusche.«

»Meine Güte!« Er weitete die Augen. »Das habe ich vollkommen vergessen … Ja, geh dich duschen. Es wäre furchtbar, würdest du dich erkälten.« Um seine Äußerung zu bekräftigen, drückte er mich bedächtig von sich weg.

Ein Zeichen, seinem Wunsch zu entsprechen.

»In Ordnung. Ich hole mir nur schnell ein Gewand, dann bin ich schon verschwunden und du kannst Manfred anrufen.«

Alsbald ich vor meinem geöffneten Schrank stand, überkam mich ein heftiger Adrenalinausstoß. Und diesem folgten ein Dutzend Weitere …

Nun befand ich mich in derselben Situation, wie Jan vorhin: Was sollte ich anziehen?

Meinen alten Achtzigerjahretrainingsanzug – mein Vater wollte diesen jedes Mal wegwerfen, wenn er ihn sah – konnte ich nicht überziehen. Er war verschlissen und ausgeblichen. Das smaragdgrüne Seidennegligé stellte jedoch dieselbe unmögliche Option dar. Und reine Unterwäsche ging erst recht nicht …

Himmel, noch einmal!

Da hatte ich diese schöne Wäsche für eben einen solchen Anlass wie den heutigen gekauft – um für meinen Freund oder einen an mir interessierten Mann gut auszusehen – und nun konnte ich diese Kleidungsstücke aus exakt diesem Grund nicht tragen …

Welch Bild hätte ich damit abgegeben?!

Da kannte ich Jan theoretisch ein paar Tage. Da hatten wir uns heute das erste Mal geküsst … Und dann sollte ich mit einem sexuell aufreizenden Stück Stoff am Leib in seine Arme fallen?

Nein.

Nein.

Nein, das ging nicht. Das konnte ich nicht tun. Das wäre billig und unpässlich … und überhaupt: Ich war doch kein männermordender Vamp!

Wie war ich damals überhaupt auf die Idee gekommen, mir solch teure Unterwäsche zu kaufen? Schließlich war ich bloß eine alte Jungfrau … und keine Hure!

Mit anwachsender Panik durchsuchte ich den Schrank. Ehe ich vollends die Nerven verloren hätte, entdeckte ich zum Glück mein champagnerfarbenes Seidenshirt und die dazu passende kurze Hose, welche ich letzten Herbst – und nach tagelangem Zaudern – erstanden hatte.

Ich atmete erleichtert aus.

Das ging!

Zwar zeigte die Hose viel Bein … sehr viel Bein … dafür punktete das Shirt mit einem geraden Schnitt, welches mein ohnedies geringes Dekolleté nicht zusätzlich in Szene setzte.

Ich nahm das feine Gewand an mich, öffnete eine kleine Lade, aus der ich einen Slip herausfischte und eilte ins Bad.

»Ich bin dann unter der Dusche, in Ordnung?«

Jan nickte mir aus drei Metern Entfernung zu – das Telefon nach wie vor wie eine Art todbringendes Gerät in der Hand haltend. »Ja, in Ordnung.«

»Du machst das. Ich weiß es.« Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, welches er unsicher erwiderte, und schloss daraufhin die Tür.

In Your Arms

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