Читать книгу Raunen dunkler Seelen - Isabella Kubinger - Страница 5

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Prolog

Reena

„Lauf!“

Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen bebenden Körper sauste. Es füllte mich mit unmenschlicher Energie, schraubte die Muskelleistung auf hundertzwanzig Prozent, ließ mich jedes Detail erkennen, als wäre ich ein hungriger Adler auf Raubzug. Der keuchende Atem hinter mir bestätigte mir, dass Ellen mir folgte. Ohne mich umzudrehen, schnappte ich seine raue Hand und zog ihn weiter hinter mir her. Mir war klar, dass er bald zusammenbrechen würde.

„Reena. Lass mich los. Lass mich zurück. Ohne mich kannst du es schaffen!“

Die lähmenden Schmerzen waren ihm aus seiner stockenden Stimme anzuhören. Wäre ich nur eine Sekunde schneller gewesen. Konzentrierter. Hätte ich die Illusion nur noch einen Atemzug länger aufrechterhalten können, hätte ihn die Axt niemals erwischt. Dann würde er jetzt nicht mit einem tiefen Schnitt über den gesamten Rücken um sein Leben laufen müssen.

„Nein! Nur über meine Leiche. Du stirbst nicht unter meiner Obhut!“

Verzweifelt krallte ich mich noch fester in seinen dreckverschmierten Unterarm und rannte über die felsige Ebene. Ihre metallischen Schritte waren unüberhörbar. Die hohen Felswände trugen sie über jeden eisigen Gipfel. Zu viele. Es waren einfach zu viele.

Auch mir ging schon die Kraft langsam aus. Das wachsame Knistern kitzelte meine gefrorene Nase, doch ich musste noch warten. Nur noch ein kleines Stückchen.

„Reena. Bitte lass …“

„Wenn ich sage ‚spring‘, dann springst du, egal was dir dein gesunder Menschenverstand sagt.“

Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Ein klitzekleiner Fehler und wir sind tot, das war mir bis unter die Fingerspitzen klar. Perfektes Timing hieß es nun.

„Was? Was zum Teufel hast du vor?“

Er zweifelte. Natürlich. Doch ich konnte mich nicht auch noch um seine mentale Gesundheit sorgen.

„Vertrau mir.“

Das Beben der schweren Schritte unserer Verfolger pochte durch jeden meiner Knochen. Diese ganze Situation machte es mir nicht leichter, konzentriert zu bleiben, meine knisternde Energie zu bündeln und einen perfekten Plan zu entwerfen. Sie kamen näher. Beinahe konnte ich schon ihren heißen Atem im Nacken spüren. Ihren Wahnsinn. Ihren Drang nach unserem Leben. Unser Tod wäre nur ein weiterer Schritt zur kompletten Vernichtung reinen Lebens. Würden meine Geschwister ohne mich weiter machen? Sie müssten. Ohne sie würde es sich nurmehr um Tage, nein Stunden, handeln, bis die gesamte menschliche Rasse ausgerottet werden würde. Was übrig bliebe, wären leere Schalen, nutzlose Hüllen, bewohnt von Boshaftigkeit, Mordlust und tierischen Reizen. Untote. Zombies.

Allein diese schreckliche Vorstellung schnürte mir die Kehle zu. Ich würde alles geben, um diese grausame Prophezeiung umzukehren. Selbst wenn es mich mein Leben kosten würde. Ich wurde für diese Aufgabe auserkoren und ich werde mich meinem Schicksal nicht entgegenstellen.

„Reena!“

Ellens schrille Stimme riss mich wieder zurück in die Realität. In unsere Realität. Nur noch ein paar Schritte. Die uralte Magie in mir wartete nur mehr darauf, freigesetzt zu werden. Sich zu entfalten und ihre unschuldigen Seelen zu retten, um nicht wie die kleine Flamme einer Kerze zu erlöschen. Ein Schritt noch und dann …

„Spring!“

Meine heisere Stimme überschlug sich, während sich meine schmerzenden Fußsohlen noch stärker in den felsigen Untergrund bohrten. Ich konzentrierte mich nur mehr auf meine lebensrettende Aufgabe. Den Rest erledigten die müden Muskeln meines Körpers. Ob Ellen wirklich gesprungen war, konnte ich nicht sagen. Doch es wäre nun auch zu spät.

Der steinige Boden begann unter meinen Füßen wegzubrechen. Es fühlte sich an, als würde alles Stunden dauern. Zuerst wölbte sich der Boden nur leicht nach unten, dann fielen immer größere Felsbrocken hinab in eine unbekannte Schlucht. Hinter mir ertönten die erschrockenen Schreie der feindlichen Soldaten. Niemand hatte diese Wendung erwartet. Sie alle würden fallen. Fallen in eine tiefe Schlucht, die es überhaupt nicht gibt. Eine Illusion. Und doch so real, dass sie nicht mit dem Leben davonkommen würden. Jeder Einzelne würde sterben und sein Körper in meiner Illusion verschwinden.

Sanft landete ich auf einem der schwebenden Felsen. Er würde mich halten. Keine Frage. Jede Zelle, jede Faser gehorcht mir. Es war eine mächtige Illusion, doch solange ich sie kontrollierte, würde sie niemand durchbrechen können.

Hastig richtete ich mich auf. Wie aus weiter Ferne spürte ich die schleichende Erschöpfung durch meinen Körper kriechen. Meine zu dünnen Schlitzen zusammengekniffenen Augen suchten nach der einzigen Person, die gerade zählte. Ellen. Ich hatte nicht mitbekommen, wann ich seinen Arm losgelassen hatte. Verzweifelt versuchte ich, in der dicken Staubwolke etwas zu erkennen. Ellen darf nicht gefallen sein. Er muss leben. Frustriert krallte ich meine abgebrochenen Fingernägel in die weiche Handfläche. Der kaum wahrnehmbare Schmerz hielt meine Konzentration aufrecht.

„Ellen?“

Nichts. Meine schrille Stimme hallte von allen möglichem Steinwänden wider. Nur meine Stimme. Kein Rückruf, kein Schnaufen, Keuchen und oder Husten. Nichts.

„Ellen. Bitte. Ellen antworte doch.“

Langsam begann sich meine bereits schlechte Sicht zu trüben. Salzige Tränen rannen mir über die schmutzigen Wangen und fielen wie dicke Regentropfen in eine Schlucht, die es gar nicht geben dürfte.

„Ellen?“

Verzweifelt ließ ich die magische Illusion fallen. Die graue Staubwolke löste sich eilig auf und der hinabgefallene Untergrund schob sich wie ein Puzzle wieder zusammen. Verwoben in seiner eigentlichen Grundform, zeugte nichts mehr von dem grausamen Geschehen von vor ein paar Minuten. Die feindlichen Soldaten waren weg. Genauso wie Ellen. Ich war allein.

Vor 7 Monaten

Suna

Ich muss mich zusammenreißen. Stark sein für die anderen. Für meine Freunde und Familie. Für meine Schwester. Sorgenvoll sah ich zu ihr hinüber. Tamo musste sie vor sich auf das Pferd setzen, weil sie beinahe bewusstlos vom Pferd gefallen wäre. Nun hing sie schlaff in Tamos Armen. Das sanfte Heben ihrer Brust ist das einzige Lebenszeichen, dass ich seit Stunden an ihr erkenne kann.

Natürlich war mir klar, dass wir sie bis auf die Knochen ausgehungert vorgefunden hatten. Selbst in Merlins Versteck hatte sie kaum etwas Brot gegessen. Es war, als hätte ihr Körper keinen Platz mehr für ausreichend Nahrung. Als würde ihr schmerzlicher Verlust jeden vernünftigen Gedanken ausmerzen und ihren Körper vollständig einnehmen.

„Alles gut bei dir? Soll ich mal wieder übernehmen?“

Eilig riss ich mich von dem traurigen Anblick meiner Schwester fort. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich langsamer geworden war. Ohne Ellion anzublicken, wusste ich, dass er mich besorgt musterte. Ihm entging nicht die geringste Bewegung. Früher war mir nie klar gewesen, wie aufmerksam er seine nahe Umgebung musterte und sich über jegliches Detail eine Meinung bildete.

In Morodek war er immer so in sich verschlossen gewesen. Niemand wagte es, sich auch nur in seine Nähe zu stellen, geschweige denn, ihn anzureden. Ellion war immer schon ein Einzelgänger gewesen. Ein introvertierter Beobachter. Ein Zuhörer. Was auch hieß, er war wie geschaffen für die schwierigen Aufgaben eines Boten. Treu. Schweigsam. Unauffällig.

„Ja, alles gut. Ich mach mir nur ziemliche Sorgen um Reena. Sie muss etwas essen.“ Ich verspürte erneut meine nagende Frustration in mir aufkommen. Wenn ich etwas noch mehr hasste, als zu versagen, dann war das, nicht in der Lage zu sein, jemandem den man liebte, zu helfen.

„Mach dir keine Sorgen. Sie ist stark, sie schafft das schon.“

Ich bewunderte Ellion für seinen unbrechbaren Optimismus. Doch ich sah einfach nicht, wie Reena es lebend in unsere sichere Unterwelt schaffen sollte. Wir würden noch mindestens zwei Wochen durch die offenliegende neutrale Ebene reisen, bevor wir überhaupt versuchen würden, in die versteckte Unterwelt zu gelangen. Mir war Onkel Tamos Plan deutlich bekannt. Er würde sich nicht auf eine spontane Planänderung einlassen, dafür kannte ich meinen Onkel viel zu gut. Selbst mir war klar, dass es gerade noch zu gefährlich war, um mit Gewissheit sagen zu können, dass uns niemand verfolgte.

„Wie kannst du dir da nur so sicher sein. Sieh sie dir an! Sie besteht kaum mehr aus Haut und Knochen und nun hängt sie schon seit Stunden wie ein toter Hase in Tamos Sattel. Was ist, wenn sie nicht mehr zu sich kommt? Was, wenn sie in unseren Armen stirbt? Wäre dann alles umsonst gewesen? Unsere Bemühungen. Unsere Verluste. Unser vergossenes Blut. Die Gefahr, die wir auf uns genommen hatten.“

Hastig wischte ich mir eine salzige Träne aus dem Gesicht. Es sollte mir nicht unangenehm sein, meine Gefühle zu zeigen, besonders nicht vor den Menschen, die ich schon fast mein gesamtes Leben kenne, doch fühlte ich mich weiterhin zu verletzlich, wenn ich vor anderen weinte. Ich war schließlich eine Nyajamar. Man würde mich als weinerlicher Lappen, ertrinkend in Selbstmitleid nicht mehr ernst nehmen können.

„Sie wird es schaffen.“

Ellion erwartete keine Antwort mehr von mir. Schweigen. Etwas, wofür ich ihm sehr dankbar war. So konnte ich mich ohne schlechtes Gewissen wieder in meine verkorkste Gedankenwelt verkriechen. Es waren erst drei Tage vergangen. Drei sehr lange Tage, seit wir zu sechst das mächtige Reich von König Kan verlassen hatten. Drei verdammte Tage, seit König Kan den Lichten Reichen den Krieg erklärt hatte. Was wohl schon alles geschehen war? Wussten die anderen Königreiche über die bevorstehende Kämpfe Bescheid? Wurden Boten ausgesandt? Oder war nur ein ungutes Gefühl in der Luft, weshalb alle den Atem anhielten, lauschten und zu verstehen versuchten, was ihnen bevorstand?

Zwei Wochen waren viel zu lange. Ich konnte nur hoffen, dass niemand aus Aronien über Morodeks Existenz eingeweiht war. Die Unwissenheit der Lichten Königreiche würde uns noch etwas Zeit verschaffen. Zeit, die wir definitiv brauchen würden, um uns auf die bevorstehenden Kämpfe vorzubereiten.

Sanft führte ich mein Pferd um die nächste Biegung. Der verwachsene Pfad war gerade einmal breit genug, um zwei ausgewachsene Reittiere nebeneinander halten zu können. Seit Jahren benutzten morodekische Boten die längst in Vergessenheit geratenen Wege, um möglichst unauffällig zwischen den Reichen der Oberwelt zu reisen. Die meisten Menschen benutzen die breiten Handelswege und Hauptstraßen, auf welchen meist ein stetiges Treiben herrschte. Kleine Händler und arme Bauern fühlten sich dort geschützter, da hier hinterlistige Überfälle nicht auf der Tagesordnung standen.

Neben mir schreckte ein rotbraunes Eichhörnchen von seinem Fund hoch und rannte blitzschnell auf den nächsten Baum zu. Weit weg von möglichen Gefahren. Außer Reichweite von dem großen Unbekannten. Genauso fühlte ich mich auch gerade. Auf der Flucht vor König Kans Männern, die wahrscheinlich noch nicht mal mitbekommen hatten, dass wir die stinkenden Gassen ihrer monströsen Hauptstadt verlassen hatten.

Schnell. Verlass den Weg.

Verwirrt sah ich mich um. Was war das nur für eine merkwürdige Stimme? Doch niemand meiner müden Begleiter schien das geheimnisvolle Flüstern vernommen zu haben. Tagträume. Ich war erschöpft und mein Geist spielte mir schon Spielchen vor. Genervt schüttelte ich meinen Kopf.

Schnell. Es bleibt keine Zeit. Vertraue und verlass den Weg.

Die Dringlichkeit in dem Flüstern hatte drastisch zugenommen und ohne, dass ich für mich selbst entscheiden konnte, ob ich der verrückten Stimme in meinem Kopf vertrauen möchte, hatte mein Körper das Steuer übernommen und riss kräftig an den Zügeln. Ich führte mein Pferd mitten in das nächste Gebüsch. Verdammt. Das würde mehr als ungemütlich werden.

„Suna? Was machst du?“

Tamo und Lorca hatten angehalten und sahen mich mit fragenden Augen an. Wie sollte ich ihnen das nur erklären? ‚Eine geheimnisvolle Stimme hatte in meinem Kopf zu mir gesprochen und als ich nicht tat, was sie wollte, begann sie Herr über meinen Körper zu werden.‘ Ganz klar, sie würden mich für zu erschöpft halten und ab nun Ellion reiten lassen. Doch ich spürte ganz genau, dass etwas Wahres daran war. Alles in mir zog sich schmerzhaft zusammen. Ich konnte beinahe fühlen, wie sich mein mageres Frühstück seinen Weg nach oben herausbahnte. Irgendetwas näherte sich uns. Irgendetwas, dem nichts an unserem Wohlbefinden lag.

„Ich weiß es nicht. Aber bitte vertraut mir, wir müssen von diesem verdammten Weg herunter. Ich kann es euch nicht erklären, aber ich weiß es einfach.“

Bettelnd sah ich sie an. Irgendetwas stimmte nicht, ob nun mit mir oder diesem verwachsenen Pfad war nun auch schon egal. Lange würde ich so nicht mehr durchhalten. Jede Faser, jeder Muskel verkrampfte. Ich hatte Schmerzen in Körperarealen, von denen ich noch nicht mal wusste, dass man dort derartige Schmerzen verspüren konnte. Langsam begann sich nun auch meine Sicht zu verschlechtern. Schwarze Punkte sirrten vor meinen Augen und ließen alles aufs Unkenntliche verschwimmen.

„Suna? Geht es dir gut?“

Ohne zu antworten, übernahm die merkwürdige Stimme wieder meinen gesamten Körper und lotste das Pferd weiter in die dichten Büsche hinein. Ich selbst spürte nicht, wie mich die spitzen Dornen aufschnitten, ich konnte es nur an Ellions Gejammer und Geklage heraushören. Warum er bisher noch nicht abgesprungen war, war mir ein Rätsel. Vielleicht aber wollte er mich auch einfach nicht allein lassen. Mit einer derartigen Verwirrung würde ich mir auch um die geistige Gesundheit des betroffenen Mitmenschen Sorgen machen.

„Folgt ihr. Sie sagt die Wahrheit. Wenn wir uns nicht beeilen, war alles umsonst.“

Es war kaum mehr als ein leises Krächzen. Als würde ein Toter nach Jahren wieder zu sprechen beginnen. Als würde man eine eingerostete Maschine, ohne sie vorher zu ölen, zum Laufen bringen. Wie eine verstimmte Geige. Und trotzdem schwang so viel Ernsthaftigkeit in Reenas Worten mit, dass man ihr nur Glauben schenken konnte. Die Autorität einer wahren Prinzessin. Ich war mir sicher, Reena wäre eine gute Königin geworden.

„Na gut, dann machen wir eben einen kurzen Abstecher ins Dornengebüsch“, meinte Onkel Tamo nun wenig überzeugt. Doch allein der Gedanke, dass meine ausgemagerte Schwester genau jetzt wieder aus ihrer Ohnmacht aufwachte, war schon Zeichen genug.

Als hätte das geheimnisvolle Flüstern unsere etwas unfreiwillige Entscheidung gutgeheißen, ließen meine schmerzhaften Krämpfe nach. Ellion und ich waren nun schon weit in das stachelige Dornengebüsch vorgedrungen, als wir endlich auf eine kleine Lichtung trafen, die sich perfekt für drei Pferde und sechs Reiter eignen würde. Zufall? Ich denke nicht.

Schimpfend sprang mein Begleiter von unserem Pferd. Ellion sah aus, als wäre er in einen mannshohen Dornenbusch hineingefallen. Doch ich würde genauso aussehen. Zerkratzt und die staubige Kleidung zerrissen und mit etlichen neuen Löchern bestückt. Mein gesamter Körper juckte von den kleinen Schnitten. Auch die anderen kamen murrend zu uns dazu und sahen nicht wirklich begeistert von unserem kleinen Ausflug aus. Nur Reenas leuchtende Augen ließen mich in dieser Situation lächeln. Egal was es war, dass uns hier hergebracht hatte, es hatte meine Schwester wieder aufgeweckt. Nicht nur das, sie sah besser aus, gesünder. Als würde ein Schönheitsschlaf wirklich Wunder bewirken.

Onkel Tamo hob sie vorsichtiger als eine wertvolle zerbrechliche Vase zu Boden und stützte sie noch, aus Angst, sie könnte in sich zusammenbrechen. Ich fühlte wie eine schwere Last, ein tonnenschwerer Stein, von meinem Rücken fiel, als ich sie in meine Arme schloss. Auch sie drückte mich ganz fest an sich, als würde sie sicherstellen wollen, dass ich nicht bloß ein schöner Traum wäre. Eine einfache Illusion. Eine Fata Morgana.

„Du hast sie auch gehört, oder?“

Es war kaum mehr ein Flüstern. Ich war mir anfangs gar nicht sicher, ob ich mir das nur eingebildet hatte. Reena drückte mich sanft von sich und sah mich aus hoffnungsvollen Augen an. Sie wollte nicht allein sein. Nicht allein mit etwas derartig Merkwürdigen. Und doch fühlte sich die geheimnisvolle Stimme wie ein fester Teil von mir an. Ich brachte kaum ein vernünftiges Nicken zusammen, doch Reena hatte es gesehen. Zufrieden schloss sie mich wieder in ihre zierlichen Arme. Bis vor ein paar Sekunden war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ich eine liebevolle Umarmung gebraucht hatte. Jemanden, der mich sogar ohne Worte verstand.

Wie aus dem Nichts erklang nun das laute Getrampel von einer Hand voll Pferden. Es hätte mich nicht überraschen sollen, schließlich hatte uns das magische Flüstern vorgewarnt. Und doch richteten sich nach und nach die winzigen Härchen auf meinen Armen auf. Was wäre wohl gewesen, hätten Onkel Tamo und Lorca länger gezögert? Oder Reena wäre nie aufgewacht und hätte mich nicht in meiner wirren Aussage unterstützt? Hoffentlich ließen sich unsere frischen Spuren nicht durch das stachelige Dornengebüsch erkennen. Hier, auf dieser winzigen Lichtung, umgeben vom schmerzlich spitzen Stacheln, würden wir komplett in der Falle sitzen. In einer selbsterkorenen Falle.

Das laute Aufschlagen der Hufe wurde nun durch eine unruhige Diskussion abgelöst. Unsere tödlichen Verfolger suchten verzweifelt nach unserer richtigen Fährte. Doch wie es aussah, wollte es ihnen einfach nicht gelingen. Unser Glück. Gereizte Befehle folgten. Es handelte sich eindeutig um aroniesische Soldaten. Wenn ich mich nicht täuschte, dürfte es sogar König Kans Spezialeinheit sein. Tödlicher, als die meisten lichten Kriegereinheiten. Nur war niemand derartig daran gewöhnt, mit den schützenden Schatten in jeder Umgebung zu verschmelzen, als morodekische Bewohner.

Jedes daumenlutschende Kleinkind in Morodek beherrschte das lebensrettende Spiel, sich zu verstecken und eins mit dem Schatten zu werden. Mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Außerhalb von der abgesicherten Hauptstadt der Unterwelt lagen viele unheilvolle Wälder und abgelegene Dörfer, die regelmäßig von verkrüppelten, hungrigen Albträumen aufgesucht werden. Wer es dort überlebt, hat überall eine größere Chance nicht frühzeitig ermordet zu werden.

Ich hatte nicht mitbekommen, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Erst als die verärgerten Stimmen der verfeindeten Soldaten leiser und nur mehr von sanftem Wind zu uns getragen wurden, stieß ich den angehaltenen Atem aus meinen Lungen heraus.

„Gut. Das wäre geschafft. Trotzdem sollten wir uns nicht ewig hier aufhalten. Kümmert euch um die frischen Kratzer, esst etwas und dann brechen wir wieder auf. Ich möchte heute Nacht hinabsteigen. Wenn es weiterhin bewölkt bleibt, können uns weder Sterne noch Mond verraten“, erklang der neue Befehl von Tamo.

Vorfreude regte sich in meiner leeren Magengrube. Zuhause. Endlich wieder ein Ort, wo ich mich wohl fühlen würde. Wo ich nicht hinter jedem krummen Baum einen bewaffneten Feind erwartete, der meiner Familie gefährlich werden könnte. Gespannt lauschten wir den angenehmen Geräuschen des Waldes. Alles schien so friedlich. Selbst die kleinsten Tierchen wagten sich wieder aus ihren Verstecken und reckten ihre schnuppernden Nasen zum dichten Laubdach.

Ich riss mir einen dünnen Fetzen von meinem ausgewaschenen Hemd herunter und gab etwas lauwarmes Wasser aus meinem ledernen Wasserschlauch darauf. Unbeeindruckt reinigte ich die oberflächlichen Kratzer an Armen, Beinen und Gesicht. Meine Schwester war dabei weniger gelassen. Sie zuckte, wie ein an Land liegender Fisch, während sich Onkel Tamo um ihre zarte Haut kümmerte. Aus dem Augenwinkel sah ich wie sich Ellion zusammenreißen musste, nicht zu lachen, während Lorca ihn finster musterte. Da hatte sich wohl jemand zu ihrem persönlichen Beschützer erklärt.

Irgendwie konnte ich mir meinen großen, kriegerischen Bruder nicht mit einer lichten Prinzessin vorstellen. Und nicht nur mit irgendeiner, sondern meiner Drillingsschwester. Doch auch jetzt sah ich weiterhin das wunderschöne Funkeln in seinen wässrig blauen Augen, wenn er Reena ansah, welches mir vor Wochen schon aufgefallen war, wenn er über sie sprach.

Hoffentlich empfand sie dasselbe für ihn. Es würde mir das Herz zerreißen, seine gebrochenen Blicke immerzu zu sehen, falls seine Liebe nicht geteilt werden würde.

Raunen dunkler Seelen

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