Читать книгу Raunen dunkler Seelen - Isabella Kubinger - Страница 9

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4. Kapitel

Malik

Außerhalb von Calor, in einer kleinen, modrigen Hütte saßen wir nun da und wussten nicht so recht, was wir miteinander anfangen sollten. Halvar stand draußen versteckt und hielt Wache. Nur für den Fall, dass Jeb gelogen hatte und sein hinterlistiger Plan eigentlich darin bestand, uns zu verfolgen, um an den versteckten Eingang zu gelangen. Mein Herz wollte davon natürlich nichts hören. Doch die Zweifel fraßen sich einen unerbittlichen Zugang zu meinem ungeschützten Unterbewusstsein.

Nach Stunden des Wartens sah ich kaum mehr einen triftigen Grund, Jebs Hilfe zu misstrauen. Vielleicht war doch etwas von dem gutherzigen Stallburschen, den ich seit Jahren neben meiner Schwester geduldet hatte, übriggeblieben. Oder er hatte sich nie von uns abgewandt und musste dieses ätzende Spiel mit Kiral Theron führen, um uns aus seinen scharfen Fängen zu befreien. Was auch immer es war, es hatte meine wohl verdrängten Gefühle für diesen Verräter nur wieder verstärkt. Wie Fliegen, die um stinkende Scheiße schwirren, kreisten meine Gedanken um den gutaussehenden Krieger aus der Glasscherben Ebene.

‚Ihr seid nur ein Prinz aus einem der Lichten Königreiche, der sich seit Wochen auf der Flucht vor seinem eigenen Land befindet, weil er einen der gefährlichsten Männer unserer Zeit befreit hat. Ihr wisst einen Dreck, was außerhalb eures geliebten Königreiches passiert.‘

Einer der gefährlichsten Männer unserer Zeit? Angestrengt versuchte ich, mich an die langweiligen Geschichtestunden in Onayas zu erinnern. Problem war bloß, dass man dem graubärtigen Gelehrten mit der zutiefst einschläfernden Stimme keine fünf Minuten Aufmerksamkeit schenken konnte. Außerdem kam dann noch dieses nette Detail hinzu, dass man so gut wie gar nichts über dieses verdammte Reich im Norden hinter der eisigen Gipfelebene wusste. Nur ihre röhrenhaften Waffen schienen sich immer ungehindert einen Weg in unsere Königreiche zu verschaffen.

Trockenes Husten riss mich aus meiner erfrorenen Starre. Es kam aus der dunkelsten Ecke. Aus dem trockensten Teil. Corvin schien wieder zu sich gekommen zu sein. Yann und Eleonora sprangen wortwörtlich auf und stürzten sich auf ihren verletzten Anführer. Ich ließ ihnen diese glückliche Zusammenkunft ein Weilchen gewähren, bevor ich mich ebenfalls mit steifen Gliedern aufrappelte und zu ihnen gesellte. Währenddessen wechselten sich Aaron und Halvar wie abgesprochen mit der wachehaltenden Schicht ab.

Nur aus weiter Ferne bekam ich mit, wie sich Halvar den tropfenden Mantel von den straffen Schultern schob und ihn über einem der morschen Holzbalken aufhing. Dann stapfte er mit schniefender Nase zu unserem wenigen Gepäck und durchforstete unsere magere Ausbeute an Essbarem. Ich sah sein enttäuschtes Gesicht wie aus magischer Hand vor meinem inneren Auge aufblitzen. Doch selbst das wollte mir kein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Vorsichtig schob ich mich an Yann vorbei, der mit zusammengebissenen Lippen und verschränkten Armen vor Corvins provisorischem Bett stand. Eleonora kniete hingegen neben ihrem verletzten Anführer und redete energisch auf diesen ein. Bloß handelte es sich dabei um eine fremde Sprache, die zu verstehen und zu übersetzen nicht zu meinen Talenten zählte. Traurigerweise erkannte ich doch die rhythmische Melodie dieser Worte wieder. Dieser verrückte Wanderer. Mutter. Ragnar. Alle dreien hatte ich so ähnliche Worte schon einmal aussprechen vernommen. Das konnte kein Zufall sein. Zumindest konnte ich nun mit Sicherheit sagen, dass dieser morodekische Krieger mich zu meiner verlorenen Schwester führen konnte.

„Wie geht es dir? Können wir bei Tageseinbruch aufbrechen?“ Eisige Miene. Keine Regung. Nur in Corvins funkelnden Augen war etwas ähnliches wie Überraschung zu erkennen. Das ließ er sich jedoch nicht anmerken.

„Mach dir keine Sorgen um mich. Wichtiger ist es, hier so schnell wie möglich zu verschwinden. Kiral Theron wird alles andere als erfreut sein darüber, seine königliche Hoheit verloren zu haben. Er wird ganz Calor auf den Kopf stellen, wenn es sein muss. Bald wird hier die Hölle los sein und glaube mir, dass willst du nicht miterleben.“ Sehr ernüchternd. Corvin schien es zu lieben, sein Gegenüber so zu behandeln, dass man sich wie das letzte Häufchen Dreck fühlte. Nur war mir auch klar, dass dieser morodekische Krieger doch um einiges mehr an Erfahrung besaß, wenn es um dieses fremde Land ging. Da würde ich ihn wohl einfach erdulden müssen.

„Gut. Dann ruhe dich noch etwas aus. Der Rest von uns trifft die letzten Vorbereitungen. Ich habe die Nase schön langsam voll von diesem nördlichen Volk.“ Auch ohne Yann anzusehen, wusste ich, dass er nicht wirklich begeistert war, weitere Befehle von mir entgegenzunehmen. Das würde sicher noch das eine oder andere Mal zu viel Spaß führen.

Halvar hatte sich währenddessen über einen roten Apfel hergemacht und wenn es mich nicht recht täuschte, lugten aus seiner zerlöcherten Hosentasche noch ein paar Stückchen Käse hervor. Grinsend setzte ich mich neben meinen alten Freund und stibitzte mir eines dieser versteckten Käsestücke und biss genüsslich ab. Überrascht fiel ihm das Kinn hinunter und er starrte mich komplett überfordert an.

„Mund zu, es zieht.“ Amüsiert beobachte ich ihn, wie er um seine verlorene Fassung rang. Einige Momente später blinzelte Halvar und klappte seine Kiefer wieder zusammen. Ihm fehlten die Worte für eine freche Entgegnung. „Hat dir die frostige Kälte ein paar Zelle weggefroren, oder genießt du einfach mal den Part des Zuhörers?“ Neckend rammte ich ihm meinen spitzen Ellbogen in die Seite. Wie ein gehetztes Kaninchen rückte er etwas zur Seite und funkelte mich trotzig an. Da war er wieder.

„Das hättest du wohl gerne. Ich bin nur so nett, deine Gefühle nicht zu verletzen. Wir wollen doch nicht, dass unser stolzes Prinzchen vor dem großen Anführer der morodekischen Krieger und unseren ach so selbstlosen Rettern wie ein kleines Mädchen zu Heulen anfängt. Das hätte dann zusätzlich auch für mich einige Nachteile, da ich wahrscheinlich dessen schlechte Laune abfangen müsste. Darauf kann ich verzichten, daher widerstehe ich meinem inneren Drang, dich so zu behandeln, wie dein Handeln es eigentlich von mir verlangen würde.“ Halvar legte so viel Ernst in seine übertrieben falsche Aussage, dass ich beinahe vergaß, zu antworten. Nun war es an ihm, darauf zu warten, bis ich mir eine passende Antwort zurechtgelegt hatte. Zu meinem Glück gehörten derartige Wortgefechte zu unseren alltäglichen Konversationen.

Ich könnte mir unsere langen Ausbildungsjahre überhaupt nicht ohne derartige spaßige Diskussionen und Beleidigungen vorstellen. Sie hatten selbst die anstrengendsten Übungen, kältesten Wachdienste, blutigsten Gefechte und schmerzhaftesten Verletzungen aushaltbar gemacht. Dieses Mal hatten wir Glück im Unglück. Die einzigen Gefallenen in den schmalen Gassen Calors waren Corvins Männer gewesen. Die Morodeker hatten Leute verloren, weil sie mich, Kronprinz Malik Laro Beauvul vom Lichten Königreich Katalynia, retten wollten. Jemanden, den sie weder kannten noch etwas schuldig waren. Ob sie sich wohl nahegestanden hatten? Ich wollte es nicht wissen, wenn ich ehrlich war. Mein schlechtes Gewissen würde sich auch ohne nähere Informationen zu den individuellen Persönlichkeiten im hinteren Teil meines Kopfes melden.

„Ich zeige dir gleich, was es heißt, einem Kronprinzen so wenig Respekt zu zeigen.“ Flink stibitzte ich mir ein weiteres Stück Käse und schluckte die grausigen Gedanken an unsere blutige Flucht hinunter. Schlechtes Gewissen hatte definitiv einen üblen Nachgeschmack. Nur gut, dass dieser würzige Ziegenkäse alle meine sensiblen Geschmacksnerven in Anspruch nahm.

„Bald sind wir in ihrem versteckten Land und wenn alles gut geht, werden wir dort auf Reena und Ragnar treffen“, sagte ich mehr zu mir selbst. Doch auch Halvar schien darüber nachgedacht zu haben. Schließlich war Ragnar jahrelang an unserer Seite gewesen. Er war zwar der ruhigere Soldat gewesen, jedoch deswegen nicht weniger ein treuer Freund. Selbst meine geliebte Schwester hatte einige schöne Tage mit Halvar verbracht. Natürlich nur freundschaftlich, soweit ich weiß. Wenn ich ehrlich war, wollte ich mir alles andere nicht mal annäherungsweise vorstellen. Besagter Deal untersagte jegliche körperlichen Annäherungsversuche zwischen Reena und meinen besten Freunden. Dafür gab es keine Ausnahmetage oder derartiges.

„Wenn alles gut geht, sehen wir uns alle bald wieder gesund und unverletzt.“ Halvar selbst schien in schönen Erinnerungen zu schwelgen. Weit entfernt von dieser kalten Hütte. Weit entfernt von den unendlichen Gefahren. Zu Hause. Ich vermisste diesen Ort. Obwohl, wenn ich ehrlich war, würde selbst nach meiner Rückkehr nach Katalynia nichts mehr so sein, wie zuvor. In meiner einstigen Heimat galt ich nun als gesuchter Verräter. Niemand würde mich mehr herzlich empfangen. Onayas. Die Hochkönigsburg. Nichts davon wäre mehr Zuhause. Sobald ich Reena wieder in meinen Armen halten könnte, würde ich einen neuen sicheren Ort für uns beide finden, den wir uns mit unseren Freunden teilen werden. Ein neuer Ort. Ein neuer Anfang.

***

Jedes Mal Ausatmen bildeten sich weiße Wölkchen vor meinem Gesicht. Die frische Nachtluft roch frostig und deutlich nach Schnee. Ich musste kein Genie sein, um zu wissen, dass es bald bis ins Tal herabschneien würde. Um mich herum erwachten langsam auch schüchterne Waldtiere und genossen die ersten orangen Sonnenstrahlen. Viel Wärme schenkten sie nicht mehr. Dafür war der Herbst bereits zu weit fortgeschritten. Kristallener Frost hatte verfärbte, herabgefallene Blätter und die weichen Grashalme mit seinem hellen Weiß überzogen und verriet nun jede Bewegung mit klarem Kacken. Bis zur Mittagszeit würde dieses verräterische Eis auch verschwunden sein. Für ausgebildete Spurenleser zwar kein Problem, aber dennoch fühlte ich mich wohler mit dem Wissen, dass unsere Fußspuren nicht für jede Menschenseele sichtbar waren.

„Ein Lichter Prinz hält die nächtliche Wachschicht und das bei diesen frostigen Temperaturen? Vielleicht habe ich dich doch etwas unterschätzt. Mir scheint, als wärst du ganz in Ordnung.“ Mit noch etwas steifen Bewegungen lehnte Corvin sich neben mir an die weiche Holzwand und sah den sich verfärbenden Himmel mit sehnsüchtigem Blick an. Ein Kompliment so früh am Morgen, aus dem Mund eines morodekischen Kriegers. Unerwartet.

„Ich bin immer für Überraschungen da.“ Was? Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Um Himmels Willen. Flirtete ich gerade mit Corvin. Es wäre eine strafbare Lüge, ihn nicht als attraktiv zu bezeichnen, aber dennoch fühlte ich mich nicht auf die notwendige Art und Weise zu ihm hingezogen, welche nötig wäre, um in den Flirtmodus zu schalten. Hoffentlich hatte er meine Aussage nicht genauso falsch gedeutet. Vorsichtig spähte ich zu ihm, doch Corvin schien nur mit einem Ohr bei mir zu sein. Der Rest seiner Seele schwebte weit weg zwischen winterlichem Sonnenaufgang und frostiger Nacht.

„Es ist schon lange an der Zeit, mich bei dir zu bedanken.“ Bedanken? Wofür? Ich war der Grund, warum einige seiner Leute am gestrigen Tag ihr Leben hatten lassen müssen. Wegen mir und meinen beiden besten Freunden hatten sie ihre sterblichen Seelen riskiert, um uns aus unserem luxuriösen Gefängnis zu befreien. Vielleicht hatten sie durch diese Aktion auch einen starken Verbündeten oder angenehmen Handelspartner verloren. Ich traute diesen Unterweltlern einen Handelsbund mit dem tödlichen Norden mehr als nur ein klitzekleines bisschen zu.

„Ich verstehe nicht ganz.“ Als hätte ich ihn geschlagen, drehte er sich mir unerwartet schnell zu. Nun hatte ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Irgendetwas an diesem Krieger war merkwürdig. Ich fühlte mich unter seinem undurchdringlichen Blick, als wäre ich ein offenes Buch. Unsicher wartete ich auf seine Antwort. Jedoch erwartete ich viel mehr, dass er mich einfach kopfschüttelnd hier draußen allein stehen lassen würde. Ja, das würde perfekt zu diesem schattenhaften Soldaten passen.

„Erstaunlich.“ Interessiert musterte er mich. Kein Fünkchen Arroganz oder triefender Hass. Nur pure Neugier. „Ich will mich dafür bedanken, dass du mich nicht einfach verblutend in der Gasse liegengelassen hast. Du hast mich, ohne zu überlegen, mitgeschleppt, obwohl das deine Chancen auf Freiheit derartig verschlechtert hatte. Es passiert nicht oft, dass einem ein Fremder, ohne mit der Wimper zu zucken, das Leben rettet, besonders nicht in einer derartigen Situation. Menschen sind egoistisch und denken meist an sich selbst. Ich wollte dich das nur wissen lassen.“ Ohne auf meine Reaktion zu warten, wandte er sich ab und marschierte um die Ecke in die warme Hütte zurück. Das war alles. Corvin erwartete nicht mal ein ‚Gern geschehen‘ von mir.

Nach einigen tiefen Atemzügen zwang auch ich mich, Corvin nach innen zu folgen. Dorthin, wo Verantwortung und Realität lauerten. Das magische Bild von heute Morgen mit den glitzernden Frostkristallen und dem blutrot verfärbten Himmel würde damit vollends zunichte gemacht werden. Was soll‘s? Ohne mir ein klitzekleines Zögern zu erlauben, trat ich durch die morsche Holztür und stand dem ausgerüsteten Trupp gegenüber. Sowohl meine Leute als auch die morodekischen Krieger waren mit den wenigen Waffen, die wir besaßen, ausgerüstet und in dicke Schichten von zerfetzten Vorhängen und stinkenden Bettlaken gewickelt. Unauffällig würde ich unsere Aufmachung zwar nicht bezeichnen, aber besser als zu erfrieren war es alle Mal. Schließlich würden wir bis in die von unerbittlichen Schneestürmen eroberte Gipfelebene vordringen müssen, um an den versteckten Eingang zu gelangen.

„So, da wir nun alle bereit sind, können wir ja los.“ Wenig begeistert klatschte Corvin mit seinen in dicken Handschuhen steckenden Händen zusammen und nahm somit die ungeteilte Führung an sich. Nun hieß es wieder nach seiner Pfeife zu tanzen, was einerseits einen bitteren Geschmack hinterließ, andererseits auch logisch erklärbar war. Schließlich hatte ich keinen Dunst, wie wir uns von diesem heruntergekommenen Ort zum richtigen Teil der Gipfelebene bewegen sollten.

Schweigend wanderten wir nun durch die kahlen Wälder. Alles wirkte so anders als noch vor ein paar Tagen. Bei unserer Ankunft hatte die gesamte Glasscherben Ebene gewirkt als würde hier warmer Hochsommer vorherrschen. Hingegen schien nun der Winter mit seinen eisigen Zähnen verbissen angenehme Temperaturen fernzuhalten. Frostiger Wind blies uns um die bereits eingefrorenen Ohren und es roch mehr als deutlich nach frischem Schnee. Frustriert seufzend wandte ich mich um und sah meinem besten Freund in die Augen.

Aaron stapft lustlos, wie ein störrisches Kind hinter mir her und fluchte unüberhörbar über jede erdenkliche Sache. Von kratziger Kleidung bis hin zu seinem mageren Frühstück und dass er bis zu unserer Ankunft bereits an Hunger verstorben sein würde. Gut zu wissen, dass selbst eine solch ausweglose Situation seinem unbändigen Drang zu reden keinen Einhalt gebieten konnte. Zumindest etwas, das diesem eintönigen Marsch mehr Abwechslung einbrachte.

Hinter ihm hingegen, schien Halvar unser teilweise nerviges Plappermaul bereits zu den Göttern schicken zu wollen. Mit finsterer Miene hielt er gerade so weit wie möglich Abstand, um nicht jedes einzelne Wort zu verstehen, aber dennoch nicht zu weit, um den Anschluss zu verlieren.

Es war beinahe schon wie in alten Zeiten. Außer, dass wir uns in einer weitaus schlechteren Ausgangslage befanden und der raffinierte, schweigsame Ragnar fehlte. Seit meinem zwölften Geburtstag und der lebensverändernden Einführung in die grausame Kriegskunst waren wir vier, Aaron, Halvar, Ragnar und ich, unzertrennbar gewesen. Kommunikation war überbewertet. Unser Team war derartig zusammengeschweißt, dass wir uns prachtvoll ergänzten und zu einer beinahe unschlagbaren Größe entwickelt hatten. Auch wenn mich Ragnar jahrelang belogen hatte, war er mir nie in den Rücken gefallen oder dergleichen. Allein deshalb war ich schon froh, ihn an der Seite meiner Schwester zu wissen.

Bald. Schon sehr bald werde ich sie wiedersehen. Alle beide.

***

Gefühlt waren wir der schneebedeckten Gipfelebene kein Stückchen näher gekommen. Schritt für Schritt fielen mir meine schweren Augenlider immer öfter zu und ließen sich kaum mehr öffnen, geschweige denn offen halten. Zu blöd, dass uns Kiral Theron vermutlich bereits dicht auf den Fersen war und wir uns kein Verschnaufpäuschen erlauben konnten. Warum konnten wir nicht einfach einem armen Bauern über den Weg laufen, dem wir ein paar gesunde Pferde abkaufen könnten? Dieses verdammte Herumstreifen in der zugefrorenen Einöde war nicht nur äußerst kräftezehrend, sondern einfach auch viel zu langweilig. Nicht einmal ein hageres Eichhörnchen war uns über den Weg gelaufen. Wie mir schien, mied jedes denkende Lebewesen diese karge Gegend. Ich meine, recht einladend wirkte es hier auch nicht wirklich auf mich.

Keine Sträucher oder anderen kleinen Gewächse. Nur steiniger Boden und wild wachsende, schiefe Bäume. Keine Chance für eine lebensnotwendige Deckung. Es ähnelte mehr einer toten Schlucht, in der es nur so vor schattenhaften Dämonen wimmelte. Zumindest hatte ich mir immer exakt einen solchen Landstrich bei den gruseligen Geschichten der graubärtigen Wanderer vorgestellt.

Man musste es den gebrechlichen Heimatlosen schon lassen, sie hatten ein wahrliches Talent für detailreiche Erzählungen. Bis in meine schlaflosen Nächte hatten die scharfen, spitzen Reißzähne und krummen Krallen aus den Geschichten mich begleitet. Eingewickelt in eine dicke Decke, lag ich stundelang zitternd eingerollt und wach in meinem riesigen Bett und hatte unheimliche Geräusche vernommen, die mir nur mein fantasierender Verstand vorspielen hatte können.

Ziemlich erstaunlich, was menschliche Gefühle und Instinkte mit dem sterblichen Körper anstellen können. Adrenalin. Superkräfte. Angst und Panik. Horrorfiguren. Herzrasen. Schweißausbrüche. Explodierende Gedanken. Elfen. Kobolde. Fliegende Schweinchen. Schwimmende Elche mit Flossen. Wenn man älter wird, lernt man mit den kindlichen Vorstellungen umzugehen und doch können einem nach Jahren von gewalttätigen Ereignissen noch so die ein oder andere Erfahrung bis tief unter die Haut kriechen und einem den sehnsüchtig erwarteten Schlaf rauben.

Selbst Langeweile hatte interessante Effekte auf das individuelle Tun. Wäre ich nun mit etwas anderem beschäftigt, als in der eisigen Kälter im Nirgendwo herumzuspazieren, würde ich wohl kaum über derartig philosophische Thesen spekulieren. Oder besser gesagt, normalerweise tendierte ich eher weniger zu wilden Spekulationen zur längst zurückliegenden Vergangenheit.

Er hat euch verraten. Er lügt. Er wird euer Verderben sein. Geht, bevor es zu spät ist.

Ein eisiger Schauer lief mir den angespannten Rücken hinunter und hinterließ eine Spur unangenehmer Vorahnung. Corvin. Es konnte nicht anders sein. Wer sonst hätte die nötigen Mittel, mich schnellstmöglich loszuwerden? Nur warum die ganzen Umstände? Wir waren eingesperrt gewesen. Leichteres Spiel hätte er nicht haben können.

Halt. Warte mal. Woher kam dieses verdammte Flüstern? Hier war weit und breit keine andere Frau außer Eleonora und die marschierte fröstelnd neben Corvin her. Das konnte nur heißen, diese beherrschende Stimme kam aus meinem Kopf. War ich gerade drauf und dran verrückt zu werden? Fantasierte ich? Etwas zu voreilig kniff ich mir fest in den linken Unterarm. Autsch. Definitiv bei vollem Bewusstsein. Kein Traum.

Doch das ungute Gefühl, dass in jeder Sekunde, die vergeht, das schreckliche Etwas näherkam, verließ mich nicht. Nein, es verstärkte sich bloß und sperrte jeden einzelnen Gedanken an etwas Angenehmeres aus. Jeder Nerv in meinem Körper begann zu knistern, so wie es immer war, kurz bevor ich jemanden in meiner nahen Umgebung anfing zu grillen. Schlechter Zeitpunkt. Ganz, ganz schlechter Zeitpunkt.

Verkrampft biss ich meine Kiefer so fest aufeinander, dass ich schon befürchtete, ich könnte mir die Zähne zersplittern oder gar in meine Kieferknochen pressen. Der Druck auf meiner Brust wuchs an einen Punkt heran, wo sich mir kleine schwarze Pünktchen vor den zusammengekniffenen Augen zusammenfügten. Als wären Seele und Körper getrennt, fühlte ich aus weiter Entfernung wie sich meine zittrigen Beine weiterhin fortbewegten. Nur alles drum herum schien nicht mehr zu funktionieren. Abgekapselt. Stummer Beobachter meiner selbst. Na wunderbar. Konnte mir gerade nichts Besseres vorstellen. Mysteriöse Frauenstimmen im Kopf und totaler Kontrollverlust über das eigene Fleisch und Blut.

Schlagartig veränderten sich meine übersensiblen Empfindungen. Ruhe kehrte in meine pumpenden Adern zurück, mein rasender Herzschlag verlangsamte sich. Wie eine zur Ewigkeit verdammte Seele flog ich neben meinem menschlichen Körper her. Farben schienen zu explodieren. Von Violett zu Schweinchenrosa bis hin zu Smaragdgrün und Sandsteingelb war alles vorzufinden. Glitzernde Sterne jagten einander, als würden sie von etwas angezogen und gleichzeitig abgestoßen werden.

Das Merkwürdigste und doch Faszinierendste zugleich waren jedoch die seidenfadenartigen Verknüpfungen in den lebenden Körpern. Ob von winzigen Kriechtierchen oder meinen menschlichen Begleitern tat nichts zur Sache. Es waren wunderschöne Netze aus geladener Energie und zu jedem einzelnen schien ich eine ganz spezielle Verbindung zu fühlen. Als hätte ich unbegrenzten Zugriff auf all diese fremde Energie, auf alles Leben.

Was, wenn das wirklich der Wahrheit entsprach? Was, wenn ich wirklich so einfach auf die lebensnotwendige Kraft anderer zugreifen könnte? Das würde heißen, ich könnte wertvolles Leben mit einem gefahrlosen Fingerschnipser auslöschen. Ein einziger Gedanke. So viel Macht in nur einer einzigen Person. ‚Magie ruht in jedem von uns, doch nur wenige verstehen sie aus ihrem tiefen Winterschlaf zu erwecken und zu einem Teil von sich selbst zu machen. Verschließt eure großen Herzen nie vor Dingen, nur weil ihr sie nicht versteht. Nicht alles lässt sich durch die von uns benutzten Worte erklären. Manchmal müssen wir die Magie in uns einfach zulassen.‘ Mutters Worte schossen mir durch den Kopf. Hatte sie davon gewusst? Nur wie, wenn ich selbst nicht mal einen Funken Ahnung hatte? Aber vielleicht lag das auch schlichtweg daran, dass ich mir einen solch absurden Gedanken nicht erlaubt hätte. Leider schien das Ganze hier doch nicht mehr so abstrus zu sein. Hätte ich doch bloß schon vorher besser in mich hineingehört oder einfach meiner Schwester geglaubt. Ob Reena die gleichen Fähigkeiten oder ähnliche besaß? Ich hatte sie all die Jahre für kindlich und naiv gehalten, wenn sie über magische Stimmen und außergewöhnliche Fähigkeiten sprach. Doch nun sah es so aus, als wäre ich hier der Idiot von uns beiden. Meine Ungläubigkeit allein hatte mich nun in diese unpraktische Situation gebracht. Körperlos herumschwebend hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich wieder zurück in meinen weiterhin geradeauslaufenden Körper schlüpfen könnte. Schließlich handelte es sich hierbei nicht um eine zu eng geschnittene Reithose, in die man sich hineinzuquetschen versuchte. Nein. Das hier war eine ganz andere Liga.

Vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, ist wieder alles ganz normal, wenn ich nur ganz kurz meine Augen schließe. Da diese unkreative Idee das Einzige war, was mir gerade einzufallen schien, kniff ich meine Geisteraugen fest zusammen, zählte bis siebzehn und riss sie mit vor Hoffnung schneller schlagendem Herzen wieder auf. Fehlschlag. Nichts hatte sich geändert. Doch irgendwie musste ich doch wieder zurückgelangen.

Plötzlich bemerkte ich eine unnatürliche Bewegung einige Schritte vor Corvin und Eleonora. Ein braunes fellartiges Etwas, das sich ganz und gar nicht wie ein wildes Tier verhielt. Es sah mehr nach einer bewusst versteckten Haltung aus. Hastig sah ich mich um. Hinter mehreren dicken Baumstämmen fielen mir nun diese bärenfellartigen Häufchen auf, die sich von Zeit zu Zeit bewegten. Das konnte nur eines bedeuten: Wir liefen geradewegs in die Fänge unserer Feinde und das Schlimme daran war, meine frierenden Begleiter hatten keine Ahnung, in was sie da gerade hineinstampften.

Ich musste sie warnen. Doch nur wie? Als körperloser Geist schienen mir die Optionen nicht wirklich so um die Nase zu fliegen. Keiner vernahm meine kreischende Stimme. Niemand schien meine kontaktlosen Berührungen zu spüren. Ich flog einfach durch jeden Gegenstand hindurch, als wären diese bloß einfache Halluzinationen. Na super. Ganz, ganz toll. Was für ein überaus gewinnbringender Prinz ich doch war. Nicht einmal meine Freunde konnte ich beschützen.

Angestrengt versuchte ich, meinen schmerzenden Kopf dazu zu bringen, eine schnelle, effektive Lösung zu finden. Nichts. Schwarz. Weiß. Kann man nennen, wie man will. Buntes, flirrendes Chaos. Ein nie enden wollender Wasserfall aus Feuer und Asche zugleich. Es war, als hätte jemand alle meine wertvollen Erinnerungen, Strategien und Ideen gelöscht. Fast schon verzweifelt, hielt ich mich an meinem eigenen Körper fest. Versuchte, mich selbst zu erreichen, doch wie sollte das funktionieren, wenn eben genau der denkende Teil meines Ichs mit meiner geisterhaften Seele in der frischen Luft herumschwebte? Was für ein Dilemma. Ich starrte mich selbst an, wie ich hirnlos einen Fuß vor den anderen setzte und mich nicht von meinem unsichtbaren Ich abbringen ließ. Als wäre ich ein außenstehender Beobachter. Gefoltert durch den Anblick meines Todesmarsches.

Plötzlich verspürte ich einen unangenehmen Sog. Als würde ich Stück für Stück zurück in meinen Körper hineingedrückt werden. Schneller. Ich musste so schnell wie möglich wieder ich selbst sein. Jede Sekunde zählte. Nur schien das weder meinem menschlichen Körper noch meiner sterblichen Seele etwas auszumachen. Sie ließen sich alle Zeit der Welt. Verwoben sich gemächlich, als würden wir an einem sonnigen Sommertag am Meer liegen und ein schmackhaftes Picknick genießen. Als wären wir auf irgendeiner Insel und hätten keine lebensverändernden Verpflichtungen, denen man sich stellen musste.

Dann wurde alles schlagartig schwarz. Schwindel überfiel mich und ich stolperte hilflos über meine eigenen Beine, die bis zu den Knien im matschigen Schnee steckten. Ungeschickt fing ich mich mit den ausgestreckten Armen auf und griff in den kalten, nassen Schnee. Hätte schlimmer kommen können. Hinter mir erklangen belustigtes Auflachen und idiotische Kommentare von meinen beiden Freunden. Natürlich war ihnen nichts entgangen und wenn ich ehrlich war, würde ich auch mit ihnen mitlachen, wenn wir nicht gerade alle gemeinsam in unseren Tod marschieren würden.

„Halt! Stehen bleiben!“, schrie ich wie ein Verrückter. Eilig rappelte ich mich auf, nur um geradewegs in die verdutzten Gesichter der morodekischen Krieger zu starren. Schnee fiel in kleinen Klumpen aus meinen längeren Haarsträhnen und ließ mich nicht wirklich wie ein ernstzunehmender Soldat aussehen. Im Gegenteil, ich schien mehr einem obdachlosen Schneemann gleichen, dem etwas Zuneigung nicht schaden würde.

„Was ist los? Wird es unserem verwöhnten Prinzchen zu anstrengend?“, erklang Yanns vor Verachtung triefende Stimme zu mir herüber. In seinen wild funkelnden Augen lag eine gewisse Angriffslustigkeit, die mir den Magen umdrehte. In ihm hatte ich definitiv keinen Freund gefunden. Doch irgendetwas anderes glänzte ebenfalls kurz auf. Dieses Etwas war jedoch wieder so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Daher konnte ich auch nicht sagen, ob es etwas zu bedeuten hatte.

„Yann, behalte deine Kommentare für dich.“ Genervt rollte der morodekische Anführer seine Augen und wandte sich nun ganz mir zu. „Was hat dich veranlasst, uns zum Stehenbleiben zu bringen?“ Man sah ihm an, dass er trotz der eisigen Maske starke Schmerzen erlitt, die durch seine Schusswunde verursacht wurden. Wahrscheinlich hatte sich die Wunde mittlerweile sogar entzündet. Halvar sollte bei der nächstbesten Möglichkeit mal danach sehen.

Fieberhaft überlegte ich, wie ich ihnen nun diese verzwickte Situation erklären sollte, nur fiel mir einfach keine passende Beschreibung dafür ein. Niemand würde nachvollziehen können, wie es war, elektrische Impulse anderer lebenden Wesen zu verspüren. Oder als körperloser Geist mit dem Wind zu ziehen. Wäre ich in deren Haut, würde ich mir kein Wort glauben.

Ohne einer Vorwarnung veränderte sich Yanns Haltung schlagartig. Alles geschah gleichzeitig. Er riss sich die dicken Schichten Stofffetzen vom Leib und zückte zwei spitze Dolche, welche er nur einen Wimpernschlag später durch die Luft wirbelte. Eine scharfe Klinge bahnte sich geradewegs ihren Weg auf meine Brust zu, während die andere Waffe geradewegs auf Corvin zuraste. Ich wusste nicht, wie mir geschah, lag ich auch schon wieder mit dem Gesicht im kalten Weiß. Über mir spürte ich das massive Gewicht einer weiteren Person. Jemand hatte sich gegen mich geworfen. Sich vor mich geschmissen.

Stöhnend rollte sich dieser Jemand von meinem Rücken und ließ sich ebenfalls in den Schnee neben mich gleiten. Währenddessen erklangen weitere frustrierte Ausrufe und unverständliche Befehle. Yann rief seine Leute. Corvin hatte sich nie gegen uns gewendet. Die schwerwiegende Erkenntnis fraß sich schmerzhaft in meinen pochenden Kopf. Es war von Anfang an der schlechtgelaunte morodekische Soldat gewesen. Ich hätte es wissen müssen oder zumindest erahnen.

„Kommt. Steht auf. Wir müssen hier weg“, erklang Halvars panische Stimme. Ohne auf eine Antwort zu warten, griff er mir unter die Arme und zog mich auf die Beine zurück. Etwas überfordert, schüttelte ich erneut weiße Schneeklumpen von meinen fransigen Kleidungsfetzen. Auch Aaron, welcher sich, ganz wie es aussah, auf mich geworfen hatte, wurde ebenfalls aufgezogen. Nur im Gegensatz zu mir fluchte dieser unter zusammengebissenen Zähnen. Besorgt scannte ich seinen Körper nach der geworfenen Klinge ab. Tatsächlich ragte sie aus seinem linken Schulterblatt heraus und färbte bereits den verwaschenen Stoff dunkelrot.

„Tut mir leid, die muss raus.“ Keine zwei Schritte und ich stand hinter ihm. Je schneller, desto besser. Sauber schnell zog ich den silbernen Dolch aus seinem Fleisch, was meinen besten Freund nur noch mehr zum Fluchen und Toben brachte. Halvar hingegen riss sich ein Stück Stoff von seinem weichen Umhang und band es Aaron um die Schulter. „Das müsste vorerst reichen“, murmelte Halvar.

Behutsam legte ich mir seinen unbeschadeten Arm um meine Schulter und zog Aaron mit mir. Hinter uns ertönte lautes Kriegsgeschrei. Doch da wir dank mir angehalten hatten, bestand weiterhin ein nennenswerter Vorsprung. Zumindest mit etwas Glück. Jedoch stellte sich fluchtartiges Laufen bei diesen schweren Schneemassen als eine anstrengende Herausforderung heraus. Auch unseren bewaffneten Feinden schien es nicht besser zu ergehen. Ein kurzer Blick über die Schulter reichte, um mir zu bestätigen, dass Yann vor Wut schäumend versuchte, uns einzuholen. Keine Chance. Egal wie sehr er uns mit seinem brennenden Blick töten wollte, seine metallischen Klingen würden die Distanz zwischen uns nicht überbrücken können.

Befehle um Befehle erklangen, nur erreichte uns kein einziger der bewaffneten Männer. Ich spürte meine verkrampften Muskeln protestieren, doch ich ließ nicht locker. Nicht jetzt. Zu dritt stapften wir uns unseren Weg in Sicherheit. Es dauerte Stunden, bis unsere Verfolger aufgaben, und uns ziehen ließen. Wahrscheinlich machte es auch einfach keinen Sinn, uns weiter zu verfolgen, da wir geradewegs auf ein gewaltiges Wintersturmgebiet zuliefen. Unsere Überlebenschancen waren damit drastisch gesunken und es war dennoch die einzige Möglichkeit gewesen. Was mit Corvin und Eleonora geschehen war, konnte ich nicht sagen. Mir war erst viel zu spät aufgefallen, dass sich keiner von beiden an unserer Seite befand. Ich konnte nur hoffen, dass sie noch lebten, obwohl mir das bei Erinnerung an Yanns vom Wahnsinn zerfressener Fratze als eher unwahrscheinlich erschien.

Raunen dunkler Seelen

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