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Charlie Zimmermann fühlte sich fehl am Platz. Die abgerundete, unstimmige Architektur der Häuser um sie herum war anders als alles, was sie jemals zuvor gesehen hatte. Bei genauerer Betrachtung wurde ihr klar, dass die seltsamen Gebäude aus Gummireifen, Plastikflaschen und anderem Recycling-Müll bestanden. Die langsam steigende Sonne spiegelte sich auf den Dächern der futuristischen Steinzeithöhlen, die teilweise mit Solarzellen bedeckt waren, und vermittelte eine friedliche Atmosphäre, die nur durch das rege Treiben auf dem Versammlungsplatz in der Mitte der Siedlung gestört wurde, den sie und ihre beste Freundin Folami nun erreichten. Charlie fragte sich kurz, ob sie sich auf das Set eines Fantasy-Filmes verirrt hatten, doch Folamis Armbanduhr belehrte sie eines Besseren: genau hier sollten sie sein.

Charlie und Folami waren Gleichberechtigungsbeauftragte – ihre Aufgabe war es, die Einhaltung der europäischen Gleichberechtigungsgesetzte zu überwachen und die Geschlechtergerechtigkeit vor maskulinistischen Angriffen zu verteidigen. Die Gemeinde, die sie an diesem Tag überprüfen sollten, war vor einigen Monaten von einer alternativen Gruppierung ausgerufen worden und hatte in ganz Europa für Schlagzeilen gesorgt. Kritikerinnen warfen den Frauen allerlei Normbrüche vor, waschechte Gesetzesverstöße hatte es bisher jedoch keine gegeben.

Charlie hatte sich lange auf diesen Besuch vorbereitet, doch in diesem Augenblick fühlte sie sich genauso unwohl wie bei ihrem ersten Einsatz vor mehr als sechs Jahren. Die anderen Frauen auf dem Versammlungsplatz trugen wilde Frisuren und altmodische Kleidung in lauten Farben, wodurch sie und Folami mit ihren dunklen Hosenanzügen und den gebändigten Haaren allen Anwesenden sofort auffielen.

Während die Beamtinnen auf eine Frau mittleren Alters mit einem langen, geflochtenen Zopf warteten, die ihnen bereits entgegenkam, fiel Charlie ein etwa sechsjähriges Mädchen am Rande des Versammlungsplatzes auf. Die eigentümlichen Gesichtszüge des Kindes hoben es in bemerkenswerter Weise von den anderen Mädchen in der Gemeinde ab. Während die Erwachsene, die es an der Hand hatte, in ein Gespräch verwickelt war, beobachtete es die zwei fremden Besucherinnen aufmerksam. Seine halblangen, braunen Haare fielen ihm unordentlich ins Gesicht, doch seine großen, blauen Augen stachen unverkennbar hindurch. Bevor Charlie etwas zu Folami sagen konnte, stellte sich die elegant gekleidete Frau mit dem Zopf mit einer schwachen Verbeugung als Koordinatorin der Kommune vor.

„Mein Name ist Aletheia. Ihr seid bestimmt die Damen von der Zeitung?“ Die Damen von der Behörde nickten. „Herzlich willkommen bei der Kirche der Wahrheit – bitte folgt mir.“

Aletheia führte die beiden über den Platz, vorbei an den Gemeindemitgliedern, die den Frauen mitunter neugierig hinterhersahen. Charlie drehte sich nach dem auffälligen Mädchen um, doch es war inzwischen verschwunden.

„Dieses Erdschiff hier könnte man als unser Rathaus bezeichnen“, sagte die Koordinatorin, indem sie auf das größte der eigenartigen Gebäude deutete.

„Erdschiff?“, wunderte sich Charlie.

„Oh ja, so heißen diese vielleicht seltsam anmutenden Häuser, die den Lebensraum für unsere Gemeindemitglieder darstellen. Erdschiffe sind selbstgebaute und völlig autarke Wohngebäude, die sich optisch in die Landschaft einfügen. Aus recyceltem Material, mit einer CO2-Bilanz von null, keinerlei Belastung für die Umwelt. Die Kirche der Wahrheit ist darauf bedacht, unserem Planeten nicht mehr zu schaden als es unsere Vorfahren bereits getan haben.“

„Die Männerwelt war so unglaublich rücksichtslos!“, bekräftigte Folami.

„Oh nein, meine Liebe. Das waren wir alle“, gab Aletheia zurück. Die Besucherinnen warfen sich einen verwunderten Blick zu, der das beiderseitige Einverständnis ausdrückte, diesen Kommentar später im Privaten zu besprechen.

Charlie und Folami folgten der Koordinatorin in den größten Raum des Hauptgebäudes, in dem rund 50 Stühle um ein Podest in der Mitte gereiht standen. Sie bot ihren Gästen zwei der Sitze an und nahm selbst gegenüber von ihnen Platz.

„Das hier ist unser Diskursraum“, sagte die Koordinatorin mit einer ausholenden Geste, „in dem wir alle Entscheidungen für die Gemeinde treffen.“

„Sehr schön hier“, meinte Folami.

Charlie kam direkt zur Sache: „Wir hatten uns überlegt, dass ich das Interview mit Ihnen führe, während meine Kollegin sich um das begleitende Fotomaterial für den Artikel kümmert.“ Bei diesem Gedanken fiel es ihr leicht, ein freundliches Gesicht aufzusetzen.

„Meine erste Frage ist wohl die naheliegendste“, sagte Charlie. „Weshalb lebt Ihre Gemeinde von der Öffentlichkeit abgeschnitten?“

„Wir beide sind doch grundsätzlich gleichwertige Menschen, oder nicht?“, fragte Aletheia.

„Ähm“, Charlie hatte so schnell keine Gegenfrage erwartet, „ja… vor dem Gesetz sind alle Frauen gleich.“

„Alle Menschen sind gleich, ja. Bleiben wir also bitte beim 'du'.“

„Gut“, sagte Charlie und spielte mit. Sie wusste, dass sie ihre Rolle der interessierten Journalistin überzeugend genug geben musste, damit die Koordinatorin keinen Verdacht schöpfte. „Warum lebt ihr in einem Dorf fernab aller Zivilisation?“

„Oh nein, als 'zivilisiert' würde ich das Europa von heute nicht bezeichnen. Womöglich reicht das bereits als Antwort.“

„Denken... Denkst du, dass diese Bezeichnung auf eure Gemeinde eher zutrifft?“

Die Koordinatorin lächelte. „Findest du es nicht auch faszinierend, dass der eiskalte Schnee des Winters die Sonne stärker reflektiert, als es das Wasser eines sommerlichen Teiches je könnte?“

Charlie verstand kein Wort.

Aletheia fuhr fort: „Das Wahre – das Gute – ist nie offen zugänglich. Man kann nur versuchen, alles Schlechte loszuwerden, alle Fehler auszumerzen.“

Charlie konnte es nicht leiden, wenn jemand ihren Fragen auswich. „Was ist denn so schlecht an der Welt, dass ihr euch genötigt seht, es hier besser zu machen?“

„Von Natur aus halten Menschen nicht viel von Veränderung. Doch die krankhafte Tendenz der heutigen Bevölkerung, sich selbst als den Höhepunkt der menschlichen Entwicklung zu sehen, ihr parasitäres System als das Nonplusultra aller möglichen Organisationsformen – das ist wie Gift für den Fortschritt der Menschheit. Technologie hat solch schnelle negative Rückmeldungen ermöglicht, dass die Politik mit ihrer Abhängigkeit von Zustimmung zwangsläufig lahmgelegt werden musste.“

„Und hier, in diesem Dorf abseits des gesellschaftlichen Geschehens, schreibt ihr Geschichte? Leistet euren Beitrag zur Förderung der Frauheit?“

„Darf ich dich etwas fragen?“, entgegnete Aletheia. „Bereitet dir deine Arbeit Freude?“

„Ich… äh –“, stammelte Charlie, ihre Gedanken sammelnd. Warum kam nicht auf Anhieb eine Bestätigung?

Doch Aletheia stellte bereits die nächste Frage: „Warum bist du Journalist geworden?“

Charlie kaute an ihren Fingernägeln. „Ich möchte die Welt zum Besseren wenden.“ Das war nicht einmal gelogen.

„Weißt du, als Kind wollte ich ebenfalls Reporter werden“, erklärte Aletheia. „Doch während der Anfangszeit wurde ich stark von dem Beruf enttäuscht. Ich sollte Fülltexte schreiben, Schleichwerbung, banale Artikelchen über unwichtige Themen, wie ich fand. In meinen Augen war das Zeitverschwendung, denn ich hatte Großes im Sinn. Wäre ich überraschend gestorben, sollte mein letztes geschriebenes Wort natürlich etwas wirklich Bedeutungsvolles sein! Dadurch schien mir kein Thema mehr gut genug.“

Charlie fragte sich, was dieses Gerede mit der eigentlichen Frage zu tun hatte und wurde allmählich ungeduldig.

Die Koordinatorin fuhr fort: „Heute weiß ich, dass auch Kleinigkeiten letztendlich entscheidend sein können. Große Revolutionen führen oft in eine Sackgasse, doch kontinuierliche Evolution findet meist den klügsten Weg zum Ziel.“

Ohne Aletheias Antwort eines Kommentares zu würdigen, wechselte Charlie das Thema: „Was genau zeichnet die ‚Kirche der Wahrheit' aus?“

„Die Kirche der Wahrheit ist eine Vereinigung des Friedens und der Freiheit. Wir leben in völliger Harmonie mit der Natur und betreiben ausschließlich Subsistenzwirtschaft, um unabhängig von der instabilen Struktur Großeuropas zu sein. Das Leben in unserer Gemeinde ist nach den Lehren verschiedener Philosophen modelliert, mit einer Struktur, die uns davon abhalten soll, denselben Untugenden zu verfallen, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte immer wieder an den Abgrund getrieben haben. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Kinder unserer Gemeinde von allen Mitgliedern gemeinsam aufgezogen werden.“

Mit dieser Antwort konnte Charlie sich anfreunden: Offenbar ging es auch ohne Scheinweisheiten. Sie schloss an: „Welche Wahrheit ist es, der diese Kirche ihren Namen verdankt?“

„Ich verstehe, was du wissen möchtest, doch deine Frage ist falsch gestellt. Wir streben nach dem Ideal per se; nach allgemeiner Wahrheit; ohne dabei jedoch einen Anspruch auf deren Absolutheit zu legen. Wenn sich die Umstände ändern, wandelt sich auch das Idealbild, das wir ansteuern. Eigentlich müsste unsere Gemeinschaft 'Die Kirche des ewigen Strebens nach Wahrheit und Schönheit zur Annäherung an Vollkommenheit in der momentanen Fassung' heißen – doch das hat nicht auf den Flyer gepasst.“

Charlie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie fand es immer charmant, wenn ihr Gegenüber über sich selbst lachen konnte. „Also bist du noch nicht zufrieden mit dem, was die Kirche der Wahrheit ist?“

„Zufriedenheit ist die eine Sache. Doch das Projekt, dem sich die Kirche der Wahrheit verschrieben hat, kann man von Natur aus nie abschließen. Allein wegen der Unstetigkeit der Welt sollten wir uns nie auf unseren Lorbeeren ausruhen, sondern immer Höheres anstreben.“

„Glaubt ihr, dass sich die Welt innerhalb eurer Lebenszeit so stark wandelt, dass ihr die Definition von Perfektion stetig anpassen müsst?“

„Lass mich dich etwas fragen: Glaubst du, dass du in fünf Jahren ein anderer Mensch bist?“

Charlie musste nicht lange überlegen: „Dann bin ich 33. Vielleicht etwas erwachsener und erfahrener... aber keine neue Frau!“

„Na gut. Dann habe ich noch eine andere Frage: Bist du noch dieselbe wie vor fünf Jahren?“

Damals war Charlie noch Studentin gewesen; aufmüpfig, kindisch, naiv. Nun war sie eine ehrgeizige, junge Idealistin. Charlie wusste, dass ihr die Antwort vom Gesicht abzulesen war.

Aletheia reagierte schnell: „Du verstehst, worauf ich hinauswill. Die Menschen unterschätzen gerne, wie schnell sich in kürzester Zeit alles verändern kann. Deswegen halten wir die Tradition, Verfassungen und Vorschriften zu folgen, die bereits hunderte von Jahren alt sind, für wenig sinnvoll.“

Charlie gewährte ihr diesen Sieg. Jedoch nur, um zur wichtigsten Frage zu kommen: „Ihr nennt euch 'Kirche'… wie steht ihr dann zu Gott?“

„Unseren Gemeindemitgliedern ist freigestellt, ob und woran sie glauben. Als Vertreter der Wahrheit müssen wir absolute Dogmen ablehnen – das versteht sich von selbst. Auch halten wir die Mitglieder dazu an, sich immer wieder mit ihren Vorstellungen auseinanderzusetzen und diskutieren oft und lange über Spiritualität und Glauben. Uns ist der zwischenmenschliche Diskurs sehr wichtig, denn ewiges Hinterfragen und neu Abwägen liegt in der Natur des Menschen.“

„Und was denkst du darüber?“, fragte Charlie.

„Ich persönlich sehe alle Lebewesen als Teil eines universalen Bewusstseins, das unauflöslich miteinander verbunden ist. In dieser Weltanschauung ist für eine höhere Macht nicht viel Platz – denn alle Kräfte im Universum sind ausgeglichen.“

Die Antwort war zu schwammig, um die Gruppierung als religiös kategorisieren zu können. Esoterik war weit verbreitet und nicht verboten. Doch Charlie hatte das Gefühl, dass es noch mehr herauszufinden gab.

„Du hattest Philosophinnen erwähnt“, sagte sie wie beiläufig, „nach denen das Leben in dieser Gemeinde gestaltet ist. Könntest du mir mehr darüber erzählen?“

„Ich spreche immer gerne über Philosophie. Leider ist das eine Kunst, die mit Anbruch des ‚Postmaskulinismus’ dran glauben musste. Ernsthaft bewerten kann man solche Lehren jedenfalls erst, wenn man sie tatsächlich gelesen hat.“

„Wie kannst du dir so sicher sein, dass ich das nicht habe?“, fragte Charlie etwas gereizt.

„Ich bin mir in der Tat sicher, aber es ist nicht deine Schuld. Da die europäische Regierung die schlechte Angewohnheit hat, Rache mit Recht zu verwechseln, sind Schriften von männlichen Autoren in Europa leider grundsätzlich unauffindbar.“

Charlie erkannte, dass ihr soeben der wahre Grund für das Exil der Gemeinde offenbart worden war. „Ihr folgt also den Vorstellungen von Männern?“

„Ja, richtig. Daran ist nichts Skandalöses“, antwortete Aletheia.

„Außer der Tatsache, dass solche misogynen Schriften an der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau Mitschuld tragen.“

Die Koordinatorin reagierte gekränkt: „Das ist eine lächerliche Unterstellung, die an Rufmord, quasi Rufvölkermord, grenzt. Obendrein ist es eine Bagatellisierung der Schriften einiger der wichtigsten Denker der Menschheitsgeschichte. Es war nie das Geschlecht gewesen, das über den Charakter eines Menschen entschieden hat – und schon gar nicht die Validität seiner Ideen. Doch das leugnet die heutige Gesellschaft.“

Charlie sah es anders: Diese Person leugnete stattdessen die systematische Unterwerfung der Frau durch die Männerwelt. Doch Charlie war bedächtig genug, diese Anmerkung für sich zu behalten. „Du kannst unmöglich der Überzeugung sein, dass unsere Welt nicht gerechter ist, seitdem das Patriarchat überwunden ist“, sagte sie.

„Die Männer in hohen Positionen mit Frauen zu ersetzen, hat rein gar nichts an der eigentlichen Ungerechtigkeit unseres Systems verändert. Die neuen Chefinnen und Anführerinnen konnten doch gar nicht anders, als dieses weiter zu reproduzieren.“

„Glaubst du also, dass die Große Befreiung, die Emanzipation der Frau, eine schlechte Sache war?“

Aletheia zupfte an ihrem Kleid und wischte einige Falten glatt. „Ich glaube, dass das Aussterben des männlichen Geschlechts das verheerendste Ereignis der modernen Geschichte darstellt. In den 2020er-Jahren sind fast vier Milliarden Menschen an den Folgen eines aggressiven Virus gestorben, ganz zu schweigen von den Verbrechen, die darauf folgten. So etwas 'Befreiung' zu nennen, erscheint mir wie eine Negation jeglicher Moralität. Wenn man dann noch bedenkt, wie unfrei die Menschheit heute ist, dann muss man diesen Euphemismus als geradezu zynisch empfinden.“

Charlie wurde klar, dass die Realitätsferne der Sektenmitglieder – und dieser Person – nicht allein physischer Natur war. Solche Frauen fanden sich normalerweise in der Innenstadt krakeelend vor der Apokalypse warnend, bis sie von der Polizei gefasst und abgeführt wurden, doch hier hatten sie sich ein ganzes Dorf mit Durchgeknallten errichtet. In solch einer Umgebung war es unvermeidlich, einer selbstgerechten Echokammer zum Opfer zu fallen. Das entschuldigte die Aussagen Aletheias jedoch nur teilweise.

Von allen Adjektiven, die ihr zur Verfügung standen, war 'unfrei' das letzte Wort, das Charlie zur Beschreibung der europäischen Gesellschaft verwendet hätte. Die Koordinatorin war vermutlich die Art von Person, die als Antwort auf die Frage nach ihrem Lieblingsmärchen die europäische Verfassung genannt hätte. Aus reinem Trotz.

Die verdrehte Weltsicht, die diese Frauen vertraten, war Charlie ganz und gar unzugänglich. Doch sie musste den Schein wahren. Ein Themawechsel war der einzig angebrachte nächste Schritt.

„Können Sie… – kannst du mir deinen typischen Tagesablauf hier in der Gemeinde beschreiben?“, sagte Charlie, indem sie ein falsches Lächeln aufsetzte.

Chromosom 23

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