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2113

„Nachdem wir uns letzte Woche mit der frühen Glaubensgeschichte beschäftigt haben, möchte ich heute vordergründig eine bestimmte Konfession des Christentums beleuchten. An ihr lässt sich die Problematik der organisierten Religion in der Moderne besonders gut veranschaulichen.

Im Chaos des Christentums existierten viele verschiedene Glaubensrichtungen, doch die wichtigste war der Katholizismus. Das Oberhaupt der katholischen Kirche war der Papst, der als absoluter Monarch des Vatikanstaats auf Lebenszeit gewählt wurde. Ja, als legitimer Diktator eines eigenen Landes – welches bis zur Großen Befreiung von sämtlichen westlichen Industriestaaten anerkannt wurde! Kaum vorstellbar, nicht wahr?

Nicht nur an der schon damals veralteten Staatsform sieht man, wie vergiftet der gesamte Glaubenskomplex des Christentums war.

Der Papst – stets ein alter, weißer Mann – mag sich zwar als Vertreter Gottes auf Erden dargestellt und hier und da Hände geschüttelt haben, doch in Wirklichkeit war er nicht das Oberhaupt der Gläubigen, sondern das eines korrupten Kleinstaates, der auf legalem Wege und unter dem Vorsatz der Religion die Welt bestahl und Frauen unterdrückte.

Für heutige Ohren klingt es absurd, doch tatsächlich war es Frauen untersagt, geistliche Ämter innerhalb dieses patriarchalischen Systems anzunehmen. Und nicht nur das; die Männer in diesen Positionen waren dazu verpflichtet, in absoluter Enthaltsamkeit zu leben – nur um jegliche Einflussnahme der Frauen zu verhindern!

In dieser befremdlichen Welt der Religion rühmten sich die Mitglieder ihrer ethischen Tadellosigkeit und beschuldigten Atheisten der Immoralität. Gleichzeitig verlangsamten sie den medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt durch Lobbyismus für unbegründete Verbote und die offene Verurteilung von freizügiger Sexualität, gleichgeschlechtlichen Ehen, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbrüchen, et cetera.

Dabei müssen Sie im Hinterkopf behalten, dass sexuelle Krankheiten damals noch jedes Jahr Millionen von Leben einforderten und mindestens die Hälfte aller Frauen im Laufe ihres Lebens sexuell missbraucht wurde. Wohlgemerkt wurde die Schuld von der skrupellosen Männerwelt auf die Opfer geschoben, die sich falsch verhalten, gekleidet, oder die Untat gar genossen hätten.

Der Emanzipation sei Dank, dass wir heutzutage nicht mehr in der scheußlichen Angst leben müssen, die für Frauen vor der Großen Befreiung noch allgegenwärtig war. Doch bis vor 90 Jahren, als Kinder noch als Produkt gegengeschlechtlichen Verkehrs auf die Welt kamen, zwang die Kirche Missbrauchsopfer tatsächlich dazu, den Nachwuchs ihrer Vergewaltiger zu gebären und aufzuziehen.

Diese unsinnigen Positionen rührten von einem blinden Glauben an vorsätzlich gottgegebene Regeln und Vorschriften für die Gestaltung des Zusammenlebens her, die stets auch eine gewisse Portion willkürlichen Aberglaubens beinhaltete. Dem Verbrennen von herkömmlichem Baumharz wurde beispielsweise eine reinigende Heilkraft nachgesagt.

Dass heute Freitag, der 13., ist, wird kaum einer von Ihnen aufgefallen sein. Doch damals hätte dieses Datum viele Menschen beunruhigt, da die 13 als ‚Unglückszahl’ bekannt war. Wenn Sie sich fragen, warum der Freitag hier wichtig wird, dann kann ich nur vermuten, dass es selbst den Christen zu anstrengend war, einmal im Monat Angst haben zu müssen und deshalb nur ein Wochentag betroffen sein durfte. Dass wir übrigens das Jahr 2113 schreiben, hätte das Unbehagen der Abergläubigen jedoch sicherlich noch verstärkt.

Es ist schon bemerkenswert, worin die Kirchenanhänger überall eine Bedrohung sahen: schwarze Katzen, Videospiele, sogar das Aussprechen bestimmter Phrasen. Ich könnte unzählige solcher Irrglauben nennen, doch dafür reicht unsere Vorlesungszeit leider nicht!

Neben solchen wirren Richtlinien hatte die Kirche eine Vielzahl ernsterer Anliegen und mischte sich überall ein, wo sie Gehör bekam. So war der Sonntag in vielen Ländern eine Art gesetzlich vorgeschriebener Feiertag, an dem nur eine Zahl willkürlich ausgewählter Berufsgruppen arbeiten durfte. Doch die Unterdrückung der Frau zog sich wie ein roter Faden durch jede Position, die der Vatikan vertrat. Immerzu sprach man vom ‚Schutze der Familie’ und meinte damit das heteronormative Ideal einer patriarchalischen Familie, in der die Frau vollkommen von ihrem Ehemann abhängig war. Sie verstehen also, warum die Beseitigung des Christentums ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Emanzipation war.

Von jedem Kirchenmitglied wurden damals natürlich Beiträge erhoben – in vielen Ländern sogar mithilfe staatlicher Steuern. Die Priester verprassten das Geld der Gläubigen dann für die pompösen Bauten, die heute zum Teil noch als Mahnmale erhalten sind. Außerdem vergriffen sie sich nachweislich an Minderjährigen, während die Welt den Papst regelmäßig mit offenen Armen zu sich einlud und dabei keine Kosten scheute, um ihn wie einen Popstar zu feiern. Erst mit dem Ausbruch des Virus änderte sich diese Einstellung allmählich.

Zunächst erwarteten viele Gläubige den Weltuntergang und wandten sich der Kirche zu. Doch bald wurde klar, dass das Leben weiterging – zumindest für die Frauen. Das war natürlich fatal für den Vatikan, und zwar wortwörtlich. Zusammen mit den meisten Staatsoberhäuptern und Wirtschaftsvorständen starben auch die Geistlichen wie die Fliegen. Der Unterschied war jedoch, dass Letztere nicht durch Frauen ersetzt werden konnten. Bis zum Schluss hielt die katholische Kirche an ihrer maskulinistischen Tradition fest – und ging mit ihr unter.

Im Islam und dem praktizierenden Judentum verhielt sich das ähnlich. Wie Sie wissen, waren das zwei Religionen mit extremeren Auslegungen ähnlicher Schriften. Dass der Islam heutzutage als Definition der Frauenfeindlichkeit gesehen wird, kommt übrigens nicht von ungefähr. Alles was ich Ihnen bisher erzählt habe, passierte in Arabien in mindestens doppelter Schwere. Frauen waren dort rechtlich gesehen die Besitztümer ihrer Männer und brauchten selbst für absolute Kleinigkeiten deren Zustimmung. Doch dadurch starb dieser Glaube auch einen noch schnelleren Tod als das Christentum.

Bis zum Ende der 2030er-Jahre wurden die meisten übrigen Katholiken samt ihren Kirchengebäuden von den Protestanten einverleibt – einer etwas liberaleren Glaubensrichtung, die ebenfalls weit verbreitet war. Doch insgesamt ging auch für die Protestanten der Trend aufgrund der Großen Befreiung stark abwärts.

Nach den katastrophalen Zuständen der 2020er-Jahre konnte und wollte niemand mehr so recht an einen gnädigen Gott glauben, der dieses Leid und Unheil zumindest zugelassen haben musste. Ganz abgesehen davon, dass die sogenannte „Heilige Schrift“ unfassbar frauenfeindlich und hetzerisch, voller Mord und Versklavung war. Wenn Sie heute Auszüge daraus lesen, dann schütteln Sie vielleicht den Kopf, doch vor nicht allzu langer Zeit gab es noch Menschen, die mit Leidenschaft für diese Worte ihr Leben gaben.

Selbstverständlich verhinderte auch die rigorose Ablehnung der aufkommenden künstlichen Befruchtung nach dem Barnik-Verfahren durch die Kirche eine Repopulation der Glaubensgemeinschaft. Kinder mit zwei Müttern zu zeugen, sei unnatürlich, ließen sie damals verlauten und forderten den Boykott der Befruchtungszentren.

Dabei war es damals schon kein Geheimnis, wie viele Spezies es in der Natur gibt, die völlig ohne männliche Artgenossen auskommen. Denken Sie nur an die Ameisenart Mycocepurus smithii. Diese Insekten betreiben solch eine reine Art der Parthenogenese – dagegen wirkt das biblische Märchen der unbefleckten Empfängnis Marias geradezu stümperhaft. Dass ausgerechnet die selbsterkorenen ‚Hüter der Schöpfung’ diesen Umstand nicht erkennen wollten, zeigt eindeutig, dass die Einschränkung der Rechte von Frauen für die Kirche sogar wichtiger war als das eigene Bestehen.

Glücklicherweise ist uns heute allen klar, dass die drei abrahamitischen Glaubensgruppierungen, so viele Anhänger sie einst auch hatten, tatsächlich allein Unterdrückung zum Ziel hatten. Dabei stand, wie Sie bestimmt schon bemerkt haben, die Repression der Frau im Vordergrund, doch auch die Einschränkung der Wissenschaften, die Diskriminierung von Minderheiten, die Ausnutzung der Armen und die Verdrehung der Moral waren entscheidende Defizite der damaligen Weltreligionen während ihrer leider allzu langen Geschichte.

Die Mitte des 21. Jahrhunderts war somit eine Zeit der Großen Befreiung in zweierlei Hinsicht: Einerseits von der Unterjochung durch den Mann und andererseits von den Ketten der sogenannten Götter. Das Verbot organisierter Religion durch die Femokratische Partei stellt einen der großen Meilensteine der Emanzipation dar. Wir erinnern uns nicht nur an diesen Kampf, um unseren Sieg zu feiern, sondern auch, um sicherzustellen, dass wir uns in Zukunft nie wieder so fesseln lassen.

Und damit vielen Dank und bis nächste Woche.“

Chromosom 23

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