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Kapitel 5 – ERIN –

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Die Luft roch nach Wald, aber irgendwie ganz anders als der maranische Pinienwald. Der Boden war feucht und mit saftig grünem Moos bedeckt. Direkt vor ihr ragten zwei der majestätischsten Bäume auf, die sie je gesehen hatte. Ihre Stämme waren so dick wie UVB-Röhren. Wie königliche Wächter standen sie an dem Übergang, ihre dicken, knubbeligen Äste sprachen einen Willkommensgruß und Drohungen an all diejenigen aus, die das Land betreten wollten.

Der schmale Pfad, der von der Mauer weg und zwischen den Bäumen hindurchführte, war kaum zu erkennen, so zugewuchert war er schon.

Noch einmal blickte Erin zu der Tür zurück und war erstaunt: Die Mauer und der Turm sahen von dieser Seite ganz anders aus. Sie bestanden nicht aus nacktem Beton, sondern waren komplett mit Holzpaneelen verkleidet.

Dann lief sie los, hinein in dieses unbekannte Land! Die Vegetation um sie herum war üppig, alles saftig und grün. Sie erblickte einige ihr unbekannte Pflanzen. Zum Beispiel solche, die aussahen wie kleine Palmwedel, die direkt aus dem Boden wuchsen. Die Stämme der Bäume waren mit weiteren Pflanzen bedeckt, mit Efeu und irgendetwas Flechtenartigem. Voller Begeisterung folgte sie dem Weg, der unter einem grünen Laubdach sanft bergab führte. Fast schien es ihr, als liefe sie durch einen Tunnel. Dann lichtete sich der Wald und endete an einer Steilklippe. Von hier aus bot sich ihr ein fantastischer Anblick, so schön und so fremd, dass es ihr den Atem verschlug. Vor ihr, in einem kleinen, engen Tal lag, von Bäumen umrandet, ein Dorf, voll von niedlichen, altmodischen Fachwerkhäusern, deren Schornsteine gemütlich vor sich hin qualmten. Dahinter, in der Ferne, befand sich der gewaltigste Berg, den sie je gesehen hatte. Er hatte steile, felsige Flanken, in denen hier und da etwas Weißes zu sehen war. Das musste Schnee sein! Ein Bild wie aus den Malereien, die sie in der alten Villa gesehen hatte. Mit einem Mal war sie ganz aufgeregt. Sie wollte hinuntergehen und diese fremde Welt erkunden!

Zunächst jedoch musste Erin dem Verlauf der Klippe eine Weile folgen, bis sie einen Pfad fand, der weiter hinabführte. Unten verwandelte er sich in einen gepflasterten Weg. Zwischen den Bäumen erspähte sie ein kleines Fachwerkhaus. Es sah verlassen aus; die Fenster waren leer und dunkel. Aus dem Schornstein aber stieg eine winzige Rauchfahne auf. Vielleicht war doch jemand zuhause? Erin zog sich vorsichtshalber die Kapuze über den Kopf.

Nach einer Weile kam sie an dem Dorf an, das sie von oben gesehen hatte. »Vambori« stand in verschlungenen, goldenen Lettern auf einem Schild am Wegesrand. Schon von weitem sah sie, wie die Menschen auf der breiten, gepflasterten Hauptstraße geschäftig von einer Seite zur anderen liefen und dabei Kisten und Säcke schleppten. Das musste sie sich genauer ansehen!

Sie versuchte, sich unauffällig in Seitengassen und im Schatten der Häuser zu halten, während sie sich dem Zentrum des Geschehens weiter annäherte. Die ersten Vorurteile schienen schon mal nicht zu stimmen, denn wie grüne Monster sahen diese Leute nicht aus. Blass waren sie und sie kleideten sich seltsam, aber sonst?

Erin beobachtete zwei junge Männer, die Mehlsäcke auf einen Pferdewagen hoben. Beide trugen braune Kniebundhosen, schwere Lederstiefel und helle Hemden. Der jüngere war vielleicht fünfzehn, hatte flammend rotes, lockiges Haar und sehr helle, mit Sommersprossen gesprenkelte Haut. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und wirkte routiniert in seinen Bewegungsabläufen. Der andere war etwa in Erins Alter und hatte glattes, blondes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte. Es fiel ihm immer wieder ins Gesicht, woraufhin er es wegpustete. Er schien diese Arbeit nicht oft zu machen. Die silbernen Applikationen und Knöpfe an seiner Kleidung waren zu fein dafür und seine Haltung zu gerade.

›Klauen und Fangzähne haben die jedenfalls nicht‹, dachte Erin schmunzelnd.

Gerne hätte sie die beiden noch länger beobachtet, doch sie befürchtete, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, also ging sie weiter.

Plötzlich stand eine ältere Frau vor ihr. Sie trug einen Korb voller Äpfel und beäugte Erin skeptisch. Erst wirkte es, als wolle sie etwas sagen, dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen, ging schnell weiter und verschwand hinter einer Ecke. Erin fühlte sich nicht wohl bei der Sache. Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und beschleunigte ihre Schritte, wollte so schnell wie möglich aus der Ortschaft herauskommen.

Sie starrte hinunter auf das Kopfsteinpflaster, deshalb sah sie sie nicht kommen. Als sie vor ihr standen, war es bereits zu spät. Es waren sieben oder acht und sie blockierten mit Äxten und Mistgabeln bewaffnet ihren Weg.

Erin machte sofort kehrt und spurtete in die entgegengesetzte Richtung, doch schon traten vier weitere Männer aus den Seitengassen hervor. Sie war umzingelt.

»Na, na, na, wohin des Weges?«, fragte ein etwa fünfzigjähriger Mann mit flammend rotem Bart.

Erin erinnerte sich an einen Namen: den Ortsnamen auf der Postkarte, die sie sowohl in der alten Villa als auch in den Kisten mit den Sachen ihrer Mutter gesehen hatte. Sie versuchte, ihre Antwort wie selbstverständlich klingen zu lassen: »Ich bin auf dem Weg nach Denebola!«

»Soso, nach Denebola will die kleine Spionin also!« Ein höhnisches Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Es scheint mir ganz so, als wüsstest du bereits, welche Strafe auf Spionage steht!« Einige aus der Gruppe lachten.

»Nein! Ich bin keine Spionin!«

»Wir werden dich liebend gerne mit nach Denebola nehmen«, fuhr der Rothaarige fort, »und dort direkt an den Galgen bringen!«

Schneller als Erin ›Verdammter Mist!‹ denken konnte, wurde sie von zwei Männern ergriffen. Mit einem Seil fesselten sie ihr die Hände auf dem Rücken, dann führten sie sie ab. Die Männer hoben sie auf den Wagen, bei dessen Beladung sie kurz zuvor zugesehen hatte. Sie ließen sie dort und verschwanden in einer Kneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Hilflos lag Erin zwischen den Mehlsäcken und versuchte, ihre Fesseln zu lösen. Sie waren einfach zu fest. Als Nächstes versuchte sie, sich zu erheben. Auch das gelang ihr nicht. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie konnte sie nur so blöd sein zu glauben, diese Menschen würden ihr freundlich begegnen?

Nach einigen Minuten kam der Rotbärtige mit den beiden jungen Männern, die Erin zuvor beobachtet hatte, wieder aus dem Gebäude. Der jüngere von ihnen redete auf ihn ein.

»... muss sowieso heute nach Denebola. Vater, es hat keinen Zweck, wenn du mich jetzt schon begleitest. Du hast noch so viel hier zu tun und die werden sie ohnehin nicht sofort hinrichten, sondern erst mal in den Kerker werfen. Also wird es dort nichts zu sehen geben. Es ist ein langer Weg bis Denebola, den willst du doch nicht umsonst machen?«

»Schon gut, schon gut, Junge!«, antwortete der Alte mit einer wegwerfenden Geste. »Aber nimm Ilya mit. Er soll aufpassen, dass sie nicht entkommt. Sie ist gefährlich.«

Der Rotbärtige verschwand wieder in der Kneipe, während die beiden jungen Männer auf den Kutschbock stiegen, ohne Erin eines Blickes zu würdigen. Der Ältere nahm die Zügel in die Hand. Sie setzten sich polternd und ruckelnd in Bewegung.

Während Erin unbequem zwischen den Mehlsäcken lag und ihr Pech kaum fassen konnte, unterhielten sich die beiden Agambeaner so, als wäre es eine ganz gewöhnliche Fahrt.

»Dein Vater ist ja närrisch«, sagte der Ältere, der offenbar Ilya hieß, »denkt, man könne einfach nach Denebola spazieren und jemanden erhängen lassen.«

»Ach«, antwortete der Jüngere, »er lebt noch in den alten Zeiten. Er würde es sogar hier auf dem Marktplatz machen, wenn er nicht zu befürchten hätte, dass der König und der Rat Wind davon bekommen.«

»Aber hier in der Einöde? Ich glaube nicht, dass er auffliegen würde. Die anderen Dörfler würden sich einen Spaß daraus machen. Endlich wieder eine richtige Hinrichtung!« Sie lachten.

Erin war schockiert. An was für Menschen war sie hier nur geraten! Die Agambeanes waren keine hässlichen Waldmonster, nein, viel schlimmer, es waren blutrünstige Wahnsinnige! Und sie war auch noch so blöd gewesen, ihnen direkt in die Arme zu laufen. Sie konnte das einfach nicht glauben. Niemand wusste, wo sie war! Niemand konnte ihr helfen!

Der Wagen hatte mittlerweile die Stadt verlassen und war in den dichten Wald hineingefahren.

»War aber auch ganz schön töricht, in so offensichtlich maranischer Kleidung durch eine Stadt wie Vambori zu laufen!«, sagte der ältere der beiden. »Tja, wir werden dir ein paar neue Kleider besorgen müssen.«

Sie stutzte. Was soll das nun wieder?

Jetzt drehte er sich zu ihr um und lächelte sie an. Ihr stockte der Atem. Er hatte strahlend grüne Augen, wie Frühlingslaub im Sonnenschein. So etwas gab es nicht in Laguna Mar. Aber wahnsinnig sah er nicht aus.

Er übergab dem Rothaarigen die Zügel und stieg mit einem eleganten Sprung zu Erin auf die Ladefläche.

»Ich bin Ilkyardin Berklavs«, stellte er sich vor, »nenn mich einfach Ilya. Das da vorne ist mein Kumpel Balduin Ozolins.« Der andere drehte sich ebenfalls zu ihr um und grinste.

»Wie ist dein Name?«, fragte Ilya.

»Erin Maresota.«

»Ein schöner Name! Aber Erin, das klingt gar nicht maranisch. Eher dairivonisch.«

»Kann schon sein.«

»Es freut mich jedenfalls, deine Bekanntschaft zu machen. Wie gesagt, wir werden dir ein paar weniger auffällige Klamotten besorgen müssen. Dafür können wir in Callitea Halt machen und dann auch gleich bei Phineas zu Mittag essen. Er wird erfreut sein, dich kennenzulernen.«

»Was?«

»Im Ernst, Erin. Wir sind ja schließlich nicht alle so wie Balduins Vater. Es gibt auch welche, die sich über Maraner freuen, und das nicht nur wegen der Hinrichtungen.«

Sie schaute ihn abschätzend an. Sollte das ein Scherz sein?

»Apropos Hinrichtung«, ergänzte Balduin, »da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, die gibt es nicht mehr. Und wir werden dich auch nicht dem Rat in Denebola vorführen.«

Erin war erleichtert.

»Wir bringen dich aber gerne nach Denebola«, versicherte Ilya ihr. »Da wolltest du doch hin?«

»Ähm, ja. Das wäre super.«

»So ist es abgemacht!« Er lächelte triumphierend und wollte ihr die Hand reichen, bemerkte dann aber, dass sie noch gefesselt war. »Ach, verzeih. Das haben wir gleich.« Aus seinem Stiefel zog er ein Messer und durchtrennte damit Erins Fesseln. Endlich konnte sie sich wieder frei bewegen. Sie rieb sich die schmerzenden Handgelenke.

»Ich muss mich wohl für meinen Vater entschuldigen«, kam es etwas kleinlaut von vorne, »er ist ein wenig grob.«

Erin schnaubte.

Ilya erzählte derweil weiter. »Wir werden in Kürze das kleine Örtchen Gawendra durchqueren. Am besten versteckst du dich gut zwischen den Mehlsäcken, sonst haben wir noch ein paar Leute mehr, die zu deiner Hinrichtung eingeladen werden wollen.« Er zwinkerte ihr zu.

Nachdem sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, fuhren sie nochmals in bewaldetes Gebiet. Erin wollte schon wieder hervorkriechen, doch Ilya warnte sie vor auftauchendem Gegenverkehr. So blieb sie in ihrem Versteck und dachte über ihre Situation nach. Sie war sich nicht sicher, was sie von den beiden Agambeanern halten sollte. Die Ansichten der Älteren aus dem Dorf schienen sie nicht zu teilen. Trotzdem wusste sie nicht, wie sie den überaus freundlichen Umgang, den sie ihr entgegenbrachten, bewerten sollte. Es kam ihr fast so vor, als sei Besuch von jenseits der Mauer irgendwie nützlich für die beiden.

Othersides: Zwei Welten

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