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Timmendorf, Travemünde & der Priwall

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Am nächsten Morgen, viel zu früh für meine Begriffe, klopfte es heftigst an unserer Hotelzimmertür – es war Herr Lüders, der politisch interessierte Portier. Ich, der immer noch vom vorigen Tag schwer gezeichnet war, erhob mich und ging zur Tür, um sie zu öffnen; kaum hatte ich das getan, erklärte mir Herr Lüders: „Jetzt werden wir es schaffen.“ „Was meinen Sie?“ Fragte ich. Daraufhin hielt er mir eine Tageszeitung unter die Nase, noch schlaftrunken besah ich mir die Wörter und Sätze, welche ihn so erfreuten. Und tatsächlich, die neue Linkspartei war, laut der Aufmachung in der Zeitung, mittlerweile die stärkte Kraft in Ostdeutschland geworden. „Was sagen Sie nun?“ „Ja,“ sagte ich, „die Zeichen der Zeit haben ihre Prognose vorausgeschickt - einem Erfolg auf bundesweiter Ebene scheint nichts mehr im Wege zu stehen, die neue Linke befindet sich in einem beachtlichen Aufwind.“ Und Herr Lüders freute sich wie ein kleines Kind nach diesen Worten von mir, er nahm mir die Zeitung aus der Hand und riss die Grishams aus ihrem wohlverdienten Schlaf. Ich jedoch legte mich wieder aufs Ohr. Als ich erwachte klopfte es wieder an der Tür, dieses Mal waren es Michael Jürf und Ralf, sie erinnerten mich an unseren Ausflug an die Ostsee. Bianca sagte zu mir: „Fahr nur, gönne dir was, macht euch einen schönen Männertag.“ Also fuhren wir drei nach Travemünde-Strand und dann mit dem Bus weiter bis nach Timmendorf, wir wollten uns ja das neue Arbeitsamt ansehen. Zwei Stationen vorher jedoch sprang Ralf plötzlich völlig losgelöst von seinem Sitz auf und rief: „Wir müssen hier raus, oh mein Gott, wir müssen hier „sofort“ raus.“ Michael sah mich mit weit aufgerissenen Augen erschrocken an, dann sprang auch er auf, rannte zur Ausgangstür im mittleren Gang, und trommelte mit schwitzendem Gesicht sowie mit geballten Fäusten gegen die Fensterscheibe. Der Busfahrer bremste abrupt – er war in die Eisen gestiegen. „Was ist denn mit Ihnen los?“ Fragte er Ralf. „Wir müssen hier raus, wir müssen hier, auf der Stelle, raus,“ sagte Ralf völlig außer Atem. Also öffnete der Busfahrer, unglaublich genervt, die Türen. Ralf trat zittrig ins Freie, Michael hingegen fiel unglücklich auf die Fresse, auf welcher er auch winselnd liegen blieb. Ich stieg ganz normal aus, und der Bus fuhr wieder los. Mit vereinten Kräften (ich und Ralf) setzten wir den stark übergewichtigen Michael, er wog nach eigenen Angaben „nur“ 107 Kilo, denn er hatte sich bei seinen Eltern, im Badezimmer gewogen, also wir setzten ihn auf eine Bank. Michael hatte sich den Fuß leicht verstaucht, er bat Ralf gegen seinen Fuß zu pusten, damit dieser so gekühlt würde, Ralf lehnte ab, ich übrigens auch. Michael verstand die Welt nicht mehr, weinend kündigte er uns die Freundschaft. Doch um Michael nicht im Stich zu lassen, nahmen wir einige Taschentücher, übergossen diese mit kühlem Bier, legten sie anschließend auf den verstauchten Fuß von Michael - und warteten ab. Nachdem der etwas weinerliche und wehleidige Michael sich besser fühlte, gingen wir zur Wohldstraße, nämlich dorthin, wo sich das neue Arbeitsamt von Timmendorf befand. Leicht humpelnd und schlurfend, mit einer Flasche Starkbier in der Hand, mit Tränen in den Augen, folgte uns Michael.

Als wir das Arbeitsamt dann endlich erreichten, setzte Ralf sich sofort an den Arbeitsamt-Computer, um die örtlichen Stellenangebote zu checken, Michael hingegen erkundigte sich bei der Auskunft: „Kann man hier irgendwo zur Toilette?“ „Ja,“ sagte die freundliche junge Dame, „da müssen Sie nur den Gang hinunter gehen, und dort, wo „WC für Herren“ dran steht, treten Sie einfach ein.“ Michael humpelte also, mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Toilette, ich jedoch nahm mich der Dame von der Auskunft an. Wir betrieben lockere Konversation, das Thema Arbeitssuche fiel dabei, aus mir unerklärlichen Gründen, irgendwie unter den Tisch. Doch nach einer Weile erklärte mir die nette Person: „Sie müssen sich an das Arbeitsamt Ihrer Heimatstadt wenden, dann können Sie sich auch hier im Bereich „Timmendorf“ mit eintragen lassen - für eine Arbeitsstelle.“ Ich bedankte mich freundlich und hielt nach Ralf Ausschau. Ralf, man mag es kaum glauben, schlief bereits am Computer, ich rüttelte ihn wach und sagte: „Ralf! Du Schlafmütze! Auf geht’s, wir müssen wieder los, mein Magen knurrt, lass uns was essen- und trinken gehen.“ Daraufhin fragte mich Ralf: „Und Michael? Wo ist Michael?“ „Ach ja,“ sagte ich, „den dürfen wir natürlich nicht vergessen.“ Kaum gesagt, tauchte Michael auf. „Die Toilette ist hier sehr sauber,“ sagte er, „überhaupt ist auf diesem Arbeitsamt alles so sauber, ich würde am liebsten gleich hier bleiben.“ Da solche Wünsche allerdings nicht zu erfüllen waren, zogen wir von dannen – Richtung Strandpromenade, wo es einen Imbiss gab. Michael, dessen Fuß sich etwas erholt hatte, bestellte für sich 4 Frikadellen, eine doppelte Portion Pommes mit Majo und Ketchup, sowie eine Flasche Flensburger, er ließ es sich auch sofort schmecken, die Geräusche die er beim Essen von sich gab waren unüberhörbar. Ich und Ralf bestellten uns auch eine Kleinigkeit, aber als wir Michael so zusahen wir es fraß, ja, da erinnerte er uns an ein ausgehungertes Mastschwein, und auch die Imbissbesitzerin bemerkte: „Na, Ihnen scheint es ja zu munden?“ „Ja,“ sagte Michael schmatzend, „ich hatte heute auch einen kleinen Unfall, - ich bin auf die Fresse gefallen, hatte den Fuß verstaucht, ich war verletzt, jetzt geht es mir aber schon wieder besser. Ich sage immer: Hunger gut, alles gut.“ „Richtig,“ sagte die Imbissbesitzerin, „wenn Sie noch einen kleinen Nachschlag wünschen, es ist genug da.“ „Da?“ Fragte Michael. „Ja, - es ist sogar mehr als genug da,“ ergänzte die Frau ihr Angebot. Und während Michael noch umständlich überlegte, was die Frau wohl meinte, kam ein kleiner Hund angelaufen, welcher sich auf meinen Arm stützte. Er war hungrig, und wir gaben ihm, weil er so „lieb“ bettelte, ein Stück von unseren Frikadellen ab. Nachdem der kleine Hund aufgegessen hatte, düste er genauso schnell wieder davon, wie er kurz zuvor aufgetaucht war.

An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass Ralf die Fressorgie von Michael nicht unbedingt billigte, er machte sich schon so seine Gedanken, aber er wollte andererseits die Stimmung des Tages nicht verderben. Und nachdem wir alle zu Ende gegessen hatten, wir uns einen kleinen Kräuterlikör genehmigten – als Abschluss sozusagen, damit sich das Fett im Magen besser verteilte, gingen wir hinunter zum Strand. Das Meer war spiegelblank, der Horizont war diesig, aber es war sehr angenehm das alles erleben zu dürfen, und in meinem Überschwang griff ich ins Ostseewasser, ich trank eine Handvoll davon – es schmeckte herrlich, geradezu phantastisch. Ich bin sowieso der Ansicht, dass das Ostseewasser, speziell in der Lübecker Bucht, vielleicht sogar speziell am Timmendorfer Strand, heilende Wirkung hat. Allergiker und Schnupfengeplagte werden mir beipflichten, wenn ich behaupte: Wasser generell verfügt über wundersame Kräfte, die noch nicht restlos erforscht sind. Sicherlich gibt es, besonders aus Sicht der Schulmediziner gehörige Einwände, dennoch sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Placeboeffekt und der Glaube Berge versetzen kann. Nachdem ich mich also innerlich und auch äußerlich mit kühlem Ostseewasser gereinigt hatte, und wir feststellten, dass der so gepriesene Ostseesand in Timmendorf mit: Plastikmüll, Zigarettenstummeln und Dreck aller Art verunreinigt war, zogen wir drei es vor uns auf eine Mole zu begeben. Gemächlich wanderten wir an das Ende der massiven Holzkonstruktion, um uns so wie die anderen angereisten Tagesgäste auf einer Bank niederzulassen. Nachdem dieses geschehen war, entspannten wir uns. Ein Marineboot, weit in der Ferne, erregte unsere Aufmerksamkeit, Ralf erklärte uns: „Die machen da irgendetwas. Die tauchen oder so, oder die haben Probleme mit dem Motor – „das“ könnte auch sein, aber festlegen will ich mich lieber nicht.“ Ralf seine Auskunft, oder von mir aus auch seine Vermutung war derartig ungenau, dass ich keine Lust hatte näher darauf einzugehen. Michael hingegen war zu dem Zeitpunkt schon wieder so derartig besoffen, dass er die anderen Besucher der Mole belästigte, er verarschte jeden Einzelnen, er fragte Leute mehrmals nach der Uhrzeit, er gab sich als Grafen aus, er behauptete, dass er aus Kiel sei, dann wieder aus Hamburg, und er spuckte unentwegt ins Wasser - über das Geländer hinweg, ohne dass er merkte, was er tat. Plötzlich jedoch rannte er die Mole rauf und runter, er war aufgeregt. Mit seinem Handy in der Hand hatte er ein wenig die Kontrolle über sich verloren, Ralf sagte zu ihm: „Mensch Michael, nun setz dich doch endlich mal wieder hin, du machst einen ja ganz nervös.“ Michael war daraufhin, nach einem Moment völliger Verwirrung, auch im Begriff sich wieder hinzusetzen, doch da klingelte sein Handy – seine Mutter war dran. Michaels Mutter erkundigte sich, ob denn auch alles in Ordnung wäre, und Michael sagte: „Ich habe mir meinen Fuß verstaucht, es hat so weh getan, aber ich glaube es ist nichts gebrochen, ich komme morgen zu euch, wenn es euch recht ist?“ - Was die Mutter, so weit ich das beurteilen kann – bejahte, dann beendete Michael das Gespräch mit seiner Mutter. Nach etwa einer Stunde fuhren wir mit dem Bus zurück nach Travemünde Strand. Ralf schlief während der Fahrt. Michael war hingegen, also mittlerweile, total besoffen - dabei weinte er bitterlich. Und ich zählte unterdessen mein Geld, denn meine Kehle war trocken, ein Bier schien mir angemessen zu sein diesen Zustand zu ändern, doch die Fahrt nach Travemünde Strand dauerte Ewigkeiten, ich wurde immer durstiger.

Nachdem ich/wir auf dem Priwall in einem Imbiss unseren/meinen Durst gelöscht hatten, begann Ralf uns von der Geschichte des Priwalls zu erzählen, unter Mithilfe eines kleinen und bebilderten Taschenbuches. Er startete, recht feierlich, mit den Worten: „Der Beginn der Seebadentwicklung begann in Travemünde zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Bau einer Seebadeanstalt. Der Ausbau zu einem Luxusbad erfolgte mit Akribie sowie deutscher Gründlichkeit. 1847 wurde auf Ersuchen von Lübecker Bürgern auf dem Priwall eine einfache Badeanstalt mit zwei Badehütten an der Kunkel errichtet. Das war der Beginn zum Ausbau des Volksbades. 1860 dann, nördlich der Mecklenburger Landstraße legte man einen Waldstreifen an, und im Jahre 1872 verursachte die Sturmflutkatastrophe in Travemünde erhebliche Schäden; aber auch die Schließung der Spielbank brachte einen schweren Rückschlag in der Entwicklung des Fremdenverkehrs. 1880 begründete sich der Verein für Ferienkolonien mit dem Ziel für ärmere Familien einfache Bauten für Ferienaufenthalte zu errichten, dann 1882 die Nordseite, sie war bereits teilweise erhöht und eine Pferderennbahn wurde angelegt, die sich langfristig großer Beliebtheit erfreute. Zahlreiche Besucher aus Travemünde kamen über eine eigens für Renntage montierte Schwimmbrücke auf den Priwall. Ist das nicht unglaublich?“ Wir nickten zustimmend und ermunterten Ralf weiterzusprechen. „Anno 1894 verfügte Oberbaudirektor Rehder, dass eine weitere Bebauung auf dem Priwall erst nach einer sturmflutfreien Erhöhung zu erfolgen sei. 1901-03 erfolgten weitere Aufschüttungsarbeiten. 1912 dann ein erster Bebauungsplan, er legte die Baufluchtlinie entlang der Mecklenburger Landstraße fest, wo sich seit 1896 eine Villenkolonie entwickelt hat. 1914 der Beginn der Industrialisierung auf der Südseite des Priwalls. 1918, man beachte die historische Jahreszahl, entwickelte sich eine feste Wochenendhauskolonie am Ende des Strandes, wo zuvor gezeltet wurde. 1939 kam es zu einer Sperrung des Priwalls für Zivilisten. Die Wochenendhäuser, auch die seit 1932 gebauten, konnten nicht mehr genutzt werden. Und 1940 schließlich, musste die Rennbahn einem U-Boothafen weichen. 1949 wurde die Wochenendhaussiedlung ihrer Zweckbestimmung jedoch wieder zugeführt, sie diente zwischenzeitlich auch für Notunterkünfte nach dem 2. Weltkrieg. Die Hauptattraktion des Priwalls ist: Die Viermastbark „Passat“. Viele verliebte Paare haben sich auf der Passat schon das Ja-Wort gegeben, auch Geburtstage und andere Feierlichkeiten fanden- und finden dort immer wieder statt. Als weitere Attraktion verzauberte auch in diesem Sommer, das Festival „SAND WORLD“ die Sinne vieler Besucher. Skulpturen von noch nie da gewesener Größe und Schönheit zieren den Strand, jedes Jahr erfolgt ein anderes Thema der Bauten. Künstler aus der ganzen Welt erschaffen und gestalten die mächtigen Bauwerke aus Sand, der übrigens kein Ostseesand ist, sondern, der Sand der zum Bauen verwendet wird, kommt, aufgrund seiner eckigen Form, aus den Niederlanden. Dennoch ist es immer wieder ein unvergessliches Sommererlebnis für Groß- und Klein!“ Als Ralf geendet hatte, fragte Michael ihn: „Darf ich das Taschenbuch auch mal haben?“ „Natürlich,“ sagte Ralf, und reichte es dem anscheinend neugierigen Michael über den großen Tisch. Während Michael gelangweilt die Seiten umblätterte, sagte Ralf zu mir: „1969 habe ich sogar auf dem Priwall gewohnt, zusammen mit meiner damaligen Freundin. Es war zu der Zeit, als ich bei der Marine war.“ „Warum bist du nicht dort geblieben auf dem Priwall, noch schöner kann man doch gar nicht wohnen?“ Fragte ich Ralf. „Ach, damals, in den sechziger Jahren, ja, das war so eine Zeit, eine Zeit für Verrückte und für Aussteiger.“ „Und das wolltest du nicht sein?“ „Ich war unentschlossen, ich war eben ein „Franke“ und ein Aschaffenburger mit Leib und Seele.“ Ich wurde aus diesen Argumenten zwar nicht so richtig schlau, aber ich nahm sie so hin, und bestellte mir ein weiteres, kühles Bier. Auch Ralf und Michael verlangte es wieder nach Gerstensaft und nach Apfelkorn, der prompt serviert wurde. Und obwohl Michael sichtlich besoffen war, enorme Schwierigkeiten hatte sich auf seinem Stuhl „gerade“ zu halten, kippte er die Körner reihenweise in sich hinein. Ralf war nicht großartig anders, er trank aus Gründen der Erinnerung an die schöne Zeit auf dem Priwall, dabei wurde seine Stimme immer weinerlicher. Ralf steigerte sich geradezu in eine Phase des Selbstmitleids hinein, die dann, ganz plötzlich und unwillkürlich, auf Michael übersprang. Und mit einmal fingen beide hemmungslos an zu schluchzen, die freundliche Bedienung half mit ein paar Papiertaschentüchern aus. Als Ralf und Michael sich wieder etwas eingekriegt hatten, stimmten sie „La Paloma“ an. Es war eine sehr traurige Version des alten Hans Albers Liedes, trotzdem erwies Ralf sich als enorm textsicher, und das, obwohl er besoffen war und seine verheulte Stimme mit der von Michael nicht im Geringsten harmonierte. Einige der anwesenden Gäste fühlten sich sogar gestört durch den seltsamen Gesang, der sich wie ein düsterer Schleier auf die Umgebung legte, doch weder Ralf noch Michael kümmerten sich darum, sie schissen was auf die Proteste der Gäste, mit denen Michael dann auch noch in Streit geriet, welcher jedoch nur von kurzer- aber heftiger Dauer war. Erst als der wutentbrannte Michael mit seinem Stuhl nach hinten unglücklich umkippte, und in voller Länge liegen blieb, allerdings unverletzt, erst nach diesem bereits zweiten kleinen Unfall an jenem Tag, hörte Ralf auf zu weinen und zu singen. Ralf legte seinen Kopf, seitlich etwas angewinkelt auf den Tisch, und schlief sofort ein, der Suff hatte ihn in seiner Gewalt. Michael versuchte sich aufzurichten - vergeblich, die freundliche Bedienung half ihm dabei, sie sagte: „So etwas kann doch jedem mal passieren.“ Als Michael, dank ihrer Hilfe, wieder am Tisch Platz genommen hatte, schlief auch er, schnarchend und mit Tränen in den froschartigen Augen, ein.

Nach einer guten halben Stunde, oder etwas mehr, erwachten unsere beiden Ostseeabenteurer aus ihrem Schlaf. Gemeinsam fuhren wir mit der Fähre, welche nur 0,50 Cent Beförderungsgebühr kostete, zurück nach Travemünde. Michael rannte wie ein Wahnsinniger zum Bahnhof. Ralf der sich im Übrigen kaum auf den Beinen halten konnte, folgte Michael genauso wie ich. Am Bahnhof Travemünde-Strand angekommen setzten wir uns auf eine Bank und warteten auf die Ankunft des Zuges, der uns zurück nach Hamburg bringen sollte. Der Bahnhof Travemünde-Strand ist in einem unglaublich erbärmlichen Zustand, er ist eine Beleidigung für das Auge, er ist verkommen, verwuchert und man hat das Gefühl, dass gewisse Bereiche des Bahnhofs als Bedürfnis-Anstalt genutzt werden, der Gestank hat darüber hinaus eine ganz persönliche Note – es ist ein gammeliger Geruch, der in die Nase eindringt und dort haften bleibt. Doch als wir den Zug Richtung Hamburg bestiegen, die Fenster öffneten, Ralf eine Zigarette ansteckte und wir davon düsten, da war der Gestank wie weggeblasen. Michael erzählte uns während der Fahrt unentwegt von seinen pflichtbewussten Eltern, die gerade auf der Suche nach einer neuen Wohnung für ihn waren, da sie es als unzumutbar empfanden, dass einer wie er, der doch im Grunde genommen zu „Höherem“ berufen sei, es in einem Stadtteil wie Neuwiedenthal ertragen müsse zu leben. Ralf fragte Michael daraufhin: „Wieso bist „du“ zu etwas „Höherem“ berufen? Oder habe ich mich da eben gerade verhört?“ „So ist das nicht gemeint,“ sagte Michael ein wenig hastig- und außer Atem, „meine Eltern wollen lediglich, dass ich in ihrer direkten Nähe bin – in Horneburg nämlich, und das auch nur falls mal etwas sein sollte.“ Doch Ralf ließ sich mit dieser Antwort nicht abspeisen, er fragte nochmals nach: „Michael! Du hast eben von etwas „Höherem“ gesprochen, ich bin doch nicht taub, also erkläre „uns“ noch mal ganz in Ruhe wie das gemeint war.“ „Das war nur so als Spaß gemeint,“ antwortete Michel sichtlich erregt und verunsichert, „meine Eltern sind halt besorgt um meine Zukunft, sie wollen nur das Beste für mich.“ „Aber aufgrund dessen bist du doch nicht etwa hochnäsig, oder?“ Fragte „ich“ mal zur Abwechslung. „Dass „du“ „mich“ nur verarschen willst, das weiß ich, - ist ja auch nichts Neues, trotzdem bin „ich“, was „ich“ bin, und damit ist das Thema für mich auch erledigt, ich sage dazu nichts mehr.“ Michael schwieg bis Hamburg, Ralf schlief bis Hamburg. Und ich? Ich machte mir so meine Gedanken...

Als wir den Hamburger Hauptbahnhof erreichten, wir des Zuges entstiegen, da zog es uns in die „Ringecke“, jener großräumigen, aber doch geselligen Bahnhofskneipe inmitten des niemals aufhörenden Trubels, die so ein Bahnhof mit sich bringt. Nadja, eine brünette, stets freundliche, recht reizvolle Schönheit, versorgte uns mit Bier und Apfelkorn. Und nachdem sich Michaels Zunge vom Alkohol gelöst hatte, wies er nochmals daraufhin, wie sehr er sich doch von anderen Menschen abheben würde, weil seine Eltern in Horneburg ein Reihenhaus besitzen. Ralf, der mehrmals am Gähnen war, nahm Michael seine Übertreibungen zur Kenntnis, aber er sagte nichts mehr, er brummelte nur so vor sich hin. Der zur Neige gehende Abend endete damit, dass Ralf am Tisch ganz langsam einschlief, Michael sich unverstanden fühlte – von mir und von Ralf-, zwischendurch sogar weinte, ich mich jedoch erhob, und mich, per S-Bahn, ins Hotel nach Ottensen begab. Die Bar war noch geöffnet, leise Musik konnte ich hören, Bianca saß besoffen, und mit offenbar „bester“ Laune am Tresen, sie befand sich mit Kirstin Lüders im Gespräch. Kirstin sagte zu Bianca, genau in dem Moment, wo ich auftauchte: „Ficken, richtiges Ficken, gehört zum Leben genauso mit dazu wie saufen, verreisen oder fressen – so ist meine Philosophie.“ Bianca sagte, mit einiger Verzögerung, natürlich bedingt durch den Alkohol: „Aber es muss auch Liebe dabei sein, denn nur so rumzubumsen, das finde ich nicht richtig. Sex hin Sex her, man hat auch eine Verpflichtung den Kindern gegenüber, sicherlich sollen die Gören frei und ungezwungen aufwachsen, aber die Beziehung zur körperlichen Liebe erfordert Zeit, viel Zeit.“ Ich setzte mich zu Bianca an den Tresen, und wurde mit einem langen Zungenkuss begrüßt. Ich bestellte mir ein Bier, Kirstin lächelte mich an, sie stellte mir das Bier direkt vor die Nase, dabei umfasste sie die Bierflasche so eigenartig, ihre Hand glitt über die Flasche, sehr eindeutig, nach unten, während dessen beleckte sie ihre rotgeschminkten Lippen mit ihrer Zunge. Was sie wollte war unmissverständlich, und ich muss zugeben: Ich wurde geil. Ich starrte in ihren Ausschnitt, ihre Brüste lagen dicht, stramm und wunderschön anzusehen beieinander – was für ein Anblick, was für eine Herausforderung, solche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Doch nachdem ich mein Bier gelehrt hatte, schnappte ich mir Bianca, und wir beide schlurften in unser Zimmer. Ich zog Bianca aus, dann legte ich sie ins Bett, ich zog mich ebenfalls aus und legte mich zu Bianca, anschließend drang ich in sie ein, sie schlief dabei tief und fest, sie wusste nicht, was ich mit ihr machte. Ja, sie war so dichtgesoffen, dass sie nicht bemerkte wie ich sie hemmungslos bumste und mich in sie ergoss, so dass ich erschöpft von ihr abließ. Erst am nächsten Morgen sprach sie mich auf den Verkehr den ich mit ihr hatte an. „Na, hast du deinen Spaß gehabt, oder irre ich mich?“ Fragte sie so eigenartig. „Es war sehr schön,“ sagte ich, „das müssen wir noch mal wiederholen, es hat mir sehr gefallen.“ „Weil du mit mir machen konntest, was du wolltest, oder wie soll ich das verstehen?“ Doch ich lächelte nur, ich küsste sie, ich streichelte ihren Busen, ich ließ nicht von ihr ab, und als auch sie bereit war schliefen wir erneut miteinander, es war tierisch und wir genossen es.

Nach der Liebe, nach dem Duschen und nachdem wir uns angekleidet hatten, schlenderten wir gemütlich in den Frühstücksraum. Die Grishams waren bereits dort, ebenso die Studentin, auch Bert Teufel und Chantal ließen es sich bereits schmecken. Teufel orderte sogar einige Flaschen Champagner, welche von Frau Lüders auch umgehend serviert wurden, alle tranken, nur die Studentin trank nicht, sie hatte es plötzlich ungewohnt eilig und verschwand. „Vielleicht mag sie keinen Schampus?“ Sagte Teufel. „Und irgendwie ist mir die Studentin auch unheimlich... na, ja wie auch immer sie ist, trotz allem, prosit meine Lieben.“ Also genossen wir den Champagner, er war gut gekühlt, - teuer, aber nichts desto Trotz, von sehr guter Qualität, denn das eine hat mit dem anderen ja nicht immer unbedingt etwas zu tun. Chantal forderte mich, mit funkelnden Augen auf, ein wenig von Timmendorf, von Travemünde und von dem Priwall zu erzählen, ich hatte zwar keine große Lust, aber in einer Art von Kurz-Zusammenfassung, schilderte ich die wichtigsten Fakten, welche sich dort zugetragen hatten. Nachdem ich geendet hatte, sahen mich alle mit einem nichtssagenden Blick an, man hatte offensichtlich „mehr“ erwartet, aber „mehr“ war eben nicht gewesen. Chantal kommentierte als erstes meinen Ausflug an die Ostseeküste mit den Worten: „Und dann auch noch mit Michael Jürf diesem Vollidioten und Ralf diesem versoffenen Hungerhacken, ich weiß nicht, - ist das wirklich der beste Umgang für dich?“ „Man kennt sich halt von früher,“ sagte ich, „und so schlimm sind die beiden nicht, sie saufen zwar wie die Elche, sie sind aggressiv und uneinsichtig, aber dennoch auf dem besten Wege, angesehene Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden.“ „Das klingt sehr nach Verarschung vom Feinsten?“ Sagte Bert Teufel zu mir. „Aber es sind ja „deine“ Freunde, nicht wahr?“ Und Patricia Grisham ergänzte Teufel, indem sie hinzufügte: „Freunde... wirkliche Freunde, die sind eben gerne mal dort, wo andere, auch wenn diese anderen ebenfalls Freunde sind, nicht so häufig anzutreffen sind, Freunde sind eben gerne auch mal unter sich, auch ohne die anderen zu fragen.“ Daraufhin sagte ich, so freundlich wie es mir möglich war: „Ihr hättet ruhig mitkommen können, gestört hättet ihr auf gar keinen Fall.“ Nun brachte sich Bianca ins Gespräch mit ein, sie sagte: „Wir können doch alle mal gemeinsam an die Ostsee fahren, damit sich niemand ausgegrenzt fühlt, nur sollten wir das vorher absprechen, das ist meine Meinung.“ Und die Grishams, Bert Teufel, Chantal und auch ich stimmten dem zu. „Und was ist mit der Studentin?“ Fragte Arthur Grisham. „Nun,“ sagte ich, „die kann doch ganz gut mit Kirstin Lüders, vielleicht sollten wir da den Hebel ansetzen? Es kommt lediglich auf den Versuch an.“

Und als „ich“, nachdem ich mir ein Herz genommen hatte, Kirstin auf die Studentin ansprechen wollte, kam es zu einer gewissen Verwechslung, denn Kirstin dachte, dass „sie“ gemeint sei, und ich, ungeschickter Weise, Kirstin, über den Umweg über die Studentin einladen wollte mit uns an die Ostsee zu fahren. Als Kirstin auffiel, dass „sie“ gar nicht gemeint war, da wurde es eisig, sie sagte zu mir: „So ist das also, das hast du dir ja schön ausgedacht, mein Kompliment. Aber ich muss „dich“ und die „anderen“ leider enttäuschen, ich bin nämlich keine Kuppeltante, und wenn du die Studentin dabei haben willst, dann frage sie gefälligst selber – du Arsch mit Ohren.“ Nach diesem klassischen Fehlschlag, den ich vorerst für mich behielt, wurde ich, im Laufe des Tages, von Bianca gefragt wie es denn nun aussieht, ich sagte daraufhin: „Die Situation ist ein wenig unübersichtlich geworden.“ „Wieso?“ „Weil Kirstin es vorzieht das Problem mit der Studentin lieber in unsere Hände zu legen.“ „Ich verstehe kein Wort. Da stimmt doch irgendetwas nicht, was ist es?“ Ich überlegte einen Moment, dann sagte ich zu Bianca: „Ich habe den dringenden Verdacht, dass Kirstin mir gegenüber sehr leidenschaftliche Gefühle entwickelt hat, und durch eine ungeschickte Formulierung, meinerseits, in Bezug auf die Studentin, könnte es sein, dass ich ihre leidenschaftlichen Gefühle verletzt habe.“ „Ja, bist du denn zu blöd zu fragen ob Kirstin der Studentin signalisieren könnte, dass wir sie gerne mit zur Ostsee nehmen würden? Mensch Jürgen, das darf doch alles nicht wahr sein? Ich habe dich für professioneller gehalten.“ „Ich mich auch, tut mir leid – sorry.“ „Also werde ich die Studentin nun doch fragen müssen? Obwohl so etwas eigentlich nicht mein Ding ist.“ „Sei bitte so lieb, Mäuschen.“ „Nenne mich nicht Mäuschen. Ich werde die Studentin, Sybille von Burg, jetzt fragen! Und wenn sie uns was scheißt, also „nein“ sagt, dann ist das eben so, verstehst du?“ „Ja, mein Liebes.“ „Nenne mich nicht auch noch mein Liebes.“ „Wie soll ich dich denn nennen?“ „Ab sofort nur noch Bianca... und im Übrigen, Stichwort: Studentin, leck mich am Arsch, in Zukunft gehst du nämlich selber fragen.“ Um es an dieser Stelle kurz zu machen, Sybille von Burg war begeistert von der Idee mit uns an die Ostsee zu fahren. Kirstin Lüders hingegen war immer noch verstimmt, sie warf mir den einen- oder anderen vergifteten Blick zu, es schien so als würde sie mich hassen, obwohl ich ihr gegenüber immer freundlich war, aber es nützte nichts. Arthur Grisham sagte diesbezüglich zu mir: „Fräulein Kirstin Lüders ist so ein feines Geschöpf, ein Engel, eine Elfe, ein schöner Anblick sowieso, warum kommt ihr beide nicht miteinander aus? - Ich sage es dir: Ihr müsst versuchen, und das jeden Tag aufs Neue, Gemeinsamkeiten zu finden, nicht im erotischen Sinne, mehr so auf einer ideellen Ebene, wenn du verstehst, was ich meine?“ Ich verstand von Grisham seinem Geschwafel gar nichts, außerdem wunderte es mich, warum „er“ sich „so“ für Kirstin zu interessieren schien. Offensichtlich war „er“ verliebt in sie, denn seine Freude, dass „ich“ bei ihr abgeblitzt war, war nicht zu übersehen.

Für die gemeinsame Fahrt an die Ostsee organisierte Bert Teufel einen Bus, einen großen Reisebus mit Toilette. Natürlich hätten wir auch mit Taxis oder mit der Bahn zur Ostsee fahren können, aber nein, Teufel bestand auf einen Reisebus - er war in solchen Sachen immer sehr großzügig. Magda, Ralf und Michael Jürf waren übrigens auch mit dabei als wir Richtung Travemünde fuhren. Michael soff während der gesamten Fahrt, Ralf schlief während der ganzen Fahrt, jedoch Magda, Chantal, Patricia Grisham und Bianca schnatterten wie die Gänse. Teufel flirtete mit dem jungen Fahrer, er war ganz hingerissen von dem Anblick jenes Adonis, der ihn in höchste Höhen entschwinden ließ – durch seine weibische Art, er gestand Teufel, dass er bisexuell war, und um es nochmals zu sagen: Teufel war hin und weg. Ich allerdings geriet mit Arthur Grisham, von Hamburg bis nach Travemünde-Strand, in ein politisches Streitgespräch. „Die Demokratie,“ sagte er immer wieder, „ist eine Voraussetzung für Reformen, darum ist es, gerade in Deutschland so wichtig, dass die einzelnen Parteien aufgrund ihrer Parteifarben auch dem Wähler gegenüber Farbe bekennen. Kanzler Schröder mag ein Idiot sein, aber Angela Merkel steht ihm in nichts nach, deshalb hat sich ja auch eine neue Linkspartei, welche jenseits der Sozialdemokraten steht, gebildet. Deutschland ist kein gutes Vorbild mehr für andere Demokratien, es baut ab, es ist ratlos, trostlos und unfähig.“ „England hat auch seine Probleme so weit ich weiß, oder etwa nicht? Mr. Blair lacht immer sehr viel, genauso wie unser Hans Eichel, mittlerweile fragt man sich warum? Warum wird soviel gelacht in der Politik? Gerade, wenn es sich um ernste Probleme dreht, die nach einer sachlichen und fachlichen Lösung suchen?“ Arthur Grisham legte daraufhin seinen Kopf in den Nacken, er knetete seine Hände, räusperte sich mehrfach und unüberhörbar, so dass Patricia ihm einen Hustenbonbon zuwarf, doch dann sagte er erhobenen Hauptes: „Ja, zweifellos ist an deiner Argumentation etwas dran – sehr beachtlich übrigens. Du hast, und das ganz offensichtlich, dank der kalifornischen Sonne, eine Leichtigkeit und Lockerheit entwickelt, die sich auch auf dein politisches Gemüt gelegt hat.“ „Nun ja, aber ständiger Sommer ist nicht unbedingt immer so das Wahre, Deutschland und vielleicht auch England, haben diesbezüglich ihre eigenen Reize, der Wechsel des Wetters, der Regen, der Schnee und die Kälte bilden für die Seele eine eigenständige Kulisse.“ „Aha, du meinst die deutsche Gemütlichkeit ist in Kalifornien nicht so gegeben, oder?“ „Weihnachten ist in Deutschland immer noch am schönsten, und die Gemütlichkeit die das alles mit sich bringt, ja, die ist doch ein starker Teil in meinem Leben.“ „Könntest du dir eine Rückkehr nach Deutschland für immer vorstellen?“ „Erst einmal warte ich die Wahlen ab, denn von irgendetwas muss man eine solche Entscheidung ja abhängig machen.“ Wirklich?“ Wirklich!“ „Sehr erstaunlich, wirklich.“

Die Ostsee war schon in Reichweite, da erwachte plötzlich Ralf, er fragte Michael: „Ja, sind wir denn schon da?“ „Ja,“ sagte Michael, „du hast die ganze Zeit geschlafen.“ „Und du?“ Fragte Ralf. „Was hast du gemacht?“ „Ich habe die Minibar leergesoffen, ich bin heute irgendwie so nervös.“ Während Ralf und Michael noch über die Vor- und Nachteile des Alkohols diskutierten, hielt der Bus direkt in Travemünde-Strand an, die Türen wurden vorne wie auch hinten geöffnet, und wir traten ins Freie, die Luft war vom Duft des Sommers und des Meeres erfüllt. Ich atmete tief durch, es war ein tolles Gefühl, ich fühlte mich wie Zuhause, denn in meiner Kindheit war ich ja durch meine Eltern relativ häufig Gast an der Ostseeküste gewesen. Bert Teufel und Chantal gingen, in zügigen Schritten, voraus – Richtung Priwall-Fähre. Wir anderen folgten ihnen. Ralf hatte Michael untergehakt, denn Michael hatte schwere Schlagseite. Magda, Patricia, Bianca und die Studentin unterhielten sich über die Zubereitung von Schollenfilet in Speck gebraten, Magda erwies sich hierbei nicht nur als erfahrene Köchin vom Fach, sondern auch als Ausnahme-Gourmet, so dass Bianca und Patricia nur so staunten. Arthur Grisham redete auf dem Weg zur Priwall-Fähre weiterhin auf mich ein, er behauptete: „Trotz aller guten Umfragewerte für Angela Merkel, wird dem deutschen Wähler immer klarer, dass er die Weltmeister im Sozialabbau wählen wird, sollte es zu einem Politikwechsel kommen. Stoiber und Merkel wollen seriös sein, aber sie sind es nicht, weil sie der Machthunger gepackt hat.“ „Schröder ist auch ein Machtmensch.“ „Aber mit ihm kann man reden, jedenfalls hoffe ich das, man müsste ihn wachrütteln.“ „Hartz IV und die Agenda 2010 sprechen meiner Ansicht nach dagegen, denn er hat sie schließlich ins Leben gerufen.“ „Reformen sind immer bitter, wenn der kleine Bürger betroffen ist, die Reformen müssen erst einmal greifen.“ „Und dann?“ „Dann hat Deutschland einen wichtigen und richtigen Schritt getan.“ „Hamburg, nur mal so als Beispiel, mit seiner Verarmung, die nicht mehr zu übersehen ist, spricht aber eindeutig dagegen, das ist unübersehbar, unübersehbar geworden. Und die sogenannten 1 Euro Jobs sind lediglich das hilflose erschaffen von Arbeitsplätzen, die es gar nicht gibt, die zudem unnötig sind.“ „Bei dir spricht immer alles gegen etwas, eine sehr einseitige Wortwahl. Helmut Schmidt hat bei Beckmann gesagt, dass die Ostdeutschen „besonders“ jammern und die Westdeutschen ein „bisschen weniger“, eine klare Aussage für meine Begriffe?“ „Er muss es ja auch wissen, denn das Vermögen das er angehäuft hat ist beachtlich.“ „Und was soll das jetzt wieder heißen?“ „Dass er den Kontakt zur Realität verloren hat, er befindet sich „nicht“ in einer privaten oder finanziellen Notsituation, deshalb tritt er so großkotzig auf.“ „Das finde ich zwar nicht, aber deine Meinung scheint sehr gefestigt zu sein, nicht wahr?“ „Genauso sieht es aus.“

Nachdem wir alle mit der Fähre auf den Priwall gefahren waren, schlenderten wir am Strand entlang. Die Damen zogen ihre Schuhe aus, ebenso Teufel, denn man wollte das Meerwasser zwischen den Zehen spüren. Teufel hielt sogar nach Muscheln Ausschau. Michael Jürf ging es, aufgrund der erfrischenden Seeluft, wieder besser, sein dichtgesoffener Schädel wurde mit Sauerstoff angereichert, so dass er nicht mehr von Ralf gestützt werden musste. Arthur Grisham machte ein paar Fotos, er ging dabei ziemlich professionell vor, ich glaube, wenn ich mich recht erinnere, schoss er innerhalb von nur einer Minute mindestens zwanzig Bilder von uns. „Für später,“ sagte er, „ich liebe es zusammen mit Patricia Aufnahmen von schönen Momenten zu betrachten.“ Nach einer Stunde Fußmarsch legten wir eine kleine Pause ein, indem wir uns einfach in den Sand fallen ließen. Ralf schlief sofort ein. Michael grölte: „Ich müsste mal was fressen und was saufen.“ Nachdem auch alle anderen, mich eingeschlossen, an etwas Nahrhaftem interessiert waren, gingen wir zurück zur Priwall-Fähre, wo schon unser Bus stand, Teufel hatte den Fahrer per Handy dorthin beordert. Und nach einer kurzen Absprache, entschieden wir uns für Timmendorf als neues Ziel, um uns dem Mittagsmahl zu widmen. Alle wollten Fisch essen, wahrscheinlich, weil Magda unentwegt von gebratenem Fisch in Speck geredet hatte. Kaum waren wir in Timmendorf angekommen, führte ich die ausgehungerte Meute in ein mir sehr wohl bekanntes Restaurant, welches berühmt war für seine Qualität und sein Ambiente. Wir nahmen draußen an einem großen Tisch Platz. Als man uns die Speisekarten gereicht hatte entschieden wir uns tatsächlich alle für Fisch. Nur Michael Jürf bestand auf eine zusätzliche, doppelte Portion Kartoffelsalat. Ralf hingegen wollte zu seinem Fisch: Pommes Frites, mit Ketchup und Majo, was Magda zu der Bemerkung veranlasste: „Warum hast du dir nicht gleich Butterbrote von zuhause mitgenommen?“ Nun brachte sich Teufel ins Gespräch, er sagte: „Bitte keine Streitereien heute, an diesem herrlichen Sommertag, lasst den Frieden wallten.“ Der Fahrer, von dem Teufel so hingerissen war, jener smarte Adonis, saß übrigens neben Teufel am Tisch. Chantal tat so als würde sie es nicht bemerken, aber, was in ihr vor sich ging, nun, ich konnte es deutlich an ihren Augen ablesen – sie litt. Die Getränke wurden plötzlich serviert, Minuten später kam auch das Essen auf den Tisch. Während Michael sofort kräftig zulangte - sein Geschmatze war nicht zu überhören, hielten wir anderen uns vornehm zurück; es war wirklich unglaublich wie viel ein Mensch innerhalb von wenigen Sekunden in sich hineinschaufeln konnte, dazu Unmengen von Bier trank, und zwischendurch immer wieder ein primitives Bäuerchen von sich gab. Aber davon einmal ganz ab, was man uns anderen servierte war wirklich köstlich, es waren die wahren Früchte des Meeres: frisch, gut durchgebraten und es war eine Freude zu sehen wie es jedem Einzelnen schmeckte. Michael, was hätte man auch anderes von ihm erwartet, bestellte auf eigene Kosten sogar noch einmal genau dasselbe nach, was er dann genauso hinunterschlang, wie die erste Portion. Das Personal welches uns bediente, machte daraufhin so eigenartige Mimiken, die nicht zu übersehen waren.

Nach dem Mahl, wurde auf einen Wink von Bert Teufel der Nachtisch gereicht – Eis. Unvorstellbare Mengen von Speiseeis, mit Sahne, Schokoladensplittern und Früchten aller Art. Da ich Eis nicht widerstehen kann, langte ich kräftig zu, Bianca die mein Verhalten als peinlich und maßlos empfand, stieß mich mehrfach in die Rippen, doch ich war wie losgelöst, mein Magen drohte zwar zu platzen, aber das war mir egal. Als wir alle gesättigt waren setzten wir uns erneut in Bewegung, Richtung Strandpromenade. – Teufel hatte im Übrigen für uns alle bezahlt, auch für den Busfahrer der stets an seiner Seite ging. Und als wir so auf der Promenade entlang spazierten, Bianca mir einen Kuss aufdrückte, ja da fing ich an zu träumen. Ich sah das Wasser wie es in der Sonne funkelte, gerne wäre ich nackend in die Fluten gesprungen, zusammen mit Bianca, aber es ergab sich halt nicht. Teufel ließ einen Joint kreisen, alle zogen dran, nur Michael Jürf und Ralf lehnten dankend ab, sie hielten sich an ihrem Dosenbier fest. Patricia Grisham hingegen inhalierte mehrere Züge hintereinander, um schneller „breit“ zu sein, ihr Gekicher nahm erheblich zu, und Arthur Grisham sagte: „Darling, so habe ich dich schon lange nicht mehr lachen gehört, wie kommt das?“ Doch eine Antwort von Patricia blieb aus, denn sie konnte keinen klaren Satz zustande bringen. Die Studentin, Sybille von Burg, soff und rauchte, so dass Bianca mich fragte: „Ob alle studierenden Menschen so sind wie Sybille?“ „Mag sein,“ sagte ich, „die heutige Jugend geht anders mit Drogen um.“ „Anders?“ „Na, ja, es ist ein Lebensgefühl, eine Form von Freiheit, ein Protest gegen die Welt, – die 68iger Generation lässt grüßen. So meine ich das.“ Aus irgendeinem Grund waren Teufel und der Busfahrer etwas schneller als wir anderen vorausgegangen, ich vermutete sie wollten alleine sein, deshalb verlangsamten wir anderen unseren Schritt. Chantal wandte sich daraufhin an mich und Bianca, sie sagte etwas verbittert: „Manchmal könnte ich Bertilein in seinen schwulen Arsch treten, er kotzt mich einfach nur noch an. Wenn es nach mir geht bleibe ich in Deutschland, die Sonne in Kalifornien ist mir ohnehin zu heiß, und ich habe das Gefühl die geht da auch niemals so richtig unter.“ „Ja,“ sagte ich, „dauernd die Sonne, die Wärme, die amerikanische Justiz, das alles zusammen, das lässt einen schon an Rückkehr in die Heimat denken.“ Bianca schloss sich meiner Meinung an, und durch diesen Zuspruch den Chantal von uns somit erhielt, war sie ermuntert heim zu kehren. Überzeugt war „ich“ in dem Moment natürlich nicht, aber auch „wir“ hatten ähnliche Gedanken, wir hatten sie nur nicht deutlich ausgesprochen, weil wir unserer Sache noch nicht sicher waren. Aber abends im Hotel, in Ottensen, als ich mit Bianca, zu der ich wieder „Maus“ sagen durfte, so im Bett lag, ja, da spürten- und hörten wir den Ruf der Freien und Hansestadt Hamburg, - irgendetwas war geschehen...

Dieser Moment, bevor man einschläft, - jeder kennt das Gefühl, dieser spezielle Moment, ließ in meinen Gedanken unsere Kinder Jennifer und David erscheinen. Ich sagte ihnen: „Gute Nacht.“ Und obwohl sie ja noch relativ klein waren, zudem waren sie in Santa Monica, sah ich ihr Lächeln, ich war erfreut, erfreut und beglückt. Ich stellte mir vor wie es sein würde, würden die beiden zusammen mit uns in Hamburg wohnen. Und ich glaube Bianca dachte Ähnliches, kurz, bevor „sie“ einschlief. Nicht dass wir ein Wort darüber sprachen, nein, so ist das nicht gemeint, es war so eine mentale Übereinstimmung, die sich, wenn man sich kennt, liebt und täglich miteinander zusammen ist, unweigerlich einstellt...

Gegen sechs Uhr in der Frühe muss es gewesen sein, als wir ziemlich gleichzeitig erwachten. Wir hatten beide nicht richtig geschlafen. „Du warst so unruhig letzte Nacht,“ sagte Bianca zu mir. „Du aber auch,“ sagte ich daraufhin. „Ja, ich glaube wir sollten uns wieder für Deutschland entscheiden. Amerika ist wunderschön, aber mir fehlt Deutschland immer mehr, je länger ich in diesem Hotel bin.“ „Mir geht es genauso,“ sagte ich, „und ich halte es auch für richtig, dass wir unsere Zelte in Santa Monica abbrechen. Wir werden in den nächsten Tagen zurückfliegen, alles auflösen, und dann werden wir, fürs Erste, hier im Hotel wohnen, zusammen mit Jennifer und David, bis wir etwas Eigenes gefunden haben.“ Als ich zu Ende gesprochen hatte, nahm mich Bianca in die Arme, sie drückte mich an sich, dabei hatte ich das Gefühl, dass wir uns niemals zuvor näher waren als in jenem Moment. Innerhalb von zehn Tagen, inklusive Hin- und Rückflug, war alles erledigt. Teufel und Chantal waren, durch unseren kompromisslosen Schritt, spontan ermutigt, es uns gleich zu tun. Und plötzlich waren wir alle wieder in Hamburg, vorerst „nur“ in einem Hotel, aber mehrere Lösungen, um das Wohnungsproblem auf Dauer zu beseitigen, waren bereits in Augenschein genommen worden. Bert Teufel und Chantal bezogen, von heute auf morgen, ein luxuriöses 3 Zimmer Appartement in Eimsbüttel. Bianca und ich hingegen waren uns noch nicht so richtig schlüssig, wo wir hinziehen wollten innerhalb von Hamburg. Familie Lüders bekam unser kleines Problem unweigerlich mit, und so kam es, dass Frau Lüders uns anbot: „Warum bleibt ihr mit den Kleinen nicht vorerst hier bei uns? Ich könnte euch das Zimmer neben dem eurigen vermieten, über den Preis werden wir uns schon einig, da sehe ich das geringste Problem. Und eine Tür zum anderen Zimmer bauen wir ohnehin ein, das war schon lange geplant, na wie sieht`s aus?“ Wir stimmten begeistert zu, noch am selben Tag unterschrieben wir einen unbefristeten Mietvertrag. Das Hotelleben hatte ja auch etwas für sich, es war aufregend und spannend, es war abwechslungsreich und nie langweilig. Für mich war es außerdem eine Stätte der Kreativität, meine Ideen wurden beflügelt, ich strebte in Richtung der literarischen und musikalischen Götter, vor allem am Vormittag, wenn ich alleine mit dem Schreiben oder dem Komponieren beschäftigt war, dann zog es mich in Sphären, die für den normal sterblichen Mitmenschen nur schwer nachzuvollziehen sind.

Vielleicht passt es an dieser Stelle nicht unbedingt hierher, aber es war wunderbar nun wieder regelmäßig Bier zu trinken, und zwar: Holsten-Edel. Das wohl göttlichste Gesöff, welches es überhaupt gibt, kein Vergleich mit einem Pilz. Sicherlich gibt es wichtigere Probleme auf der Welt, als sich zu besaufen, oder das Getränk beim Namen zu nennen, aber wer in Altona bei Möller schon mal saß, wer dort, im Laufe des Abends, von Nüchternheit ins totale Delirium abdriftete, derjenige weiß, was ich meine. Als mir- und Bianca bewusst wurde, dass wir nun wieder Teil der Stadt Hamburg waren, überkam uns die Lust diese Tatsache zu feiern. Und so rief ich bei Magda an, der besten Köchin die das Universum zu bieten hatte, denn nach Fleischskandalen, nach zweifelhaftem Olivenöl, welches sich auf dem deutschen Markt befand, nach ekelerregender Tierhaltung, nach all diesen Übeln, war es dringend von Nöten, dass für ein Fress- und Trinkgelage, eine Frau, eine Köchin, eine Göttin der „Haute Cusine“ herhalten musste – Magda, wer sonst? Ich war hierbei der Geldgeber, Magda sagte spontan zu. Und so feierten die uns wohlbekannten Darsteller an einem milden Sommerabend, verzaubert von den Kochkünsten unserer Magda, in einem Alternativ-Garten, wo sich die 1 ½ Meter hohen Hanfpflanzen, sanft im Wind wiegten, ein rauschendes Fest, mitten in Ottensen. Magda, Bianca, Chantal und auch die Studentin – Sybille von Burg, hatten sich aus einer Laune heraus, Hanfblüten in die Haare gesteckt. Teufel war amüsiert; Ralf war bereits „vor“ der eigentlichen Feier so voll, dass er zwischendurch immer wieder einschlief; Michael Jürf brach im Laufe des Abends mehrfach in Tränen aus; die Studentin legte zusammen mit Chantal, nach etlichen Joints und Wodkas, einen Striptease aufs Parkett. Ja, und um es kurz zu machen, es war eine richtige, wilde, geile und total extreme Feier – wirklich. Leider hatten die Grishams kurzfristig abgesagt. So gegen 22 Uhr klingelte es bei Magda an der Tür, sie öffnete, ein junger Mann stellte sich bei ihr vor: Timo. Timo? Der Busfahrer, welcher uns zur Ostsee- und zurück gefahren hatte. Er erkundigte sich nach Bert Teufel, Magda bat ihn herein. Und als Teufel ihn sah, ging für Teufel die Sonne auf, er konnte seine Verzückung kaum verbergen, Teufel bat Timo an unseren Tisch. Als Teufel ihn fragte ob etwas geschehen sei, brach Timo in Tränen aus, ebenso Michael Jürf, der sowieso den gesamten Abend nur geheult hatte. Magda reichte Papiertaschentücher. Timo erzählte, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte, dass sein Freund ihn verlassen habe, ferner habe er ihn aus der gemeinsamen Wohnung rausgeschmissen, und nun wüsste er nicht wohin, er sei völlig fertig. „Vorerst kommst du zu mir und zu Chantal nach Eimsbüttel, alles andere wird sich finden.“ Nach diesen tröstenden Worten, gab Timo Teufel einen langen Kuss, anschließend tanzten die beiden, eng umschlugen im Garten, der von Lampions erhellt war, im Hintergrund lief der Titel: „Sorry seems to be the hardest word“, von Elton John. Magda hatte das so eingerichtet, Chantal sah daraufhin Magda und Teufel sehr unfreundlich an. Es kam nicht zum Streit, dennoch war es wirklich ein schöner Abend, ganz ehrlich, warum sollte ich auch lügen?

Am darauffolgenden Morgen, um genau 9:18 Uhr, es war noch Frühstückszeit, Frau Lüders hatte gerade für uns serviert, schneiten die Grishams strahlend zur Tür herein: „Sie sind fertig!“ Sagte Arthur Grisham. „Fertig?“ Fragte ich erstaunt. „Was ist fertig?“ „Die Fotos von der Ostsee.“ „Ach so,“ sagte ich, „natürlich, jetzt dämmert es bei mir, die Fotos.“ Patricia sagte strahlend: „Sie sind wirklich unglaublich schön geworden.“ Und tatsächlich, was ich, Bianca und die Studentin zu sehen bekamen, ja, das war das Resultat eines begabten und leidenschaftlichen Hobby-Fotografen. Neben ein paar überbelichteten Bildern, teilweise auch etwas verwackelt sowie unscharf, - war das meiste Bildmaterial jedoch gut anzusehen. Ein Foto erregte besonders unsere Aufmerksamkeit, es war das Foto, welches Arthur Grisham im Übrigen, mit einem Teleobjektiv gemacht hatte, auf diesem Foto sah man Teufel und Timo, Hand in Hand, knutschend, und alles um sich herum vergessend, so als wären beide ganz alleine an der Ostsee gewesen. Die Studentin, Sybille von Burg, meinte, als sie sich das Foto so durchdringend betrachtete: „Schwul! Ganz schön schwul die beiden, na ja...“ Aber es waren natürlich auch noch andere Fotos zu bewundern, zum Beispiel der Blick über die Lübecker Bucht, oder den Priwall, oder auch das Foto, wo wir alle im Sand lagen und pausierten. Arthur Grisham fragte uns: „Wollt ihr Kopien von den Fotos?“ „Ja,“ sagte Bianca, „gar keine Frage, immer her damit.“ Auch die Studentin beauftragte Arthur Grisham ein paar Abzüge zu machen, der sich das alles sofort notierte und an seine Frau weiterreichte. „Patricia wird sich darum kümmern. Sie wird auch noch die anderen (Teufel & Co) Fragen. Ich muss nämlich kurzfristig aus Gründen der Lebenserhaltung in die neutrale Schweiz düsen, geschäftlich, wenn ihr versteht?“ Wir verstanden! Jedenfalls taten wir so. Und noch am selben Tag, ganz genau am Nachmittag, verabschiedete sich Arthur Grisham von uns mit den Worten: „So long... und bis bald, bin demnächst wieder da.“ Dann hörte man auch schon ein Taxi vor der Tür des Hotels hupen und Grisham entschwand in Richtung des Hamburger Flughafens. „Bist du traurig?“ Fragte Bianca Patricia. „Nein, nicht traurig. Es ist erfrischend mal ganz alleine zu schlafen, denn Arthur neigt zum Schnarchen, besonders dann, wenn er abends zuviel „Scotch on the rocks“ getrunken hat.“ „Trinkt Arthur regelmäßig seinen Schlummertrunk?“ Fragte ich. „Für ihn ist der Genuss von „Scotch“ ein Ritual, ein Lebensgefühl und wohl auch so ein bisschen Heimat in der Fremde.“ „Ja,“ sagte Bianca, „zum Thema Scotch, da könnte dir mein lieber Jürgen auch so einiges erzählen, nicht wahr mein Schatz?“ „Du hast wie immer recht Bianca.“ „Interessant,“ sagte Patricia daraufhin zu mir, „die Männer sind doch alle irgendwie gleich auf der Welt, nicht wahr?“

Diejenigen die das hier jetzt gerade lesen, werden sich sicherlich fragen: Was war mit den Kindern von Bianca und Jürgen? Wie verkrafteten sie das Hotelleben? Gerade, weil sie ja noch so klein waren... nun, um die Spannung zu lösen, die Kinder (Jennifer und David) wurden natürlich vorwiegend von Bianca versorgt und umsorgt. Ich kümmerte mich um meinen Nachwuchs auch, aber, meine Kreativität, musikalischer- wie auch literarischer Natur, durfte nicht beeinträchtigt werden, deshalb war die Aufgabenteilung in Bezug auf die lieben Kleinen von vornherein so geregelt, wie ich es eben formuliert habe. In Sachen Geld waren wir übrigens gut bestückt. Für uns hatte sich die Dealerei nicht nur gelohnt, nein, sie hatte uns in eine unabhängige Situation versetzt – Teufel und Chantal sowieso. Die Hanfplantage in Santa Monica, also irgendwo in der Nähe dort, warf, nach- wie vor, Gewinn ab. Wir (Bianca und ich) waren in Amerika davon nicht abhängig gewesen, aber Teufel bot uns eines schönen Tages eine Teilhaberschaft an und wir sagten zu. Dass wir in Deutschland alte Kontakte, so nach und nach wieder aufleben ließen, ich glaube das erübrigt sich hier an dieser Stelle ausführlich zu erörtern. Wir kamen gut klar, also, was will man mehr? Ist ja auch Blödsinn sich darüber Gedanken zu machen, wie man zu seinem täglichen Geld kommt. Ich glaube ohne Übertreibung sagen zu können, die deutsche Demokratie ermöglicht es jedem, egal wie viele Vorstrafen er hat, ob er ein Verbrecher ist oder nicht, ob er aus der Politik- oder aus der Wirtschaft kommt oder nicht, egal, was auch immer man hier in diesem Land war- oder ist, man kann sich auf Kosten der Allgemeinheit wunderbar frei entfalten, ohne sich übermäßig anstrengen zu müssen. Man wird für seine latente- oder auch ganz offensichtliche Kriminalität belohnt, das ist eben der Vorzug einer korrupten, dekadenten und vom ehrlichen Weg abgekommenen Gesellschaft, die sich einst auf ihre demokratischen Führer der einzelnen Parteien verlassen hat. Kirstin Lüders, die wieder ganz zahm und freundlich war, sagte diesbezüglich zu mir: „Ist doch geil, dass man hier machen kann was man will. Ich möchte gar nicht erst woanders „versuchen“ zu leben, denn, wo gibt es das schon, dass man für Mord, unter bestimmten Umständen, nur einen Anwalt braucht, um die Sache gerade zu biegen? Und es dauert dann gar nicht mehr lange, schon wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Das ist doch absolut super-geil, nicht wahr?“ Ich überlegte einen Moment, doch dann fragte ich sie: „Wie kommst du ausgerechnet auf Mord?“ „Ach, habe ich eben „Mord“ gesagt? Das ist mir gar nicht so bewusst gewesen, es muss sich dabei wohl um einen Versprecher gehandelt haben. Tut mir leid.“ Ob das nun wirklich nur ein Versprecher war oder nicht... die Botschaft, die dieses mit sich bringen sollte, nämlich an mich, die hatte ich durchaus verstanden. Kirstin war ein helles Köpfchen, ich glaube sie ahnte damals schon, dass ich und Bianca nicht nur von meinen musikalischen- wie auch literarischen Ergüssen leben konnten, aber ich machte mir keine Gedanken deswegen. Ich blieb cool.

Weniger cool blieben in unserer näheren Umgebung Leute wie Michael Jürf und Ralf. Michael wurde aufgrund seiner ständigen weinkrampfartigen Attacken die ihn im Suff überkamen, auf Anraten seiner besorgten Mutter, von einer Ausnahme-Kapazität, im Bereich der Psychologie behandelt. Der Behandlungsort war selbstverständlich: Horneburg. Hier, wo die vornehme Familie Jürf seit Mitte der siebziger Jahre, immer mal wieder hin- und her gezogen war, aus Gründen, die psychologisch kaum nachzuvollziehen sind, hier also wurde Michael in die fürsorglichen Hände eines Seelen-Klempners gegeben, um sein Problem zu behandeln und zu lösen. Ralf, der zu Schwermut und Amnesie neigende Voll-Blut-Alkoholiker, erging es nicht wesentlich anders. Magda war hierbei die treibende Kraft gewesen, weil Ralf nur noch besoffen im Bett lag und Fernsehen guckte. Er sprach in Rätseln, er wurde immer sonderbarer, er verfiel in Phasen von totaler Schizophrenie; manchmal kleidete er sich nachts an, fuhr mit dem Fahrrad an die Landungsbrücken und legte sich dort auf die Pontons, um die Bewegung der Elbe zu spüren. Die Hafenpolizei griff ihn mehrfach auf, Ralf drohte zu verwahrlosen, sein Bart war unnatürlich lang, er wechselte seine Unterwäsche nicht mehr regelmäßig, ferner geriet er mit Magda immer öfters in Streit, harmloseste Dinge des Alltages regten ihn so dermaßen auf, dass Magda ihn in die psychiatrische Klinik von Hamburg-Ochsenzoll einliefern ließ. Erst hier fand Ralf nach einem schweren Alkoholentzug zurück zur Wirklichkeit. Ralf begann Gedichte zu schreiben, er aß wieder mit Appetit, er hatte darüber hinaus ein gutes Verhältnis zu seinen Ärzten, die praktisch, rund um die Uhr, für ihn da waren. Es mangelte ihm an nichts, dennoch verfiel Ralf gelegentlich, immer mal wieder, in sogenannte: Krisen. Besonders die Eckkneipe „Möller“ in Altona fehlte ihm, so dass er mehrmals, sehr eindringlich, seine Ärzte darum bat, dorthin gehen zu dürfen – in Begleitung. Und es wurde tatsächlich eine Ausnahme für Ralf gemacht, Ralf trank natürlich nur kohlensäure-freie Selters bei „Möllers Eck“ unter Aufsicht, aber das Ambiente kam ihm zugute, sein Lebenswille schien reaktiviert zu sein, Ralf lächelte beglückt. Als der Abend hereinbrach, und sozusagen zum Abschied sowie für sein Stationszimmer in Hamburg-Ochsenzoll, schenkte ihm Doris, eine der Angestellten von Möller, ein Bild von „Möllers Eck“, und zwar so, wie es in den zwanziger Jahren im Eck aussah, Ralf bedankte sich dafür, er sagte 3 mal Danke. Dann ging er mit seinem Pfleger und mit seinem Arzt wieder zurück zum Altonaer Bahnhof, hier wartete er geduldig auf das Taxi, und schon hatte Ralf einen großen Schritt zurück ins „normale“ Leben geschafft, weil er sich friedlich aufgeführt hatte. Fettwanst Michael Jürf hingegen weinte, schrie und pöbelte in seinem Behandlungszimmer in „Horneburg“ so dermaßen aggressiv herum, dass er stärkere Medikamente bekam, und man ihn unter ständiger Aufsicht halten musste, weil er gedroht hatte seinen Psychotherapeuten zu erwürgen.

Es mag in diesem Zusammenhang vielleicht als unwichtig vom Leser empfunden werden, aber ich, ein interessierter Hobby- Psychologe, vertrat, zu dem damaligen Zeitpunkt, die Ansicht, dass Michael Jürf wie auch Ralf, unter Psychopathie litten. Bei beiden war, von Geburt an, die Anlage einer seelischen Fehlreaktion vorgegeben. Hierzu rechnete ich, und nicht nur ich allein, „alle“ seelisch-charakterlichen Abartigkeiten die man sich vorstellen kann, diese vor allem im affektiven und natürlich auch im willensmäßigen Bereich. Hervorzuheben sei besonders das Triebverhalten, welches nicht ungenannt werden darf, gerade, weil es in diesem Potential häufig zu Normabweichungen kommt. Intelligenzstörungen, so wie sie bei Michael und Ralf, intervallartig auftraten, werden mit der Psychopathie allerdings „nicht“ nach gängiger Meinung miteinander in Verbindung gebracht, auch wenn „ich“ bei Michael und Ralf häufig den Eindruck hatte, dass „beide“ diese Theorie, ganz eindeutig, widerlegen würden, wenn man ihnen zuhörte und sie gelegentlich beobachtete. Michaels Mutter, Christa, eine stets besorgte und zum Teil auch verwirrte Zeiterscheinung, hatte es ihrem Sohn immer recht leicht gemacht, indem sie ihm alles abnahm, damit er seinen fetten Körper nicht zu sehr bewegen musste. Christa Jürf und auch ihr Ehemann „Uwe“, die selber aus den ärmsten „Kieler Familien“ entsprungen waren, gehörten zu der sogenannten geschädigten Nachkriegsgeneration; deren ebenfalls verwöhnten, verzickten, verhätschelten und unselbständigen Töchter Susanne und Manuela, waren ein zusätzliches Abbild ihrer eigenen, ein wenig verkorksten, Individualität. Susanne, von allen nur zärtlich „Sanne“ genannt, betrieb in Horneburg zwar einen Schneiderladen, aber auch sie war geistesgestört, sie war in einem Maße erkrankt, dass die Mediziner sie als bedenklich einstuften. Sanne saß manchmal schon früh am Morgen im Schaufenster ihres Geschäftes und starrte regungslos auf den Gehweg, in Erwartung dass jemand kommen würde, obwohl sie ihren Laden noch gar nicht aufgeschlossen hatte, und das auch nicht im Geringsten beabsichtigte zu tun... wenn denn dann doch jemand kam. Nach einem Aufenthalt an der Ostseeküste, im Bereich „Rügen“, in einem Sanatorium für psychisch Kranke, erholte sie sich ein bisschen, doch ihr Hass auf Arbeitslose und auf Leute mit ähnlichen Problemen wie sie selber sie hatte, nein, dieser Hass legte sich nicht bei ihr. Sanne war Michael und ihrer Mutter Christa am ähnlichsten, alle drei verband das Gefühl: In einer Welt zu Leben, wo irreale Abläufe die Alltäglichkeit bestimmen, deshalb schlossen sie sich auch zusammen. Michael wurde beauftragt, nachdem man ihn aus seiner Behandlung entlassen hatte, Leute anzuwerben die genauso gestört waren wie er, seine Schwester Sanne und seine Mutter Christa, man wollte einen eingetragenen Verein gründen, mit dem Namen: Die Horneburger. Sicherlich, ein merkwürdiger Name für einen Verein, aber aufgrund der Vorgeschichte, durchaus verständlich, wenn man es auf die drei Gründungsmitglieder beschränkt und deren psychische Einschränkungen.

Doch es wurde alles noch viel schlimmer. Ende August 2005, kam es im verträumten Horneburg, kurzfristig, zu einem Einsatz des Sondereinsatzkommandos. Die gesamte Familie Jürf hatte sich in ihrem Reihenhaus verschanzt... und es war Uwe Jürf, der in den Morgenstunden, per E-Mail, der Stadt Horneburg gedroht hatte, einen Giftgasanschlag zu verüben. Nach dieser Ankündigung war Uwe dann völlig besoffen vor seinem PC zusammengebrochen, er war im Delirium und wollte Selbstmord begehen, wenn die Stadt Horneburg nicht auf seine Forderungen eingehen würde, so ähnlich hatte er sich per E-Mail geäußert. Uwe wollte freies Geleit, er wollte mit seiner Familie zum Priwall nach Travemünde ziehen, ferner verlangte er, dass man ihm und seinen Liebsten dort ein Haus zur Verfügung stellen muss, andernfalls hätte das für die Stadt Horneburg die wohl schlimmsten Konsequenzen. Die Einzige die „nicht“ im Haus der Familie Jürf war an dem Tag, war die schizophrene Tochter „Sanne“, sie saß mit einem geladenen Luftgewehr und einer Handgranaten-Imitation im Schaufenster ihres kleinen Ladens, mit einem Megaphon in der Hand berief sie sich immer wieder auf den „jüngsten Tag“, der unweigerlich kommen würde, würde die Stadt Horneburg nicht auf die Forderungen ihres Vaters eingehen. Sanne war mit Manuela, der ältesten Tochter im Hause Jürf, per Handy verbunden; was beide allerdings nicht wussten, war, dass das Sondereinsatzkommando ihre Gespräche mithörte. Christa Jürf, die wahnsinnige Mutter des Hauses Jürf, rannte während der ganzen Aktion, mit einer halb leeren Flasche Schnaps durchs Erdgeschoss, sie war angesoffen, aggressiv und sie befand sich in großer Aufregung. Nachdem die Sicherheitskräfte sich vor Ort einen Eindruck der Situation gemacht hatten, wurde das Reihenhaus der Familie Jürf gestürmt. Was sie vorfanden war nur mitleiderregend. Uwe Jürf kauerte im ersten Stock, geistig umnachtet, vor seinem PC, er wimmerte; Manuela Jürf hatte einen Kampfanzug an, einen Stahlhelm auf dem Kopf und sie drohte sich unverzüglich mit einer Handvoll „Chinaböller“ in die Luft zu sprengen, würde jemand näher kommen. Michael war mittlerweile vom Alkohol so fertig, dass er mit verheulten Augen vor dem Fernseher saß, und immer wieder bei dem Sender „Neun Live“ anrief, jener dubiosen Gewinnsendung aus München, bei der man Geldpakete gewinnen kann, wenn man Mitarbeiter von „Neun Live“ ist - so wurde gemunkelt. Christa Jürf, die sich fast „gar nicht mehr“ unter Kontrolle hatte, fuchtelte mit einem langen Küchenmesser herum, als sie dem Sondereinsatzkommando gegenüberstand. Doch es war alles umsonst. Das SEK entwaffnete Mutter Jürf, und nahm dann den Rest der Familie in Gewahrsam, auch Sanne, man brachte sie allerdings nicht zum Priwall nach Travemünde, sondern in die geschlossene Anstalt für Psychisch-Kranke in Hamburg-Ochsenzoll, wo sie umgehend medikamentös versorgt wurden.

Die Stippvisite

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