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FÜNF

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«WANN sind die Fotos fertig?», wollte Kappe wissen.

Schieck hob die Schultern. «Erst muss mal der Film entwickelt werden und trocknen. Vor morgen Mittag ist da nichts zu machen.»

Mit Mühe hatten sie sich in Buch in die S-Bahn gedrängt, die jetzt in den Bahnhof Gesundbrunnen einfuhr, wo viele umstiegen.

«Morgen Mittag?», erkundigte sich Kappe, als hätte er sich verhört. «Früher hatte ich so was nach zwei Stunden auf dem Tisch!» Er wusste, dass er mit dieser Bemerkung Schiecks Zorn erregte.

«Ja, ja, ihr hattet ein sagenhaftes Auto und studierte Techniker, und alles war überhaupt viel besser!», keifte der Fotograf ärgerlich und gleichwohl bemüht, nicht alle dicht um sie Gedrängten über ihren Gesprächsgegenstand aufzuklären. Dennoch konnte er sich nicht zurückhalten, leise und scharf hinzuzufügen: «Und alle waren bei der SS!»

«Die meisten», entgegnete Kappe ruhig. Er hatte genug davon, dass dieser Oberpimpf ihn ewig anstänkerte. Im Grunde war es gleichgültig, wann die Fotos vorlagen. Ein paar Stunden mehr oder weniger machten in dem Fall kaum etwas aus. Und ob die Frau sich damit identifizieren ließ, stand in den Sternen.

«Bringst du mir das mit dem Filmentwickeln bei?» Das war Holtefret, dem Schieck in der Hoffnung auf einen potenziellen jungen Genossen und damit auf einen Verbündeten gegen Kappe gleich das Du angeboten hatte.

Udo Schieck tat sich wichtig, lehnte aber nicht ab. «Kommt alles auf die Qualität der Chemikalien und die richtige Temperatur an», klärte er den künftigen Lehrling auf. «Da braucht man viel Fingerspitzengefühl.»

Eddie Holtefret nickte zufrieden. Als Junge hatte er eine Agfa-Box sein Eigen genannt und damit manchen, wie er jedenfalls fand, schönen Schnappschuss gemacht. Aber es dauerte, bis man die Bilder endlich in der Hand hielt, und es kostete. Wenn dieser Udo ihm das Entwickeln und das Vergrößern beibrachte, konnte er damit vor Roswitha glänzen, und sie brauchte nicht länger nach einem zuverlässigen Fotografen zu suchen. Vielleicht hatte die Mordkommission, abgesehen vom Leichengeruch, doch ihr Gutes.

In der Linienstraße verschwanden die beiden Fotokünstler in der ehemaligen Damentoilette, die Schieck sich als Dunkelkammer gesichert hatte und zu der nur er einen Schlüssel besaß.

Kappe wusch sich in der Herrentoilette die Hände und kehrte an sein Schreibmöbel zurück. Alles schien unverändert, nur der Stuhl fehlte. Wortlos, doch voller Ingrimm griff Kappe Schiecks Hocker und ließ sich darauf nieder. In einer Stunde war Feierabend. Er war noch nicht mal dazu gekommen, seine mittägliche Scheibe Brot zu essen. Dass ihm der Magen knurrte, darauf achtete er schon gar nicht mehr. Er trank einen Schluck von Klaras lauer Kaffeeplörre und verzog angewidert das Gesicht. Mein Gott, was man sich alles freiwillig antat!

Während er sich bemühte, das Brot möglichst langsam und sorgfältig zu kauen, sichtete er seine Notizen über die aufgefundene Leiche, die inzwischen hoffentlich bei den Gerichtsmedizinern gelandet war. Vielleicht fanden die etwas Brauchbares heraus. Seine eigenen Erkenntnisse lohnten kaum das Aufschreiben:

Nach anonym eingegangenem Anruf beim Polizeirevier in Buch Auffinden einer unbekannten weiblichen Leiche unbekannter Herkunft und unbekannten Alters. Todeszeitpunkt und -ursache ungewiss. Verwertbare Spuren: bisher keine.

Jemand hatte ihm ein Blatt auf den Schreibtisch gelegt, eine Pressenotiz, die der Polizeipräsident herauszugeben gedachte: Rückgang der Morde in Berlin.

Die Zahl war im August 1946 erstaunlicherweise tatsächlich auf 11 gegenüber 24 im Juni und 14 im Juli gesunken. Sogar die Selbstmorde hatten sich von 175 auf 133 vermindert, und nur 99 Verkehrstote standen 177 aus dem Juni gegenüber.

Woran das wohl lag? Im Gegensatz zu seinem Präsidenten gab Kappe sich da keiner Illusion hin. Elf Morde in einem Monat waren wahrlich noch immer genug, und täglich mehr als drei Tote auf den Straßen reichten bei dem bescheidenen Verkehrsaufkommen allemal. Für einen Augenblick dachte er an den Potsdamer Platz, wie er ihn einst gekannt hatte. War das länger als ein Menschenleben her? Würde nicht ein weiteres Menschenleben vergehen, bis der Verkehr dort wieder so rege floss wie einst?

Ohne anzuklopfen, betrat jemand den Raum. Irritiert blickte Kappe auf, er vermochte das Gesicht des Mannes jedoch in dem schlechten Licht nicht genau zu erkennen. Ein großer und in besseren Zeiten sicherlich kräftiger junger Mann jedenfalls, gekleidet in der bunten Tracht der Zeit: umgefärbte Uniformteile und darüber eine Art Joppe mit kariertem Muster, aus einer Decke vermutlich. Der Mann sagte: «Guten Tag! Bin ich hier richtig bei Kriminalinspektor Kappe?»

Kappe schoss das Blut zum Herzen. Für einen Augenblick glaubte er, ohnmächtig von Schiecks Hocker zu sinken. Die Stimme! Unter Tausenden hätte er sie erkannt. Und den Mann natürlich auch. Kappe stützte sich auf die Tischplatte und stand auf. «Hartmut!», entfuhr es ihm dumpf, und er schämte sich der Tränen nicht, die ihm nun in den Augen standen. Unbeholfen trat er auf seinen ältesten Sohn zu und umarmte ihn. Das war seit mindestens zehn, zwölf Jahren nicht mehr vorgekommen. Aber die Rührung durfte einen wohl übermannen, wenn der Kronprinz der Familie so plötzlich und unerwartet und noch dazu ohne erkennbare äußerliche Schäden vor einem stand.

Hartmut, einen halben Kopf größer als sein Vater, klopfte ihm mit der Handfläche auf den Rücken. «Ist ja schon gut», sagte er. «Ich bin wieder da.»

«Warst du schon zu Hause bei Mama?»

Hartmut schüttelte den Kopf. «Bin ja gerade erst angekommen», sagte er.

Kappe zog seinen Sohn näher zur Fensterluke und betrachtete ihn eingehend. Der Junge sah nicht einmal schlecht aus. «Wie hast du mich denn so schnell gefunden?»

Hartmut lachte. «Wo das Polizeipräsidium ist, habe ich mühelos erfahren …»

«Aber ich hätte ja auch …» Kappe ließ den Satz unvollendet.

Hartmut verstand dennoch. «Da hättest du dich aber sehr ändern müssen», sagte er. «Was sollten sie denn sonst mit so ’nem alten Mordkommissar wie dir anfangen?»

Kappe blieb ernst. «Hast du ’ne Ahnung! Hier sind schon ganz andere Leute verlorengegangen.»

«Na ja, das große Aufräumen ist wohl nötig», befand Hartmut leichthin. «Man hört ja, dass überall noch die Braunen drinstecken und ihre Köpfe recken.»

Kappe fragte nicht, wo der Sohn das gehört hatte, wenn er doch eben erst in Berlin eingetroffen war. Und was hieß «die Braunen»? War Hartmut nicht selber als begeisterter HJ-ler zu den Fliegern eingerückt? Hatte er als sein Vater nicht oft genug mit dem Jungen über die politischen und strategischen Fehler des größten Führers aller Zeiten gestritten, und hatte Hartmut ihn nicht seiner gefährlichen Ansichten wegen verwarnt?

Nun ja, die Zeiten hatten sich geändert, und Hartmut auch. Die Russen vollbrachten ja wahre Wunder der Umerziehung, wie Schieck oder der Polizeipräsident Markgraf bewiesen. Oder der Generalfeldmarschall Paulus, den sie im Februar vor dem Nürnberger Tribunal präsentiert hatten.

«Hast du schon eine Unterkunft?», erkundigte sich Kappe. Mit leichtem Schrecken dachte er daran, was für neue Probleme auf sie zukamen.

Hartmut jedoch winkte ab. «Mach dir keine Sorgen! Dafür ist gesorgt.»

Kappe konnte es noch immer kaum glauben. Immer wieder schüttelte er den Kopf. «Mein Gott, was wird deine Mutter sagen!»

«Ich hoffe, es geht ihr einigermaßen gut.»

«Na, du wirst sie ja nachher sehen. Das gibt ja ein richtiges Familienfest, wenn wir beide nach Hause kommen!»

«Karl-Heinz ist bei euch?»

Kappe nickte bedrückt. «Dein kleiner Bruder macht uns Sorgen», sagte er. «Aber damit will ich dich jetzt nicht behelligen. Wir haben ja noch den ganzen Nachhauseweg und den Abend miteinander.»

«Aber sonst kommt ihr zurecht?»

«Was bleibt uns anderes übrig? Verhungert sind wir jedenfalls noch nicht. Und irgendwas werden wir heute Abend auch zu deinem Empfang auf den Tisch bringen!»

«Ich fürchte, daraus wird nichts. Heute Abend hab ich leider etwas anderes vor. Grüß Mama erst mal von mir! Wir sehen uns am Wochenende.»

Was war das nun wieder? Befremdet blickte Kappe seinen Ältesten an. Was gab es Wichtigeres für den als die Familie? Dann begriff er. «Du triffst dich mit einer Frau», sagte er verständnisvoll. «Da muss Mama erst mal zurückstehen. Sie wird es nur nicht einsehen.»

Hartmuts nüchterne Antwort, im Augenblick gäbe es wichtigere Dinge als Frauen, überraschte Kappe. Was war mit dem Jungen los? Kam nach langen Jahren direkt aus der Kriegsgefangenschaft und spielte den Abgeklärten. «Hast du dich schon nach Arbeit umgeguckt?», wollte Kappe wissen.

Ein leichtes Grienen überzog Hartmuts Gesicht. «Deswegen bin ich ja hier», sagte er. «Sonst hätte ich dich kaum so schnell gefunden.»

Wieder dauerte es einen Augenblick, bis Kappe verstand. «Du willst zur Polizei?», fragte er ungläubig.

Hartmuts Antwort war nicht geeignet, seine Verwunderung zu mildern. «So ist es vorgesehen …»

Kappe stellte keine weitere Frage. Wenn etwas «so vorgesehen» war, dann kam es von ganz oben und blieb unwidersprochen. «Dann darf ich dich möglicherweise künftig zu meinen Chefs zählen», vermutete Kappe, bemüht, es nicht wie eine Frage klingen zu lassen.

«Ich glaube nicht», beruhigte ihn der Sohn. «Ich soll vorerst irgendwo aufs Revier.»

Im britischen oder amerikanischen Sektor, dachte Kappe, ohne es auszusprechen. Das war die übliche Taktik der Russen, ihre Leute als Ersatz für die Kommunisten unterzubringen, die von den Westalliierten entlassen worden waren. «Na gut, Herr Kollege in spe», sagte Kappe, und eine Spur von Bitterkeit klang in seiner Stimme mit. «Das sind ja eine ganze Menge Überraschungen auf einen Haufen. Nur wie ich deiner Mutter beibringen soll, dass du sie erst in ein paar Tagen sehen willst, weiß ich noch nicht.»

Kappes Ton brachte Hartmut doch ein wenig in Verlegenheit. «Wenn ich es schaffe, komme ich morgen Abend bei euch vorbei. Ich habe wirklich eine Menge um die Ohren, bis alle Papiere fertig sind …»

Kappe klopfte ihm auf die Schulter. «Tu Mama den Gefallen!», bat er väterlich. «Hast du überhaupt unsere Adresse?»

Hartmut nickte. «Die hat man mir schon gegeben.» Er drückte seinen Vater noch einmal an sich und verließ eilig den Raum.

Ein seltsamer Duft blieb zurück. Machorka, wie Kappe erkannte. Schwerfällig ließ er sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Was für ein unwahrscheinliches Glück: Beide Söhne hatten den Krieg überlebt. Und doch konnte Kappe nicht leugnen, so etwas wie Unzufriedenheit zu verspüren. Das mit Karl-Heinz ließ sich vielleicht noch hinbiegen, wenn die Zeiten erst wieder normaler waren. Bezüglich Hartmuts Wandlung war er da weniger zuversichtlich.

Kurz darauf betrat der Neue den Raum. «Kann ich noch irgendwas tun?», fragte er. Besonders unternehmungslustig klang es nicht.

Kappe blickte ihn melancholisch an. «Ist was drauf auf dem Film?», lautete seine Gegenfrage. Er misstraute Schiecks Fähigkeiten. Der hatte unlängst einen Film versaut und behauptet, es habe am Entwickler gelegen.

«Soweit ich das beurteilen kann, ist was zu erkennen. Muss aber erst trocknen.»

«Dann soll Schieck meinetwegen einen Fön nehmen!»»

Der Neue blickte ihn erstaunt an. «Der ist schon weg. Er musste ganz eilig zu einer Versammlung. Hat er Ihnen das nicht gesagt?»

Kappe griente bissig. «Da hat er dich nicht gleich mitgenommen?» Das Du floss ihm sonst nicht so leicht über die Lippen, aber bei dem Milchgesicht kam es wirklich nicht darauf an.

«In welcher Partei ist er denn?», erkundigte sich Holtefret.

Kappe hätte jetzt sagen können: In derselben, zu der mein ältester Sohn mit einiger Gewissheit bald gehören wird. Doch er hielt sich zurück. «Na rate mal!», sagte er. «Für Schieck gibt’s nur eine, und wenn es nach ihm ginge, wären wir alle längst seine Genossen.»

Holtefret hob die Schultern und sagte: «Ich mach mir nicht viel aus Politik.»

Heimkehr

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