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1 Zum Begriff der literarischen Ästhetik

1.1 Theorie als Übung

„Gewisse Erkenntnisse schützen sich selbst: man versteht sie nicht.“ (Nietzsche 1999, Bd. 8, S. 374) Wohl mancher, der sich in das weite und von Begriffsdornen zugewachsene Gebiet der Literaturtheorie vorwagt, mag seufzend eine solche oder eine ähnliche Feststellung getroffen haben. Noch immer – und vielleicht sogar in wachsendem Maße – umgibt das theoretische Nachdenken über die Prinzipien des Literarischen ein Nimbus, der viele dazu veranlasst, furchtsam Umwege um diese Begriffswildnis zu nehmen. Andere wiederum sehen sich dazu berufen, mit der etwas blinden und etwas größenwahnsinnigen Lust des Eroberers Schneisen in das Dickicht zu schlagen und dabei mehr zu zerstören als kennenzulernen. Die meisten bleiben ohnehin gleich zu Hause und beobachten das Geschehen lieber am Fernsehapparat der zahlreichen Einführungen, die es ihnen aus sicherer Entfernung und in leicht verdaulichen Dosierungen präsentieren. Das vorliegende Buch geht andere Wege. Es will den Leser weder in den Urwald der Theorie hineinstoßen und ihn zwingen, sich selbst irgendeinen Pfad freizukämpfen, indem es Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen immer schon voraussetzt oder diese nur ungenügend durchsichtig macht. Es zielt aber auch nicht darauf, ein dynamisches Nachdenken in ein statisches, auf Zusammenfassungen verkürztes Wissen umzuwandeln und als bloß lernbare Einheiten weiterzugeben. Natürlich gibt es auch auf dem Feld des grundsätzlichen Reflektierens über Literatur Wissensbestände, mit denen man sich vertraut machen sollte: Und vielleicht der wesentlichste Aspekt dieses Buches besteht darin, eine Auswahl an besonders wirkmächtigen Ideen zu treffen, deren Kenntnis Voraussetzung jeder Beschäftigung mit Literaturtheorie ist. Zugleich sind deren Begrifflichkeiten, in die mit diesem

[9] Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe.

Buch eingeführt werden soll, zum einen als Fragehorizonte und damit in ihren variablen Grenzen, zum anderen in ihrem Traditionszusammenhang und damit als Begriffsgeschichten zu rekonstruieren. Deshalb verzichtet das vorliegende Buch darauf, dieses Wissen tabellarisch zusammenzufassen oder irgendwie anderweitig didaktisch auf Posterform zu reduzieren. Eine einsichtige Gliederung, die übersichtliche Darstellung und die möglichst große Klarheit der Inhalte müssen genügen, um die Form der Wissensinhalte angemessen präsentieren zu können. Demgemäß sind die „Kontrollfragen“ am Ende jedes Kapitels vor allem als Anhaltspunkte dafür zu verstehen, welche Zentren der Argumentation dem Leser einsichtig gemacht werden sollten.

Wenn Friedrich Nietzsches Einsicht, mit der dieses Kapitel begonnen hat, zutrifft, dann will sich das vorliegende Buch gerade in das Schutzlose, oder mit einem Wort Hölderlins: in „das Offene“ (Hölderlin 1992, Bd. 1, S. 287) vorwagen, indem es die Begriffsbemühungen um die Literatur nicht nur durchsichtig, sondern auch zugänglich macht. Damit ist zugleich eine erste Notwendigkeit jeder sinnvollen didaktischen Aufbereitung von Theorie bezeichnet: Sie sollte nicht nur passives Wissen vermitteln, sondern den Leser mit Theorie als Tätigkeit, als etwas, das man selbst vollziehen muss, bekannt machen. Peter Sloterdijk hat dies im Konzept der „Übung“ gefasst: „Als Übung definiere ich jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht.“ (Sloterdijk 2009, S. 14) Eine Einführung in das theoretische Arbeiten mit Literatur hat nur Sinn, wenn sie als Theorietraining konzipiert ist: Wenn sie nicht für den Leser denkt, sondern ihm die Instrumente und Perspektiven dieses Feldes verfügbar macht und damit ein selbständiges Arbeiten ermöglicht. Nicht zuletzt der emphatische Charakter von Theorie überhaupt und auch die spezifische Theoriebildung einer „literarischen Ästhetik“, über deren prinzipielle Begründung in diesem ersten Kapitel gesprochen werden soll, machen eine solche Zielstellung notwendig: „Aber es gehört zur Wahrheit, daß man selbst als tätiges Subjekt dabei ist. Es mag einer Sätze hören, die an sich wahr sind, er erfährt ihre Wahrheit nur, indem er dabei denkt und weiter denkt.“ (Adorno 1988, S. 261)

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Damit wird der Impuls wieder ernst genommen, aus dem heraus die kulturwissenschaftliche Theoriebildung in den 60er Jahren des 20. Jh. einen großen Schub erhalten hat: die Demokratisierung des wissenschaftlichen Denkens. „Theorie war ein Weg, literarische Werke aus dem Würgegriff einer ‚literarischen Sensibilität‘ zu befreien und sie für eine Analyseart zu öffnen, an der sich zumindest prinzipiell jeder beteiligen konnte. […] Richtig verstanden ist Literaturtheorie eher von demokratischen als von elitären Anstößen geprägt worden; und in dem Grad, in dem sie wirklich in schwülstige Unlesbarkeit verfällt, wird sie ihren eigenen Wurzeln untreu.“ (Eagleton 1997, S. VII) Es sollte also kein Leser Angst davor haben müssen, in diesem Buch mit Wissen konfrontiert zu werden, das wiederum ein sehr spezielles Wissen voraussetzt. Wohl aber wird er sich darauf einstellen müssen, keine fertigen Antworten präsentiert zu bekommen, und oftmals am Ende eines Kapitels eher das Gefühl zu haben, erst am Anfang der jeweiligen Fragestellung zu stehen. Denn gerade das „Anfangen“ stellt im prinzipiellen Denken insofern eine Leistung dar, als es paradoxerweise eine Menge Sachverhalte und Überlegungen voraussetzt. Anfangen kann nur, wer bereits angefangen hat; wie beim hermeneutischen Zirkel (Kap. 10) kommt es also darauf an, in richtiger Weise in das Thema hineinzukommen und sich den Anfang zu erarbeiten. Ein zeitgenössischer Schriftsteller hat es prägnant formuliert: „Der Anfang ist einfach. Erst spät versteht man, wie schwierig der Anfang war.“ (Desperes 1998, S. 17) Damit der Leser auf dem Gebiet der Literaturtheorie anfangen kann anzufangen, ist dieses Buch geschrieben worden.

Es gehört zu den fundamentalen methodischen Paradoxien der Geistes- und Kulturwissenschaften, dass ihre Gegenstände mit einer zunehmenden höheren Auflösung des Blicks auf sie, d. h. in gesteigerter Genauigkeit des Zugriffs auf Strukturen, Zusammenhänge und Kontexte auf der mikroskopischen Ebene, oft eine völlig andere Beschreibung erzwingen als auf der makroskopischen Ebene – ohne dass deren Beschreibungen dadurch wiederum einfach negiert wären. Übergreifende, allgemeine und zusammenfassende Analysen historischer Phänomene der Kultur scheinen beinahe notwendig im konkreten Blick auf singuläre Gegenstände korrigiert, transformiert oder revidiert werden zu müssen. Zugleich können jedoch

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diese notwendigen Detailanalysen die Beschreibungen der übergreifenden Zusammenhänge, als deren kritische Verwandlung sie entstehen, nicht einfach ersetzen. Folglich müssen allgemeine Beschreibungen von vornherein richtig als Problemhorizonte, als narrativ, kausal bzw. rational geflochtenes Netz von Fragen verstanden werden. Diesen Problemnarrativen ist ihre Überschreitung als ‚kritischer Imperativ‘ eingeschrieben und als Aufforderung an den Leser mitgegeben: Nutze die allgemeinen historischen Muster und systematischen Kategorien als Fenster, durch das man erst auf die konkreten Phänomene schauen kann! In diesem Sinne sind auch die Ausführungen dieses Buches zu verstehen. Natürlich erheben auch Sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, alle möglichen Aspekte des jeweiligen Problemkomplexes vorzustellen. Schon die Auswahl der Theorieangebote, welche der Autor für besonders paradigmatisch hält, um an ihnen grundlegende Fragen des Begriffsfeldes diskutieren zu können, lässt sich stets kritisieren. Als Lehr- und Seminarwerk jedoch will das Buch ermöglichen, auch das, was manchem Fachkollegen vielleicht in dem einen oder anderen Kapitel fehlen mag, genauer und leichter anhand dessen zu diskutieren, was zur Verfügung gestellt wird. Denn Leerstellen sind nur in einem begrifflichen Koordinatensystem genau bestimmbar: In diesem Sinn will dieses Buch Grundprobleme so weit verständlich machen, damit alle nicht angesprochenen Aspekte sich mühelos in diese eintragen lassen. (Für einen umfassenderen und kleinteiligeren, gleichwohl narrativ ausgreifenden systematischen Überblick über das Ganze von Literaturwissenschaft und Literaturtheorie verweise ich auf zwei hervorragende Nachschlagewerke: zum einen auf das dreibändige Handbuch Literaturwissenschaft, das von Thomas Anz herausgegeben wurde. Zum anderen auf das ebenfalls dreibändige Fischer Lexikon Literatur unter der Herausgeberschaft von Ulfert Ricklefs. Auf die in beiden Werken zu dieser Einführung korrespondierenden Abschnitte wird im Band nicht extra verweisen; gleichwohl seien die Einzelverweise vom Leser stets unausgesprochen mitgedacht. Des Weiteren werden die entsprechenden Einträge im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft sowie im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie empfohlen).

Manch einem mögen außerdem die literarischen Beispiele fehlen, an denen und durch die Theorie erst lebendig und plausibel wird. Der Ver-

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such, die einzelnen Kapitel überschaubar zu halten und ohne allzu große Ablenkung bestimmte Theoriebausteine in ihrem historischen wie systematischen Zusammenhang übersichtlich darzustellen, hat dieses Opfer gefordert. Der Leser möge dies als Aufforderung verstehen, an seinen eigenen Lektüreerfahrungen immer wieder aufs Neue die „Probe aufs Exempel“ zu machen: Jede Theorie ist nur soweit sinnvoll, als sie Erfahrungsmaterial zu erschließen und zu erklären vermag. Die so erkaufte Fasslichkeit dieses Büchleins hingegen soll Leser dazu ermutigen, den Einstieg in das literaturtheoretische Denken zu wagen, weil neben der Mühe der Verstehens nicht auch noch riesige Textmassen in Bewegung gesetzt werden müssen. Dementsprechend sind auch einige inhaltliche Wiederholungen nicht getilgt worden, sodass zum einen jedes Kapitel auch für sich lesbar ist und zum anderen auf den „Verstehenseffekt“ der Wiederholung gesetzt wird.

Zum Gegenstandsbereich des Buches ist im Sinne eines „Vorbegriffs“ hinzuzufügen, dass hier ein „enger“ Literaturbegriff erst einmal fraglos Anwendung findet: Mit „Literatur“ ist also die „schöne“ bzw. künstlerisch gestaltete und gemeinte Literatur bezeichnet, deren Begriff sich vor allem im 18. Jh. herausbildet und die stets das Zentrum der modernen Disziplinen „Literaturwissenschaft“ und „Literaturtheorie“ gebildet hat. Diese Schwerpunktsetzung soll in keiner Weise normative Grenzen verfestigen, sondern ist einzig dem historisch gegebenen Theorierahmen des Faches sowie dem Genre der Einführung in den Kernbereich literaturwissenschaftlicher Beschäftigung geschuldet (als Hinweis auf die verschiedenen Literaturbegriffe Kap. 14.2).

1.2 Die Notwendigkeit der Theoriebildung für die Literatur

Warum aber ist überhaupt ein theoretisches Nachdenken über Literatur notwendig? Liegt nicht der „Sinn“ von Kunst, also auch von Literatur, in ihrem „Erleben“ (Kap. 9.2)? Ist Literatur nicht eigentlich dafür gemacht, dass man in sie eintaucht und ihre dargestellten Welten im erlebenden Nachvollzug erkundet? Ist es aber dann überhaupt angemessen, dass man entweder ihre einzelnen Werke analytisch zergliedert (Lite-

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raturwissenschaft) oder gar abstrakt darüber nachdenkt, was Literatur an sich eigentlich sei (Literaturtheorie)? Eine solche Position, die jede Übersetzung der Literatur in wissenschaftliche Begriffe ablehnt oder wenigstens als problematisch betrachtet, ist eine Art der Autonomieästhetik (Kap. 12.1). Historisch gesehen hat sie sich Ende des 18. Jh., in den Epochen von „Sturm und Drang“, Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Deutschem Idealismus entwickelt und ist vor allem durch Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) formuliert worden. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass Kunst nur ihren eigenen Gesetzen zu gehorchen hat und weder Wissenschaft, Moral oder Religion ihr „von außen“ Regeln vorschreiben dürfen. Verschärft führt dieser Gedanke dann zu der Annahme, es sei nicht nur unerlaubt, sondern sogar unmöglich, schöne Literatur durch andere Diskurse als sie selbst zu erfassen. Das Schöne, so schlussfolgert Moritz, darf nur durch sich selbst wahrgenommen werden, weil es nur für sich selbst da ist. Das bedeutet, dass jede Beschäftigung mit schönen Werken, die auf andere Darstellungsformen als das Werk selbst zurückgreift, dieses verfehlt. Bei Moritz heißt es: „Das Schöne will eben sowohl bloß um sein[er] selbst willen betrachtet und empfunden, als [auch] hervorgebracht seyn.“ (Moritz 2009, S. 58) Wo das Kunstwerk „den Endzweck und die Absicht seines Daseyns in sich selber hat“ (ebd. S. 59), da kann es jedenfalls nicht im Sinne der Kunst sein, dass man sie zu etwas Anderem gebraucht – wie z. B. zur wissenschaftlichen Analyse.

Sicherlich ist eine solche „autonomieästhetische“ Sichtweise auf Literatur unter den „gewöhnlichen“ Lesern, also in der breiten Öffentlichkeit, weit verbreitet. Man betrachtet Kunst und Literatur als etwas, über das man nicht wirklich streiten könne, weil jeder eine eigene Meinung dazu haben dürfe und auch jede Meinung irgendwie „richtig“ sei. In dieser Sichtweise ist der kompetente Literaturbenutzer immer derjenige, der die „ästhetische Erfahrung“ des Werkes gemacht hat, ohne zu glauben, dass diese intersubjektiv irgendwie vermittelbar oder gar überprüfbar wäre. Zwischen einer solchen, allein auf den „ästhetischen Genuss“ (vgl. Jauß 1997, S. 71 – 90) abzielenden Lektüre und der wissenschaftlichen Auffassung von Wesen und Funktion der Literatur klafft indes ein breiter Graben. Dieser Graben führt immer wieder dazu, dass Literaturwissenschaftler sich über das Desinteresse der Leserschaft für ihre Forschungsergebnisse

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beklagen und die Leserschaft das bunte Treiben der Literaturwissenschaft als elitäre, von ihrem Leseerleben abgewandte Veranstaltung begreift. Deshalb ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die Literaturwissenschaft zu stellen hat, die Vermittlung auch ihrer Diskussion um den Literaturbegriff in die lesende Öffentlichkeit. Sie muss Strategien der Darstellung entwickeln, die deutlich machen, dass die Dimension der „ästhetischen Erfahrung“ zwar unverzichtbar für jede Auseinandersetzung mit Literatur ist. Aber zugleich muss sie zeigen, dass man große Potentiale von Literatur – und vielleicht sogar die wichtigsten – ungenutzt lässt, wenn man sich nicht einer Anstrengung aussetzt, die Hegel einmal so treffend die „Arbeit des Begriffs“ (Hegel 1988, S. 43) genannt hat.

Theodor W. Adorno, einer der bedeutendsten Kunst- und Literaturtheoretiker des 20. Jh., hat in seinem kunstphilosophischem Hauptwerk Ästhetische Theorie das Verhältnis von Kunstwerk und Begriff, ästhetischem Erleben und sprachlichem Verstehen folgendermaßen beschrieben: „Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“ (Adorno 1996, S. 113) Hinter diesen rätselhaften Worten und der verschlungenen Argumentation, die noch an anderen Stellen dieses Buches zur Sprache kommen wird, steht erst einmal der Gedanke, dass Literatur auf ein Verstehen angewiesen ist, dass sich in Sprache artikuliert. Die „ästhetische Erfahrung“ von Literatur drängt darauf, sich in einem diskursiven Verstehen zu vertiefen: die reichen inhaltlichen Verweise, die genauen formensprachlichen Bezüge, das historische und intertextuelle Umfeld – all das und vieles weitere kann nur adäquat wahrgenommen werden, wenn es im Verstehen durch das Medium der Sprache festgehalten und bewusst gemacht wird. Bertolt Brecht hat in einem kleinen Text mit dem Titel Über das Zerpflücken von Gedichten (Brecht 1976, Bd. 19, S. 392f.) den „lebhaften Widerwillen“ des „Laien“ gegen das „Zerpflücken von Gedichten“ kritisiert und dagegen gerade die diskursive Analyse von Lyrik als Weg zu ihrer vertieften ästhetischen Erfahrung beschrieben: „Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.“ (Ebd., S. 393) Damit macht Bertolt Brecht klar, dass „Erleben“ und „Verstehen“

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nicht als ausschließender Gegensatz verstanden werden darf, sondern als ein Ergänzungsverhältnis. Die begriffliche Analyse steht nicht anstelle des Werkes, sondern dient ihrerseits als Medium einer reicheren ästhetischen Erfahrung, zu der sie hinführen soll (vgl. auch Szondi 1978, S. 265f.).

Diese Zusammenhänge werden in den Kapiteln 9 und 10 einer genaueren Betrachtung unterzogen. Für jetzt gilt es festzuhalten: Was für die konkrete Analyse des Einzelwerkes gilt, trifft auch auf die abstraktere, allgemeinere Analyse der Kunstwerkhaftigkeit von Literatur zu. Wie die Literatur auf ein Verstehen ihrer einzelnen Werke angewiesen ist, so auch auf ein Verstehen ihrer allgemeinen Merkmale: nicht zuletzt deshalb, weil das Problem, was Literatur eigentlich sei, gerade in der Moderne zu einem der wichtigsten Themen von Literatur selbst geworden ist. Mit dieser permanenten Selbstbezüglichkeit hat die Literatur der Moderne ein Merkmal produktiv aufgenommen, das ihr G. W. F. Hegel zu Anfang des 19. Jh. zugeschrieben hat (vgl. Hegel 1997, Bd. I, S. 127 – 144): Sie sei die ästhetisch höchste Form von kulturellem Selbstbewusstsein, also eine Weise, in der sich eine Kultur fundamental zu ihren eigenen Werten und Vorstellungen in ein verstehendes Verhältnis setzt (Kap. 13.3). Die Reflexion über den Literaturbegriff wäre demnach nur eine Verlängerung der reflexiven Tätigkeit, die Literatur selbst ist – und somit nichts Literaturfremdes. So wie in Literatur die Arten und Weisen, wie Menschen in einer bestimmten Kultur ihre Wirklichkeit erfahren, zu Bewusstsein gelangen, würde die Tätigkeit der Literaturtheorie diese innerliterarische Verstehensbewegung auf den Bereich der Literatur selbst erweitern. Sich derart über den „Begriff“ der Literatur in seiner historischen Veränderbarkeit zu verständigen, heißt, sich die wechselnden Vorstellungen bezüglich der Grundstrukturen, Funktionen und Grenzen der literarischen Kommunikation klar zu machen.

Nur von einem solchen Verständnis aus, das die Geschichte der vorangegangenen Grundverständnisse von Literatur reflektiert und in sich aufgenommen hat, lässt sich sinnvoll darüber reden, welche Fähigkeiten und Möglichkeiten die literarische Rede generell eröffnet und auf welchem Wege diese Potentiale am besten genutzt werden könnten. Es ist also nicht nur im Sinne eines umfassenden wissenschaftlichen Vorgehens, sondern auch im Sinne der ganz gewöhnlichen Leseerfahrung nützlich

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und notwendig, sich in die Reflexionsinstrumente des Literaturbegriffs einzuüben. Jedes literarische Werk führt die Geschichte der Einzelwerke, Gattungen, Epochen und Literaturvorstellungen virtuell mit sich und entsteht immer auch aus der Auseinandersetzung mit seinen historischen Vorgaben, die es bestätigt, relativiert, transformiert oder revolutioniert. Somit kommt nur der Leser befriedigend an die Potentiale der singulären, unmittelbaren ästhetischen Erfahrung heran, die sich in ihm einstellen, wenn er sich die Mühe macht, den Hintergrund der Begriffsbildung zu vergegenwärtigen, an dem sich das Werk bis in seine konkretesten und sinnlichsten Details hinein abarbeitet.

1.3 Der Begriff der Theorie und die theoretische Form der Literaturerfahrung

Warum muss dieses Nachdenken über Literatur aber als „Theorie“ stattfinden? Was ist der Vorteil einer „theoretischen“ Erschließung gegenüber einem nichttheoretischen Denken, das es zweifelsohne gibt und das sogar den „Normalfall“ der denkenden Betrachtung darstellt? Um dies zu beantworten, ist es notwendig, sich in aller Kürze darüber zu verständigen, was denn „Theorie“ in diesem Zusammenhang bedeutet und was sie leistet (zum antiken Sinn von „Theorie“ bei Aristoteles informativ Welsch 1996, S. 855 – 859). Dabei ist es sinnvoll, von den unzähligen wissenschaftlichen Zusammenhängen, in denen der Theoriebegriff eine jeweils etwas andere Rolle spielt, abzusehen, und sich stattdessen auf generelle Eigenschaften theoretischer Rede zu konzentrieren.

Jede Wissenschaft ist dort, wo sie ihre einzelnen Forschungsergebnisse in möglichst umfassender Weise deuten und begreifen will, auf Theoriebildung angewiesen: also darauf, nicht beim Einzelnen stehenzubleiben, sondern Gesetze, Regeln, Zusammenhänge, Bedingungen, Funktionen und Folgen bezüglich ihres Gegenstandsbereiches festzustellen. Umgekehrt lässt sich in keiner Wissenschaft überhaupt irgend etwas beobachten, solange man nicht durch theoretische Arbeit die Beobachtungsinstrumente erzeugt hat: Wissenschaftstheoretiker sprechen dabei von der „Theoriebeladenheit der Beobachtung“ (Carrier 2009,

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S. 19; vgl. Breidbach 2005). Die Dinge und Sachverhalte der Lebenswelt, um die wir uns denkend kümmern, führen ihre begrifflichen Erschließungsmöglichkeiten nicht wie wahrnehmbare Tatsachen mit sich: Wir nehmen die verschiedenen Möglichkeiten, bspw. Bäume begrifflich zu beschreiben, nicht in derselben mühelosen Weise wahr, wie wir Bäume selbst in ihrer reinen Wirklichkeitspräsenz ohne jede weitere Anstrengung als körperliche Dinge von bestimmter Form, Größe und Farbe erfahren. Theoretische Arbeit steht also am Anfang und am Ende jedes wissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Sie bildet die Klammer um die Gegenstandserkenntnis und macht es möglich, einzelnen Ergebnissen einen übertragbaren Rahmen zu geben: d. h. das Einzelne als Teil eines rationalen Zusammenhangs von Ursachen und Gründen zu begreifen.

Dabei kann man schematisch vier Erkenntnisinteressen von Theoriebildung unterscheiden (in leichter Abwandlung von Eberhard 1999, S. 16): das phänomenale, das kausale, das rationale und das aktionale. „Phänomenal“ erzeugen Theorien „Hypothesen und Thesen über das Erscheinungsbild des Erkenntnisgegenstandes“ (ebd.). Sie denken darüber nach, auf welche Weise und mit welchen (begrifflichen) Mitteln sich die Eigenart des Gegenstandes am genauesten und angemessensten beschreiben lässt. „Kausal“ stellen Theorien ihren Gegenstand in ein Geflecht äußerer Ursachen und fragen nach seinem Zustandekommen. „Rational“ fragen Theorien nach dem Zusammenhang von Gründen, der ihren Gegenstand so bestimmt hat, das er ist, wie er ist. Und „aktional“ denken Theorien über „Einwirkungsmöglichkeiten“ auf den Gegenstand nach, also darüber, wie man ihn erzeugen, beeinflussen oder verhindern könnte. Schließlich müsste man noch eine fünfte Dimension hinzufügen, die man das „historische“ oder auch das „metatheoretische“ Interesse der Theorie nennen kann. Theorien müssen sich in hohem Maße auch dafür interessieren, in welcher Weise bisherige Theorien ihren Gegenstand erforscht haben. Denn es hat sich gezeigt, dass in größeren zeitlichen Abständen oftmals „wissenschaftliche Revolutionen“ stattfinden, die deutlich machen, dass selbst in den Naturwissenschaften die grundlegendsten und anerkanntesten Theorien eines Gegenstandsbereiches veränderbar oder sogar vollständig revidierbar sind. Thomas Kuhn hat in einem „Klassiker“ der Wissenschaftstheorie mit dem Titel Die Struktur

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wissenschaftlicher Revolutionen deshalb von „Paradigmen“ gesprochen und die Gesetze ihres historischen Wechsels untersucht. Dabei meint er mit Paradigma „die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden.“ (Kuhn 1977, S. 389f.)

Wissenschaft basiert also in hohem Maße auf der Idee der Veränderlichkeit noch ihrer letzten und sichersten Grundannahmen; Umstürze in unserem Weltbild wie die durch Nikolaus Kopernikus oder Albert Einstein zeugen davon. Satirisch zugespitzt kommt dies in einem Ausspruch von Lichtenberg zum Vorschein: „Ich habe nun noch […] eine Theorie, die aber nicht mehr zu gebrauchen, denn sie ist vom vorigen Jahr.“ (Lichtenberg 1998, Bd. 3, S. 532). Das sollte man jedoch nicht nur negativ verstehen: Die Veränderlichkeit von Theorien sichert ihre Leistungsfähigkeit ab. Denn das Ideal jeder Wissenschaft ist in einem bestimmten Maß von der Idee des „Fortschritts“ abhängig. Theorien schließen an die Kette der schon bestehenden Theorien über ihren Gegenstand an, um aus deren Ergebnissen wie möglichen Fehlentwicklungen weiterführende und idealerweise genauere Gegenstandserkenntnisse zu erarbeiten. Die Klage über die Theorienvielfalt, die seit einigen Jahrzehnten in der Literaturwissenschaft geführt wird, hat eher damit zu tun, dass es hier kein evolutionäres Nacheinander von Theorien wie in den Naturwissenschaften gibt, sondern ein egalitäres Nebeneinander. Es scheint so, als habe eine geschichtsphilosophische Idee des 18. Jh. Eingang in die gegenwärtige Theorienlandschaft gefunden. Damals war man überzeugt, dass es einen echten Fortschritt und damit eine Überlegenheit der „Moderne“ gegenüber der „Antike“ nur auf dem Gebiet der Wissenschaften, nicht auf dem Gebiet der Künste geben könne, da in den Künsten die antiken Muster unübertrefflich seien, wohingegen die epistemische und technische Überlegenheit der Neuzeit nicht zu leugnen war (vgl. Jaumann 2007). Später hat sich diese Idee dahingehend gewandelt, dass man daraus einen Gegensatz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften machte, demzufolge es einen Fortschritt im Sinne einer „Überwindung“ vorhergehenden Wissens nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, nicht für die Geisteswissenschaften gibt (vgl. Gadamer 1986, S. 288f. [268]).

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Eine große Vielfalt konkurrierender Theorieprofile streitet sich heute auf diesem Feld darum, welches wohl die angemessenste Beschreibung des Gegenstandes „Literatur“ bereitstellt (Kap. 14.2). Inwiefern diese Pluralität von Paradigmen in der Literaturwissenschaft jedoch durch den Gegenstand bedingt ist oder nur eine Fehlentwicklung der Wissenschaftslandschaft darstellt, ist selbst eine theoretische, stark umkämpfte Frage. Die hier vorgeschlagene Tätigkeit einer „literarischen Ästhetik“ hat unter anderem den Vorteil, dass sie als Grundlagentheorie der Literatur den einzelnen Methoden vorgeschaltet sein soll. Sie entscheidet deshalb nicht, welche „richtig“ ist, sondern erarbeitet die vormethodischen Fragehorizonte des Gegenstandes, ohne jedoch ihre eigene Theoriehaftigkeit zu leugnen. Auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Nachdenkens gibt es keine Alternative zur Theoriebildung: Man kann Theorien nur mit Theorien vergleichen, Theorien nur durch Theorien kritisieren (vgl. Neurath 1979). Das bedeutet aber keine Beliebigkeit oder willkürliche Freiheit, bloß den eigenen Einfällen und Launen zu folgen.

Denn Theoriebildung in der Wissenschaft steht unter drei unbedingten Forderungen: weitestmögliche Begründbarkeit – höchstmögliche Differenziertheit – umfassendste Systematizität (vgl. Hoyningen-Huene 2009). Ihre Ergebnisse müssen sich demnach vor der Gemeinschaft einer ganzen Wissenschaft („scientific community“) rechtfertigen können: ob sie auch den Gegenstand in all seinen inneren Unterscheidungen und Einzelheiten angemessen erfassen und ob sie das Netz der Gründe und Beziehungen, in dem er in der Welt steht, herausstellen. Deshalb lässt sich definitorisch festhalten: Theorie ist ein System von Sätzen, durch welches sich ein relativ kohärenter Frage-, Begriffs- und Urteilszusammenhang über seinen Objektbereich ergibt, das einen umfassenden Erklärungs- und Begründungsanspruch bezüglich dieses Objektbereiches erhebt und das bestimmten Anforderungen an Genauigkeit, Rationalität und Systematizität genügen muss.

Alle diese Bewegungen der Theoriebildung zielen demnach darauf, den Gegenstand nicht bloß isoliert für sich zu betrachten, sondern ihn in umfassender Weise, und das heißt stets im Ganzen seiner Bedingungen, Strukturen und Wirkungen zu begreifen. Die Theorie der Literatur macht da prinzipiell keine Ausnahme – und darf es auch nicht, will sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht ablegen müssen. Trotzdem

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ist die Theoriefähigkeit der Literatur seit der bereits skizzierten Wende der „Autonomieästhetik“ im 18. Jh. stark umstritten. Es gibt auch heute eine eigene, durchaus anregende Theorie der Theorieunfähigkeit von Literatur, die sich durch verschiedene Methoden und Literaturtheorien zieht (Werkimmanente Methode, Diskursanalyse, Dekonstruktion). Die Leistung von Literatur liege demnach darin, als „Gegendiskurs“ (Foucault 1971, S. 76) gerade das rationalistische Ideal der Wissenschaft zu unterlaufen und damit die „letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen“ (Geisenhanslüke 2003, S. 8) zum Ausdruck zu bringen. Diese für das Wissenschaftsverständnis der Literaturwissenschaft problematische Grunddifferenz, die besagt, dass sie ihren Gegenstand irgendwie auch immer schon verfehlt, findet sich auch in „Supertheorien“ wie der Systemtheorie wieder, für die „Literatur und Literaturwissenschaft […] wechselseitig Umwelt füreinander“ (Ort 2002, S. 202) und deshalb bis zu einem gewissen Grad einander unzugänglich sind. Diese Ansicht von Kunst und Literatur liegt in der Ursprungsgeschichte der Disziplin „Ästhetik“ begründet (Kap. 2). Sie kann insofern verallgemeinert und zu einem Grundpfeiler der Theorie von Literatur gemacht werden, als sie Literatur als etwas wesentlich Nicht-Selbstverständliches fasst. Damit aber qualifiziert sich Literatur sogar in besonderer Weise als theoriefähig, wenn man Theoriebildung als verstehende Erweiterung des Gegenstandes über sein bloßes Dasein hinaus begreift, wie oben skizziert wurde.

Denn Literatur ist zum einen das Nicht-Selbstverständliche, weil sie seit dem 18. Jh. durchgängig als Diskurs gefasst wird, der eingefahrene Verstehensmuster und Überzeugungen kritisch hinterfragt und gegebenenfalls auflöst. Literatur ist zum anderen das Nicht-Selbstverständliche, weil sie nicht völlig aus sich selbst heraus verstehbar ist (eine Gegenposition dazu ist neuerdings Mussil 2006): weil sie das Verständnis der historisch-epochalen Rahmenbedingungen ihrer Produktion benötigt, um vollends erfasst zu werden (Kap. 13.1). Literatur ist drittens das Nicht-Selbstverständliche, weil die Art und Weise, wie das einzelne Werk erscheint, stets die „Warum“-Frage an den Leser stellt: Warum bin ich so und nicht anders gestaltet? Aus welchem Grund verknüpfe ich die Elemente in dieser Weise und nicht in einer anderen, warum rede ich so von meinen Gegenständen und nicht anders? Für Kunstwerke ist näm-

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lich die funktionale oder kausale Erklärung, die wir bei solchen Fragen in der Lebenswelt heranziehen würden, sinnlos oder wenigstens höchst unbefriedigend. Es mag richtig sein, die Form eines Hammers mit seiner besonders großen Schlagwirkung oder die Schärfe einer Speise mit der Vorliebe der Köchin für Gewürze zu erklären und das in Frage stehende Phänomen damit zu „verstehen“. Für literarische Werke ist jedoch wenig damit gewonnen, ihr Sosein aus den Bedingungen ihrer Entstehung oder ihres Zwecks heraus zu erklären: Man hat Goethes Wahlverwandtschaften weder verstanden, wenn man herausfindet, wozu ein solcher Roman alles gebraucht werden kann, noch dann, wenn einem klar ist, wie bestimmte Inhalte auf bestimmte Eigenschaften, Meinungen oder Absichten Goethes zurückzuführen sind. Im Kapitel zum „Verstehen“ und zur „Interpretation“ werden wir uns diesen Fragen genauer widmen. Festzuhalten bleibt: Literatur ist also in besonderer Weise theoriefähig, weil sie sich durch eine spezielle Grundspannung auszeichnet. Die ästhetische Erfahrung des literarischen Werkes beruht ganz wesentlich auf seinem individuellen Gestaltungszusammenhang und weist doch auch ständig über diesen hinaus.

Literatur zielt so von sich aus darauf, in größere historische Zusammenhänge gestellt zu werden („Systematizität“) und nach besonderen wie allgemeinen Gründen ihres So-Seins zu fragen („Rationalität“); dies aber stets im Dienst einer möglichst großen Differenziertheit, mit der jeder Einzelheit der Gestaltung des Werkes Aufmerksamkeit geschenkt werden soll („Genauigkeit“). Ob diese Theorieaffinität von Literatur wiederum dazu führen muss, dass man von ihr einen genauen Begriff finden kann, der notwendige und hinreichende Merkmale zusammenfasst, ist eine Frage, die unabhängig davon zu behandeln ist. Wichtig ist deshalb, dass man diese beide Fragen prinzipiell voneinander trennt – was nicht heißt, dass die Antwort auf beide sie nicht doch wieder zusammenführt. Aber Literatur als etwas der theoretischen Begriffsbildung Entgegengesetztes zu betrachten, ist nur eine mögliche Antwort auf die generelle und unabweisbare theoretische Frage, die jedes einzelne literarische Werk selbst (dar)stellt und die direkt mit seiner literarischen Form zusammenhängt: Was bin ich? Die Literaturerfahrung selbst ist bereits unabweisbar theoretisch.

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1.4 Literaturtheorie und literarische Ästhetik

Warum aber heißt das Unternehmen, das hier vorgestellt wird, denn nun „literarische Ästhetik“ und nicht „Literaturtheorie“, da eben gerade soviel von „Theorie“ die Rede war? Mit der Antwort auf diese Frage kommt man zum Problem des „Anfangens“ zurück, dass gleich zu Beginn dieses Kapitels besprochen wurde. Beide Begriffe – „Ästhetik“ und „Literaturtheorie“ – entspringen jeweils einer bestimmten Epoche und tragen auch deshalb eine bestimmte, etwas anders gelagerte historische Bedeutung an sich. Zum Begriff der „Ästhetik“ wird Kapitel 2 informieren. Es ist aber bereits anzumerken, dass „Ästhetik“ hier im Sinn von „Kunstphilosophie“ – also hier „Philosophie der Literatur“ –, nicht aber als Begriff für die Reflexion über das Sinnliche oder die Wahrnehmung gebraucht wird. (Alle drei Bedeutungen verschränken sich im Begriffsgebrauch des späten 18. Jh.)

Der Begriff der „Literaturtheorie“ bezieht sich historisch auf Theorien, die sich seit den 50er Jahren des 20. Jh. entwickelt haben (Hermeneutik, Psychoanalyse, Strukturalismus, Kritische Theorie, Diskursanalyse, Dekonstruktion, gender studies etc.) und denen mindestens drei Punkte gemeinsam sind: A) Bis auf die sogenannte „Werkimmanente Methode“ (Emil Staiger, Wolfgang Kayser) sind diese Theorien dadurch gekennzeichnet, dass sie dezidiert für andere bzw. weitergefasste kulturwissenschaftliche Gebiete als nur die Literatur entwickelt wurden (Soziologie, Semiotik, Hermeneutik, Ethnologie, Phänomenologie etc.), dann aber für die theoretische Erschließung literarischer Phänomene fruchtbar gemacht worden sind. Daran lässt sich sehen, in welcher Weise die Literaturwissenschaft des 20. Jh. immer schon auf kulturwissenschaftliche Weise mit anderen Disziplinen vernetzt gewesen ist und wie sie aus kulturtheoretischen Ansätzen literaturtheoretisches Potential zu schöpfen vermochte. Beispielsweise hat die Dekonstruktion die Literaturwissenschaft auf ganze neue Weise „das Lesen gelehrt“: indem sie auf die „Ränder“ der Texte, d. h. das in ihnen Verdrängte und scheinbar Unwesentliche aufmerksam gemacht hat. B) Diese Theorien stehen zueinander in einem Verhältnis „zugelassener Pluralität“. Keine kann wirklich und letztgültig beanspruchen, die alleinige Erklärung zu besitzen, was Literatur ist. Vielmehr muss

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von einem Ergänzungsverhältnis gesprochen werden. Dort, wo die eine Theorie bspw. stärker die negativistischen, auf Bedeutungszersetzung gerichteten Energien literarischer Texte betont (Dekonstruktion), kann die andere die sinnstabilisierenden, zweifellos ebenso realen Potentiale von Literatur dagegen halten (Hermeneutik). Die Widersprüche, aus denen bestimmte Theorieprofile hervorgehen (Strukturalismus – Poststrukturalismus, Hermeneutik – Dekonstruktion), sind so in der historischen Gesamtschau vielmehr als Ergänzungen zu verstehen, die der Komplexität des in sich widerspruchsvollen Phänomens „Literatur“ gerecht zu werden suchen. Die Theorie der Theoriebildung spricht hier von „irreduzibler Paradigmenpluralität“: „Unterschiedliche Paradigmen vertreten abweichende Grundvorstellungen von dem Rationalitätstyp, für den sie stehen. Mangels eines Metakriteriums läßt sich zwischen diesen Optionen aber keine verbindliche Entscheidung mehr treffen, so daß die Pluralität der Paradigmen und Optionen unbeendbar ist.“ (Welsch 1996, S. 606). C) Diesen Literaturtheorien ist es gemein, dass sie sich der Literatur zwar nicht ausschließlich, aber doch in beträchtlichem Maße unter einer methodologischen Fragestellung nähern. Sie zielen letztlich darauf, Anleitungen zu geben, mit welchen Instrumenten und auf welche Weise man sich der Literatur am angemessensten nähern soll. Diese „technische“ Ausrichtung bedingt viele Blickschärfungen auf das Phänomen, aber ebenso zahlreiche Ausschlüsse. Literaturtheoretische Fragen, die nicht unmittelbar methodologisch nutzbar zu machen sind, können dort nur unzureichend aufgenommen und diskutiert werden. Literaturtheorien sind also selektive, durch theoretische Kontexte und Interessen gefilterte und methodisch ausgerichtete Antworten auf die Liste von Fragen, die mit dem Literaturbegriff zusammenhängen.

Demgegenüber soll der Terminus „literarische Ästhetik“ in diesem Band eine historische wie systematische Vorzeitigkeit gegenüber den „Literaturtheorien“ deutlich machen. Zum einen wird mit diesem Begriff nämlich auf die historische „Vorgeschichte“ der neueren Literaturtheorien im 18./ 19. Jh. rekurriert und so deutlich gemacht, dass diese trotz aller Neueinsätze und Differenzen nur aus den Fragestellungen und Begriffsgeschichten dieses Kontinuums zu begreifen sind. Zum anderen will die „literarische Ästhetik“ ein Unternehmen sein, dass systematisch

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die Grundlagen für methodische Literaturtheorien bereitstellt: indem sie kategoriale Fragen des Literaturbegriffs aufstellt und in ihren Antwortmöglichkeiten diskutiert. Diese Fragen liegen den methodischen, aus bestimmten Theoriegebäuden abgeleiteten Überlegungen der verschiedenen Literaturtheorien zugrunde. Sie bilden den Gesamthorizont, vor dessen Hintergrund die Literaturtheorien ihre Begriffe von Literatur bilden können, den sie aber deshalb immer nur partiell realisieren. Zudem ist mit der Bezeichnung „literarische Ästhetik“ auch der Gegenstandsbereich dessen, worauf sich die vorgestellten theoretischen Perspektiven beziehen, in seinem Bestand mit eingegrenzt: Objekt und Grundlage sind die Werke der „modernen“ Literatur, wenn man mit „Moderne“ die Großepoche seit der europäischen „Aufklärung“ des 18. Jh. meint. Das bedeutet keinesfalls, dass die im Folgenden erörterten Begriffs- und Problemdimensionen einzig und ausschließlich für literarische Werke seit dem 18. Jh. gelten können; aber man muss beachten, dass zahlreiche Zuspitzungen durchaus damit zu tun haben, dass sich in der Disziplin der „Ästhetik“ als Philosophie der Kunst die kulturelle Moderne Europas wesentlich mit begründet und deshalb das Interesse darauf gerichtet ist, der Modernität des Literarischen theoretisch zu genügen.

„Kategorie“ ist seit Aristoteles als Aussageschema definiert (Aristoteles 1998, 2a): Das sind Grundbegriffe, die in unserem Sprechen immer schon verwendet werden, damit wir überhaupt „Etwas“ sagen können, die aber selbst nicht mehr auf grundlegendere Begriffe zurückgeführt werden können. Man könnte sie somit als die Grammatik des Seienden bezeichnen. So ist laut Aristoteles bspw. ohne die Kategorie „Substanz“ kein sinnvolles Sprechen möglich. Wenn wir über Wirklichkeit reden, müssen wir diese in der Form fester, sich von Augenblick zu Augenblick nicht völlig verändernder Gegenstände – eben „Substanzen“ – ansprechen. Sonst könnten wir nicht sagen, über was wir da eigentlich reden und wem wir irgendwelche Eigenschaften zusprechen. Dieses innere Netz an Bestimmungen, das dem Gegenstand erst seinen Halt in der Wirklichkeit gibt, ist der „Anfang vor dem Anfang“: das, was nicht weggedacht werden kann, ohne den Gegenstand aufzuheben. Die „literarische Ästhetik“ will diese Grundbegriffe von Literatur in Form von Fragehorizonten auf übersichtliche Weise herausarbeiten.

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Der Umgang mit derartigen kategorialen Fragen ist im Rahmen des Studiums der Literaturwissenschaft eine Bedingung der „Mündigkeit“ gegenüber dem Gegenstand (Literatur) wie auch gegenüber der Forschung. Das Wissen darüber, was Literatur ist und kann, sowie die Fähigkeit, Theoriezusammenhänge eigenständig zu durchdenken und möglicherweise zu verändern oder gar zu revidieren, sind dabei zwei Seiten wissenschaftlicher Freiheit. Nur mit einem solchen kategorialen Wissen und der Fähigkeit seiner reflektierten Anwendung erarbeitet man sich die nötige Distanz gegenüber dem Gegenstand, die unabdingbare Voraussetzung gerade der größten Nähe des Verstehens zu ihm ist. Im Sinne einer solchen Denkanleitung will das vorliegende Buch für den, welcher sich derartigen Fragen bisher nicht oder nur zögerlich genähert hat, einen Anfang möglich machen. Dabei ist es mit einer Landkarte vergleichbar: Es verzeichnet den Grundriss des Geländes, die begehbaren und unbegehbaren Wege, die Hauptverkehrsstraßen und Abzweigungen. Es ist nur so detailliert wie notwendig, um ein in sich hinreichend bestimmtes Wissen vom Verhältnis des Ganzen zu allen wesentlichen Teilen zu gewinnen (darin übrigens aller guten Philosophie vergleichbar; Wiesing 2009, S. 15). Aber es nimmt einem nicht ab, hinzugehen und sich das Gelände anzuschauen, wenn man es wirklich kennenlernen will.

Kontrollfragen:

1. Erläutern Sie den historischen Unterschied zwischen „Literaturtheorie“ und „literarischer Ästhetik“!

2. Was versteht man unter „Theorie“?

3. Warum ist Theoriebildung für das vertiefte Verständnis von Literatur notwendig?

Literaturempfehlungen:

Szondi, Peter: Über philologische Erkenntnis. In: Szondi 1978, Bd. 1, S. 263 – 286.

Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 4 1997, S. 1 – 19 (Kap. 1)

Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine ganz kurze Einführung. Stuttgart 2002, S. 9 – 64 (Kap. 1 und Kap. 2)

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Literarische Ästhetik

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