Читать книгу Blut zu Blut - Janaina Geismar - Страница 5

Kapitel 3

Оглавление

Ryu öffnete die Augen, dehnte und reckte ihre Glieder und stellte fest, dass sie sich immer besser bewegen konnte. Sie ging ans Fenster und bemerkte die Menschen und Fahrzeuge auf dem Vorplatz. Dort hatten zwei Polizeiautos und ein Krankenwagen gehalten.

Zwei Männer trugen schnellen Schrittes eine Tragbahre, wer darauf lag, konnte sie nicht erkennen, da die Person in einem schwarzen länglichen Sack steckte. Die Männer gingen nicht besonders sorgsam mit der Bahre um und rüttelten den schwarzen Sack ziemlich heftig durch. Ryu schaute sich das Geschehen eine Weile an, dann wollte sie wieder zum Bett, als Frau Sorokin ihr Zimmer betrat.

„Du bist aber schon früh wach“, sagte sie und ging zu Ryu ans Fenster.

„Was ist denn da passiert?“, fragte Ryu, doch Frau Sorokin antwortete nicht und zog den Vorhang vor dem Fenster zu.

„Nichts Besonderes, man bringt uns einen neuen Patienten. Nun setz dich erst mal und frühstücke. Du musst regelmäßig essen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst“, sagte sie und stellte das Tablett auf den kleinen Tisch.

„Wann sagt mir endlich jemand, was passiert ist?“, flüsterte Ryu und riss den Vorhang vor dem Fenster wieder auf. Das Dämmerlicht im Krankenzimmer machte ihr Angst. Frau Sorokin seufzte, nahm sich einen Hocker und setzte sich hin. „Eigentlich wollte der Doktor mit dir über deinen Unfall reden, aber so wie es aussieht, solltest du das besser jetzt erfahren,“ meinte sie und winkte Ryu mit einer herrischen Geste zu sich. Ryu setzte sich aufs Bett, sie war aus einem Grund, den sie selbst nicht zu nennen wusste, so aufgeregt, dass ihr Herz so heftig pochte, als wolle es ihr gleich aus der Brust springen.

Frau Sorokin schlug ihre Beine über, ihr Minirock rutschte hoch und Haut legte sich auf Haut. Ihr Miene wurde ernst und ihre stahlblauen Augen fixierten Ryu so intensiv, dass Ryu ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ihre blutroten Lippen, die einen extremen Kontrast zur kreideweißen Haut bildeten, bewegten sich langsam.

„Deine Eltern wollten mit dir in den Urlaub fahren,“ sagte sie und senkte den Blick nach unten, als würde sie etwas verschleiern wollen.

„Eine Krähe flog gegen die Windschutzscheibe, dein Vater hatte sich so erschreckt, dass er das Lenkrad verriss und den Wagen gegen einen Baum steuerte. Deine Eltern waren sofort tot und du lagst im Koma. Da wir bis heute keine Informationen haben, ob du irgendwelche Verwandte hast, wirst du noch eine Weile hier bleiben, bis uns neue Nachrichten vorliegen.“

Ryu war geschockt, ihr Herz hatte einen gefühlten Aussetzer, in ihrem Kopf begann es zu hämmern und vor ihren Augen flimmerte es.

Dann sah sie sich undeutlich und verschwommen in einem Auto, vor ihr saßen zwei Personen. Der Mann saß am Steuer, die Frau drehte sich um und fuhr sich nervös durch ihr blondes sprödes Haar. Das Gesicht der Frau konnte sie nicht erkennen, es war wie auf einem Foto , auf dem die Farbe an bestimmten Stellen verblichen war.

Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall und es wurde alles schwarz um Ryu.

Danach sah sie nichts und hörte nichts, bis sie einen weißen Spalt entdeckte, sie bemerkte erst jetzt, dass ihre Augen bis auf schmale Sehschlitze geschlossen waren.

Sie öffnete ihre Augen und grelles gleißendes Licht, das wie ein Messer in ihre Augen schnitt, blendete sie. Ryu blinzelte ein paar Mal, bis ihre Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, und stand auf. Ihre Beine zitterten leicht, es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten.

Wabernde Schatten zogen durch das Zimmer und verschwanden so plötzlich, wie sie eingedrungen waren. Ryu blinzelte noch einmal und erkannte, dass irgendetwas draußen vorbei geflogen sein musste, und ging schnell zum Fenster hin.

Sie sah einen großen Baum mit vielen Ästen, darauf saßen unzählige Krähen, die einen Lärm machten, die den jeder Großbaustelle übertönen würde.

Unter dem Baum stand ein Mann, sein Blick war auf Ryu gerichtet. Seine grauen gefühllosen Augen blickten vorwurfsvoll und anklagend, als habe Ryu eine schwere Schuld auf sich geladen. Er trug einen schwarzen langen Mantel, der vom Wind nach hinten geweht wurde. Sein schwarzes Hemd lang eng an seinem hageren Körper, an seiner schwarzen zerknitterten Hose zerrte der Wind. Die schwarzen zerzausten Haare fielen in sein Gesicht. Seine schmale Gestalt sah müde und erschöpft aus.

Er wandte seinen Blick von ihr ab und ging davon, wobei alle Müdigkeit von ihm gewichen schien, denn sein Gang war geschmeidig und schwebend, als würden die Füße den Boden nicht berühren. Plötzlich flogen alle Krähen gleichzeitig auf, ihr schwarzes Gefieder verdunkelte mit einem Schlag den Himmel, so dass man glauben konnte, die Nacht sei plötzlich hereingebrochen. Die Vögel verdeckten für einige Sekunden die Sonne komplett wie eine kurze Sonnenfinsternis, aber das eigentlich Unheimliche war, dass in der tiefen Dunkelheit ihre Leiber zu einem einzigen pulsierenden Leib verschmolzen.

Es wurde still, kein einziger Laut war zu hören. Ryu starrte in die Richtung, in die der Mann verschwunden war, doch der Erdboden schien ihn verschluckt zu haben.

Sie ging wieder auf ihr Bett zu und setzte sich hin, sie dachte über alle Ereignisse nach, über die seltsame Krankenschwester, die gekleidet war, als würde sie zu einem Date gehen, der merkwürdige Arzt, der sich nicht blicken ließ, die unheimlichen Krähen und der Mann, der so anklagend zu ihr hinüber gestarrt hatte. Ryu schüttelte sich, es waren zu viele Informationen für ihren leeren Kopf und sie beschloss, sich wieder hinzulegen und auszuruhen.

Plötzlich ging die Tür auf, eine junge Frau betrat ihr Zimmer, ihre langen dunkel braunen Haare waren zu einem dicken Bauernzopf zusammen geflochten, was wieder in einem starken Kontrast zu ihrer blassen Haut und den eisblauen Augen stand.

Sie lächelte Ryu an, es war kein herzliches Lächeln, fand Ryu, so würden Maschinen lächeln, wenn sie denn lächeln könnten, und ging auf sie zu. „Mein Name ist Anna Stein, ich bin die Nichte von Dr. Grabowski,“ sagte sie. „Ich dachte, wir könnten zusammen etwas unternehmen, du musst dich ja einsam fühlen. Ich habe ein paar Spiele dabei!“ Anna holte ein Brettspiel aus ihrer Tasche und baute es auf dem kleinen Tisch auf. Ryu setzte sich wieder aufs Bett und schaute auf das Brettspiel, sie hatte keine Lust zu spielen, zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort hatte, bekümmerten sie.

„Kennst du das Spiel Polkovodez?“, fragte Anna. Ryu schüttelte den Kopf, ein ungewöhnliches Spiel, vielleicht aus Russland.

Ryu stand wieder auf und ging auf das Fenster zu, die Gitter hatten auf sie eine bedrückende Wirkung, die immer stärker wurde.

Anna sah sie an und ging ebenfalls auf das Fenster zu. „Du bist allein, lass uns Freunde werden“, sagte sie und lächelte Ryu an. Annas Lächeln strahlte nun herzlich, aber ihr kalten Augen drückten etwas anderes aus, das Ryu Angst machte. „Ja, das denke ich auch, ich wüsste nicht, wen ich kennen und wem ich mein Herz ausschütten könnte“, flüsterte Ryu und lächelte halbherzig zurück. Draußen ging langsam die Sonne unter, die ersten Fledermäuse stiegen in die Luft, die Ratten huschten durch die Straßen und die Krähen breiteten ihr Gefieder aus und erhoben sich in die Lüfte.

Von überall her ertönten Geräusche wie Rascheln und Fiepen kleiner Kreaturen.

„Ratten, die sind überall!“, fauchte Anna und schüttelte angewidert den Kopf.

Ryu schaute sie überrascht an.„Ratten sind intelligente und reinliche Tiere, ich verstehe überhaupt nicht, warum sie so gehasst werden.“

Anna verdrehte die Augen und tippte sich vielsagend gegen die Stirn.

„Vielleicht weil sie eklig sind?“

„Das ist keine vernünftige Antwort auf meine Frage.“

Anna verdrehte erneut ihre Augen und schaute Ryu so an, als sei die nicht ganz richtig im Kopf. Ryu war sicher, dass sie keine guten Freunde werden würden.

„Anna, was macht man für gewöhnlich in meinem Alter?“

„Warum fragst du?“ Anna zog eine Augenbraue hoch.

„Weil ich nicht den Drang verspüre, irgendetwas zu tun.“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass du so lange Zeit im Koma lagst. Aber jetzt kannst du wieder auf Partys gehen oder ins Kino.“

„Was ist denn so besonders an Partys? Da schlägt man doch bloß die Zeit tot und betrinkt sich zum Schluss“. Ryu setzte sich ans Bett. So was verstand sie nicht, wie manche Leute Hunderte von Euros ausgeben, nur um sich mit Alkohol volllaufen zu lassen und sich dann anschließend an nichts zu erinnern.

„Partys haben auch was Gutes, man lernt neue Menschen kennen“. Anna tanzte um Ryu herum, doch das überzeugte sie nicht.

Viele Besoffene zusammengepfercht in einem Raum, bei dieser Vorstellung stellten sich ihre Nackenhaare auf.

Ryu bemerkte, wie mehrere dunkle Fahrzeuge mit getönten Scheiben sich dem Krankenhaus näherten. Eines dieser Autos hupte.

Anna schreckte zusammen. „Tut mir leid, ich muss jetzt los,“ sagte sie und packte hektisch ihr Spiel wieder ein. „Ich komme morgen wieder“, sagte sie, was wie eine Drohung klang, und hastete aus dem Raum.

Ryu erschien Annas Abschied wie eine Art Flucht. Sie wandte nun ihre ganze Aufmerksamkeit den vielen kleinen Kreaturen draußen vor dem Fenster zu, die im Schutz der Dunkelheit herumkrochen. Nach einer geraumen Weile legte sich Ryu ins Bett und versuchte Schlaf zu finden, morgen war ein neuer Tag wie jeder andere auch. Sie fühlte sich, als würde sie dahin vegetieren, als fehle ihr jeder Grund, am Leben teilzuhaben.

Sie schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken, bis sie einschlief.

Blut zu Blut

Подняться наверх